Erziehen durch Erfahrenlassen und Vorbild

Was braucht der Mensch – schon das kleine Kind – zu seiner weiteren Entwicklung anderes als ein einladendes Vorbild einerseits und die Erfahrung der Folgen seiner Schwächen anderseits. Wenn wir uns das so richtig plastisch vor Augen führen, dann ist es leicht, daraus zu erkennen, weshalb der Glaube an Gott, an den Geist und an die Liebe im allgemeinen so ermattet und erkaltet ist: Die Kinder merken es bald und leicht, dass Gott und Geist schon bei ihren Eltern kein Gewicht mehr haben. Auch die Folgen kindlicher Dummheiten tragen aus unzeitigem Mitleid immer wieder die dummen Eltern. Was Wunder, wenn die Menschen dabei stets unselbständiger und fantasieloser werden. Wie es anderseits mit lebendigem Glauben und mitmenschlich echter und tiefer Anteilnahme zu einer wahrhaften Arbeitsgemeinschaft für den Geist kommen kann, ist in diesem Buch so schön und praktisch geschildert, dass es zwar erfrischend zu lesen ist, aber dann auch schade ist, dass es ein Ende hat, das wir selber erst fortsetzen müssen.

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ERZIEHEN DURCH ERFAHRENLASSEN UND VORBILD

Es war nicht nur ein ereignisreicher Tag, sondern überhaupt eine ereignisreiche Zeit für die eben gerade erwachsen werdende Tochter gewesen, die nun die erste Nacht in ihrem kleinen aber schmucken Zimmerchen ihres Onkels noch wach im Bette lag im Bestreben, ihre Eindrücke der letzten Tage etwas zu ordnen. Sie war es nicht gewohnt gewesen, dass so viel Neues und das ganze Leben verändernd Scheinendes auf einmal auf sie zukam. Denn der Haushalt ihrer Eltern wurde streng geführt, was die äussern Normen anbelangte. Und da der Vater eine Lehrstelle an der Universität bekleidete, waren die Kinder mit ihrer Mutter zusammen am Abend oft alleine zuhause, bis sie dann zu Bette gehen mussten, oft ohne den Vater gesehen zu haben. Reisen hatte man kaum je gemacht; und so war der ganze Tag, ja die ganze Jugend mehr oder weniger vom äussern Lauf der Zeit bestimmt gewesen, mit wenig Abwechslung und noch weniger Kostbarkeiten des Alltages.

Erst in den letzten Tagen und Wochen schien sich alles verändern zu wollen, seit ihr Vater eine Einladung als Gastprofessor an einer Uni in Übersee angetragen erhielt und er sich ernsthaft zu überlegen begann, ob er dieses auf ein Vierteljahr befristete Angebot annehmen solle. Die Mutter, das war von Anfang an klar, wollte und müsste mit ihm sein; aber die Kinder? –  Und dann noch seine auf drei Monate verwaiste Lehrstelle?   Schon schien er trotz des grossen Reizes, den das Angebot auf ihn selbst auszuüben vermochte – wie auch auf die Mutter – bereit, die Einladung abzulehnen, als sein Bruder aus der andern Ecke des Landes zufälligerweise und ganz unvermittelt ihn besuchte. Er war ein merkwürdiger Mensch, irgendwie, durch seine Art der Unterhaltung, wie von einem fernen Lande scheinend. Sie hatte ihn wohl in ihrer ganzen Jugend kaum vier oder fünf Mal gesehen, aber er fiel ihr schon gleich beim ersten Mal auf, weil er nie irgendeinen Gesprächsanfang fand. Er beantwortete alle Fragen, ging auf alle Gedanken ein, aber immer hatte man das Gefühl, dass er nur halb dabei sei und in seinem Innersten irgendwie wo ganz anders tätig sei. Ein oder zwei mal aber hat sie ihn dann auch erlebt, wie er eine halbe Stunde, oder auch einmal gar fast eine Ganze, ununterbrochen reden konnte, und wie seine Rede auf ihren Vater einen grossen Eindruck machte. Sie wusste nie so recht, was dieser eigentlich von Beruf war. Er hatte eine nur ganz kleine Gärtnerei, hatte aber in vielen Ländern Kundschaft, ohne dass er selber je im Ausland gewesen wäre, soviel wusste sie. Und dieser Unbekannte kam da eines seiner wenigen Male auf Besuch, eben gerade in dem Moment, als ihre Eltern auf das Ereignis ihres Lebens verzichten wollten - denn auch sie reisten sonst nirgendwo hin.

Sie hörte dann mit gemischten Gefühlen, wie er ihren Eltern antrug, sie könnten ihm das Jüngste und das Älteste ohne weiteres drei Monate oder auch etwas länger überlassen, das tue dem Gange seines Haushaltes keinen Abbruch; und das Älteste könne, wenn es wolle, bei ihm auch mithelfen und sich dabei auch etwas verdienen. Die mittleren zwei müssten ja zur Schule gehen, die können wohl kaum die Stadt verlassen, aber, wie gesagt, das Jüngste und das Älteste nähme er gerne und ohne weiteres zu sich. Das Älteste war eben sie, die nun wach in ihrem Bette lag und dabei war, die beiden Welten zu vergleichen, die sie da vertauscht hatte.

Es war ein schönes, breites und offenes Tal, das sich durch locker angeordnete Hügel zog, und in seiner Anmut wohl noch viel stärker beglückend auf sie eingewirkt hätte, wäre das Wetter, das nicht eben ein schlechtes war, ein wenig sonniger gewesen und wäre das Ziel - der Onkel - etwas bekannter gewesen. Zwar hatten ihr die Eltern diesen Aufenthalt in keiner Weise aufgezwungen, sondern ihr freigestellt, ob sie gehen wolle, oder nicht, aber sie selber konnte und wollte auch nicht zur Verderberin des Altersglückes ihrer Eltern werden, und sie hatte ja im Grunde auch gar nichts gegen diesen Onkel, nur eben etwas besser vertraut mit ihm hätte sie zuvor sein mögen.

Als sie dann aber mit ihrem jüngern Brüderchen, dem Nachzügler, wie sie ihn zuhause manchmal nannten, in der Wohnung des Onkels stand, bemächtigte sich ihrer ganz unvermittelt ein Gefühl des heitern Sonnenscheins und munterer Lebendigkeit. Zwar betrachteten die beiden Kinder des Onkels die Neuankömmlinge wohl mit einer gewissen Neugierde und Unsicherheit, denn sie hatten selber noch nie für so lange angesetzte Zeit Besuch erhalten, und bei ihrem Onkel, dem Professor in der Stadt, waren sie selber noch nie gewesen. Aber dennoch verspürte sie in den noch so forschenden Blicken der Kleinen auch ein warmes, drängendes Entgegenkommen. Dieses, sowie die Aufmerksamkeit von Seiten des Onkels und der Tante liess sie bald etwas heimischer werden. Aber sie, die trotz ihres Alters noch selten auswärts weilte, da sie auch in den Ferien nur wenige Male mit ihren Eltern zusammen verreist war und alleine noch nie, beobachtete alles genauestens und hinterfrug in sich alle ihr auffallenden Erscheinungen. So fiel es ihr auf, dass die Kinder beim Abendessen eine merkwürdige Unsicherheit zu Beginn des Essens zeigten, die dann aber nach den Worten des Onkels, dass er allen eine gesegnete Mahlzeit wünsche, bald verflog. Nach dem Essen hörte sie dann, während sie sich beim Abtrocknen des Geschirrs nützlich machte, wie der Onkel dem älteren seiner beiden Kinder, einem Knaben, den Rat auf eine von ihr nur ungenau erkannten Frage erteilte, dass er doch noch heute Abend mit seinem Problem zu seinem Vater gehen solle, er wisse ja nun schon aus Erfahrung, dass und wie er die Probleme zu lösen imstande und auch bereit sei. An dieser Antwort studierte sie nun herum. Denn der Knabe, der danach, etwas ernster werdend, wie in sich zu gehen begann, sagte ausser einem kurzen "Ja" nichts weiter mehr, blieb aber noch gut eine Stunde lang unter ihnen, bis er sich frühzeitig mit einem Gutenachtgruss, zu welchem er seinen Eltern und auch ihr und ihrem Brüderchen seine Hand reichte, verabschiedete. Es dünkte sie etwas merkwürdig, dass der Onkel sein eigenes Kind zu seinem Vater schickte, vor dem es doch offensichtlich stand. Musste es wohl ein angenommenes Kind sein, dachte sie nun. Aber, wenn dessen Vater doch schon so weise und so bereitwillig sein musste, wie ihn der Onkel schilderte, weshalb wohnte dann das Kind nicht bei ihm? Bloss in den Ferien konnte es nicht sein, denn erstens wusste sie, dass ihr Onkel nur zwei Kinder hatte, ein Knabe und ein Mädchen, und dann hatte er sie ihr auch bei der Begrüssung so vorgestellt. Der Ernst aber, mit dem der Knabe die Antwort entgegennahm, fiel ihr dennoch wieder auf, sodass sie, nun in der Erinnerung, zu fühlen begann, dass es sich um ein äusserst bestimmtes und tiefer gehendes Verhältnis handeln musste. Aber bei diesen Gedanken fiel ihr überhaupt auf, dass die beiden Kinder in irgendeiner Weise, irgendwo zuhinterst in ihrem Wesen, einen gewissen Ernst aufwiesen, wie sie es sonst bei Kindern ihres Alters wohl noch nie empfand; eine zielgerichtete Bestimmtheit, so kam es ihr vor. Keine traurige oder auch nur kalte Bestimmtheit war es, sondern jener Ernst, der selbst Kindern bei grossen Ereignissen eigen sein kann, glaubte sie zu verspüren, ohne dass sie sich vorzustellen vermochte, was das grosse Ereignis denn auch sein mochte; denn ihr Besuch schien es, so willkommen er ihnen auch sein mochte, nicht zu sein. Zu sehr empfand sie die Freiheit ihres Benehmens und die Wärme des Entgegenkommens ihr gegenüber. – –

Da hörte sie ihren kleinen Bruder im Zimmer nebenan husten. Und wie sie sich ihm innerlich zuwandte, fiel ihr – als grosser Gegensatz zu der soeben empfundenen Atmosphäre – die Isoliertheit ihres Brüderchens auf. Er konnte an nichts so recht teilnehmen, obwohl er alles andere als gehemmt war. Er schien stets in einer eigenen Welt zu leben, liess sich keinen Rat geben und führte ihm aufgetragene Arbeiten nie recht aus. Auch heute Abend, als sie ihn aufforderte, mit den beiden Kindern des Onkels zu spielen, nahm er ihnen einfach ein Spielzeug weg und behielt es ohne Worte für sich selbst, ohne jedoch damit zu spielen. Auf ihre Einwände, doch den andern nicht einfach und ungefragt etwas wegzunehmen, sondern sie erst danach zu fragen und es dann mit ihnen zusammen zu teilen, reagierte er – wie üblich – durch überhören und scheinbar unbekümmertes Für-sich-selbst-Sein. Sie hatte sich so für ihn geschämt und ihr taten die andern beiden leid, die ohne jede Gehässigkeit das Verhalten ihres Bruders beobachtet hatten und am Ende, nach ihrer erfolglosen Intervention, für sich alleine weiterspielten. Wohl hatte sie schon lange das Gefühl oder die Vermutung, dass das Verhalten ihres kleinen Bruders aus der Verwöhnung resultierte, die ihm von Seite der Eltern zuteil wurde und die sie selber recht scharf missbilligte. Aber, ihn selber zu strafen, wurde ihr stets untersagt, wenn sie sich einmal ins Mittel der Erziehung legen wollte. Sie durfte ihm nie etwas tun, auch nicht einmal etwas wegnehmen. Und so getraute sie es sich auch an einem fremden Orte nicht, umso mehr, als es ihr an Erfahrung darüber mangelte, was sich daraus dann alles ergeben könnte. Und eine Szene, schon am ersten Tage, das wollte sie unter keinen Umständen provozieren. So musste sie nun für die Fehler ihrer Eltern vor den andern gerade stehen. Eine Rolle, die sie innerlich ärgerte und die ihr auch früher schon viel zu schaffen gemacht hatte. Sie empfand bei diesen Gedanken wieder vermehrt die Stimmung von zuhause und war überrascht, wie sehr sie dieser gegenüber bereits einen Abstand gewonnen hatte in diesem nur einen Tage Abwesenheit davon.

Am nächsten Morgen erlebte sie beim Morgentisch wieder die Pein, für die Erziehungsschwäche ihrer Eltern gerade stehen zu müssen. Denn ihr kleinerer Bruder begehrte mit Nachdruck Kaffee, den es in diesem Haushalt nicht gab, wie ihm die Tante sagte, die gerne bereit gewesen wäre, einen Tee, statt der abgelehnten Milch, zu bereiten. Und sie musste nun der Tante erklären, dass der Bruder ohne weiteres auch Milch trinke, aber sich nun auf das Begehren verlege, weil er gewohnt sei, dass alles nach seinem Kopfe gehen müsse. "Das macht nichts", mischte sich da der Onkel ein, "es soll hier jeder seinen eigenen Kopf haben können, aber er muss dann auch seinen Leib so verspüren, wie es ihm sein Kopf eingebrockt hat. Es hat Milch und Brot, Butter und Konfitüre, und er kann davon haben, soviel er will und mag. Will und mag er nichts, nun gut, warum sollen wir es ihm aufnötigen? Wir kennen ja seine Bedürfnisse nicht. Jeder muss es selber wissen, wessen er bedarf. Aber bis zum Mittag gibt es dann nichts mehr!" Es tat ihr wohl, wie einfach und bestimmt der Onkel für sie diese Peinlichkeit erledigt hatte.

Als sie nach dem Frühstück vom Onkel gefragt wurde, ob sie ihm bei seiner Arbeit helfen möge – das Brüderchen könne sich unterdessen mit den andern unterhalten, die Tante würde schon sehen, dass es ihnen allen gut gehe –, da war sie froh, denn sie gedachte, sich beim Onkel ein für alle kommenden Male für das Verhalten ihres Bruders, durch die Erklärung des Grundes dafür, zu entschuldigen. Es waren kleine Umstellungen in einem Teil seiner Anlage, die der Onkel sich für heute morgen vorgenommen hatte, wobei vieles anders zu platzieren war. Als sie dann bei einer Verlesearbeit mehr zusammen beieinander waren, versuchte sie vorsichtig, das Gespräch auf die morgendliche Szene zu lenken. Da setzte sich der Onkel gemütlich auf eine Kiste und lud sie ein, sich doch kurzerhand auf einen Hocker zu setzen, der in der Nähe stand. Und dann kam er ihr in einer äusserst verständnisvollen, warmen und Anteil nehmenden Weise in der Rede zuvor, indem er feststellend sagte: "Ich spüre es schon, das Problem deines Bruders plagt dich und du fühlst dich seinetwegen bei uns etwas blossgestellt. Aber schau, das empfindest du nicht ganz richtig. Denn dein Bruder ist das Produkt deiner Eltern, und du kannst für alles, was er tut, rein nichts. Im Gegenteil, ich spüre deinen guten Willen und deine Hilflosigkeit dieser Erscheinung gegenüber, und mir tut es leid, dich in einer solchen Stellung uns gegenüber zu wissen. Darum auch bin ich dir in der Rede nun zuvorgekommen, damit du nicht einen Augenblick lang so vor mir stehen sollst, wie du glaubst, stehen zu müssen. Sieh, daher auch haben wir uns gemütlich gesetzt." – Diese letzte Feststellung vermochte ihr ein sie lockerndes Lächeln zu entlocken. "Ich habe auch das Gefühl", fuhr der Onkel in seiner Rede fort, "dass du in dir sehr wohl ahnest oder vermutest, woher das Benehmen deines Bruders kommt, dass du nur nicht weisst, wie ihm wirkungsvoll zu begegnen ist, oder dann auch, dass du dich nicht so recht getrauest, weil du darin keine Erfahrung haben kannst und deiner eventuellen Ungeschicklichkeit dabei uns gegenüber keine Blösse haben möchtest. Stimmt es?" –  "Ja", antwortete sie etwas verlegen. "Nun, wenn du willst, so will ich dir die Sache aus meiner Sicht der Dinge zuerst erklären und dir dann helfen, aus deinem kleinen, verhätschelten Bruder einen nützlichen Menschen zu machen: Dein Bruder ist von deinen Eltern – wie fast alle Nachzügler – äusserst stark verwöhnt worden. Er spürt, dass er der Mittelpunkt ist und sich alles um ihn dreht und dass er in dieser Position sich überhaupt keinen Deut um die andern zu kümmern braucht, weil ihm ihre Aufmerksamkeit sicher ist. Siehe, als er gestern mit dir geredet hatte, da hatte ich es an ihm wohlgemerkt, wie er, dabei ständig seine Augen von einem zum andern wendend, sich ständig versicherte, dass aller Aufmerksamkeit auf seiner Rede lag. Oftmals hat er auch nur darum seinen Mund geöffnet, um dadurch zu prüfen, wie stark er an dem für ihn neuen Ort schon wieder im Mittelpunkt sei; praktisch nie hatte er eines wirklichen und echten Anliegens wegen geredet. Als er zufolge deiner Besorgtheit, die du seinetwegen uns gegenüber hattest, und der etwas zu höflichen Anteilnahme seiner Tante wegen, zur Überzeugung gelangen musste, dass er auch hier die für ihn nicht nur gewohnte, sondern auch äusserst komfortable Stellung behaupten konnte, versuchte er, diese auszubauen oder doch wenigstens ihre Grenzen abzumessen dadurch, dass er immer wieder während der Reden anderer die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte, zuerst mit Dummheiten und am Ende mit seinem ständigen Dazwischenreden.

Siehst du, so politisch schlau und perfekt können schon so kleine Kinder handeln, freilich ohne sich dabei dessen gedanklich voll bewusst zu werden. Und dennoch erfassen sie die Situation besser und schneller als die allermeisten Erwachsenen und vor allem viel besser als ihre jeweiligen Erzieher. – Hast du nicht bemerkt, wie er mir heute morgen dadurch eine gänzliche Absage erteilt hat, dass er bei meiner ihm alle Freiheit belassenden Rede sich verächtlich von meinem Munde weg zuerst zu dir und dann zu der Tante gewandt hat, die ihn angelächelt hatte? Und das nur darum, weil ihm die von mir ihm garantierte Freiheit, gegenüber der noch vorhandenen Anteilnahme der andern, als für ihn zu verächtlich wenig vorgekommen war. Der weiss für alle Zeiten, mit wem er es in mir zu tun hat. Er will aber nicht bloss die Freiheit für sich selbst, sondern sucht die Freiheit von euch allen für sich selbst zu beanspruchen. Und zu dieser Neigung kam er, weil es ihm zuhause so leicht gemacht wurde. Nun läge es an uns, ihm zu zeigen, dadurch dass wir es ihn spüren lassen, dass uns an solch eigenliebigen und eigensinnigen Kindern gar nichts gelegen ist. Zwar wird er es anfangs kaum für wahr halten können, dass es so – in seinen Augen – harte Menschen geben könne, aber wenn wir in unserem Benehmen konsequent bleiben, wird ihm am Ende nichts anderes übrig bleiben, als sich auf die neue Situation einzurichten; und er wird dann, das erste mal in seinem bisher noch kurzen Leben, zu erkennen beginnen, dass in den andern noch vieles verborgen liegt, das ihm nur durch die Bitte oder durch die Zuwendung zugänglich wird, und dass in seiner bisher im Mittelpunkt gestanden habenden Person eigentlich gar nichts vorhanden und auch nicht viel an ihr gelegen ist – als bisher eben nur die Aufmerksamkeit der andern. Diese gefühlte innere Armut wird ihm mehr zu sagen haben und ihm seine Lage verständlicher machen als alle noch so guten und ernsten Worte und Belehrungen unsererseits. – Kannst du meinen Gedanken folgen und es nachempfinden, ob es sich wirklich so verhalten kann?"

Während dieser Rede wurde es dem Mädchen eigenartig frei, wohl und warm in seiner Brust. Nie hatte es zuvor eine so fundierte und sein ganzes Gefühl bestätigende Rede gehört, aber auch nie noch zuvor hatte sich bisher einer mit solch ernsten Worten, aber dennoch in so aufbauendem Sinne und eine Situation so gut zergliedernd an es gewandt. Alle, die mit ihm bisher gesprochen hatten, taten das, wie man es unmündigen Kindern gegenüber tut: immer von oben herab, zumeist belehrend im Ton. Diese Rede aber war alles andere als belehrend. Sie war das Benehmen seines Bruders erklärend zwar, und das Erklärte auch einfühlend begründend, aber in den Folgerungen aus dieser Begründung wieder aufbauend und sorgsam prüfend, wie der vorgeschlagene Weg sich auswirken wird. Trotz der Fülle ihres Inhaltes war sie nie aufdrängend, sondern Zustimmung abwartend, und wirkte in keiner Weise gehoben, intellektuell, so wie etwa Reden jener, die glauben, in dem heranwachsenden Fräulein, das langsam zu einem ernstzunehmenden Faktor der Erwachsenenwelt zu werden beginnt, für sich und ihre Weisheit mit ihren Reden einen Gedenkstein setzen zu müssen. Und anderseits war sie nicht so wie die Rede Jugendlicher oder Unberufener, die glauben, ihr Erwachsenwerden oder Emanzipieren durch immer verständnisvoller klingende Reden belegen zu müssen, so wie es beispielsweise Feministinnen sich schuldig zu sein glauben. Überhaupt war diese Rede weder an ein Kind, noch an ein Fräulein, noch an eine Frau oder einen Erwachsenen gerichtet, sondern an einen Menschen nur, an das innerste und zutiefst empfundene Gefühl eines Menschen – dieses fragend und zum Folgen ihm die Hand bietend, frei von aller Äusserlichkeit, von aller Höflichkeit und gesellschaftlichen Rücksichten, dem Wesen dieses Mädchens, wie dem eines jeden blossen Menschen – jeder äussern Stellung ungeachtet - angemessen, sodass es sich erstmals von jemandem wirklich angesprochen fühlte.

"Ich bin mit deiner Ansicht nicht nur voll einverstanden", antwortete es deshalb voll Begeisterung, "sondern bin auch froh und dankbar, dass du mir das so genau erklärend gesagt hast. Denn eigentlich habe ich es immer etwa auch so empfunden, nur hätte ich es natürlich nie so detailliert und aus dem äussern Verhalten belegend zu sagen vermocht. Ich durfte ja aber auch nie irgend aus meinem Gutdünken mit dem Bruder umgehen. Er war immer durch die Regeln und die Sorge von Vater und Mutter vor mir geschützt. – Aber wie willst du jetzt genau vorgehen, und was muss ich dabei tun?" wollte es von seinem Onkel wissen.

"Zuerst müssen wir deinem Bruder einmal erklärend aufzuzeigen versuchen, wie die Dinge des Lebens wirklich stehen. Dann können wir sehen, wie er sich dazu stellt. Will er meiner Rede kein Gehör geben, dann wollen wir uns ihm gegenüber so verhalten wie er sich uns gegenüber, damit es ihm aus der Erfahrung augenfälliger spürbar wird, wohin sein Benehmen führen muss. Natürlich werden wir uns nicht im positiven, d.h. im angreifenden Sinne so verhalten wie er, sonst müssten wir uns ja alle zwischen die Rede fahren, und das gäbe ein Durcheinander und einen Krach, bei welchem nicht dabei zu sein wäre, und der Bruder könnte sich möglicherweise daran sogar noch amüsieren. Nein, wir wollen uns nur seinem negativen Teile nach – also seiner Resistenz gegenüber den Anliegen anderer – ähnlich verhalten. Wir werden auf alles, was er vorbringt, einfach gar nicht eingehen. Natürlich wird er sich dabei vor allem an dich sowie an deine Tante zu wenden versuchen. Du aber kannst ihn allezeit leicht mit der Bemerkung an mich verweisen, dass ihr beide hier in fremdem Hause seid und du dich nach des Hauses Sitte zu verhalten gedenkest und ihm deshalb weder etwas zu gestatten, noch etwas zu verbieten vermöchtest, sondern ihn nur an mich verweisen könnest. Der Tante werde ich schon einen Wink geben und meine eigenen Kinder werde ich auch instruieren.

Natürlich wird er alles Mögliche und Unmögliche zu versuchen beginnen, uns von unserem Kurs abzubringen und sich selber damit wieder ein Gewicht bei uns zu verleihen. Da können wir auf noch so manches gefasst sein. Aber wenn wir beständig bleiben, so wird er mit der Zeit die Rechnung selber zu machen imstande werden, welches Verhalten für ihn – wie für alle Menschen – das vorzüglichste sein könnte. Wäre er etwa bloss frustriert oder in etwas behindert, was seine seelische Anlage betrifft, so wäre unser Vorgehen wohl hart zu nennen, aber seiner gesunden Härte gegenüber ist es jedoch ganz einfach ebenso folgerichtig, wie das Spiegelbild folgerichtig dem in ihm abgespiegelten Original in Form und Farbe entspricht, sodass er sein Benehmen in dem unsern, in seiner Auswirkung auf andere, spiegelbildlich erfahren kann. – Im Übrigen aber kannst du jederzeit zu mir kommen und um eine Änderung bitten, wenn es dich zu hart ankommen sollte, denn ich will nicht über dein Haupt hinweg über ein bestimmtes Mass deinen Bruder beeinflussen. Bist du aber dafür, so will ich dir helfend zeigen, wie so etwas zu bewerkstelligen möglich wird."

Das Mädchen bekräftigte nochmals seinen Willen, zu helfen und meinte dann aber, dass sie nun ja viel zu viel geredet hätten und zu wenig gearbeitet. Worauf sein Onkel ihm erwiderte: "Weisst du, dieses Geschäft läuft auch ohne unsere Sorge und gibt dennoch mir und dir genügend Lohn. Ist nicht ein Mensch, und die Lösung seines Problems, mehr wert als alle äussere Arbeit für den äussern Unterhalt? Ich weiss schon, als normal kann diese meine Ansicht über den Geschäftsfortgang nicht gelten, aber sie hat sich bei mir in der Praxis dennoch so wohl bewährt wie die sonst übliche Ansicht bei andern, dass zuerst die materielle Grundlage gesichert sein muss, ehe an die Vervollkommnung des Gemütes gedacht werden könne. Und dir selber scheint es bei meiner Vorgehensart nicht einmal unwohl zu sein, ausser was dein vom Verstande her bestimmtes Weltgewissen betrifft. Aber das habe ich ja nun soeben beruhigt." – –

Während der weitern Arbeit, die im Verlesen und Ordnen verschiedener Utensilien bestand, dachte das Mädchen, oder die junge Tochter, reiflich über das Gehörte nach. Sie verstand nicht so recht, wie man derart freigiebig mit der Arbeitszeit verfahren konnte; hatte sie doch schon etwas Erfahrung damit durch eine Aushilfestellung erhalten, die sie ein Jahr lang bekleidet hatte, bis sie zum vorgeschriebenen Alter von 18 Jahren, für den Beginn der angestrebten Ausbildung, gekommen war, die in wenigen Monaten ihren Anfang nehmen sollte.

Beim Abendessen erst war dann die richtige Zeit gekommen, in der dem kleinen Bruder gezeigt zu werden notwendig wurde, wie die Dinge liegen. Er nahm bei Tisch ganz einfach bei der Tante platz in der Meinung, diese sei ihm im neuen Kreise noch am wohlgesonnensten, obwohl dieser Platz sonst dem Jüngern der beiden Kinder, dem Töchterchen der Tante, gehörte. Dieses indessen wäre auch bereit gewesen, seinen Platz zu räumen, aber der Onkel wollte es nicht so. Er begann dem verhätschelten Neffen zu erklären, weshalb das nicht sein könne und nicht sein dürfe und zeigte ihm, wie sein Vorgehen dem gleich käme, wie wenn er, der Onkel, nun des Neffen Teller – statt den seinen – leer essen würde, ohne sich weiterhin darum zu kümmern, ob für ihn dann ein anderer, noch voller Teller zur Verfügung stehe. Der Neffe schien nichts zu hören; alles um ihn schien Luft zu sein. Da sagte der Onkel, zu den andern gewandt: "Nun, wir müssen sehen, dass wir – auch wenn unser Neffe nichts hört – dennoch für alle etwas zu essen haben, die es sich dadurch verdient haben, dass sie der Ordnung dieses Hauses mit Liebe und Aufmerksamkeit gedient haben". Dann sagte er zum Jüngsten: "Schau, wenn du heute keinen Platz bei deinem Muetti haben kannst, weil ihn dir der Neffe nicht überlassen will, so kannst du unterdessen bei deiner Cousine Platz nehmen. Sie wird dich sicher ebenso gerne neben sich sitzen haben wie dein Muetti. Du aber, Mutter, entferne den dort überflüssig gewordenen Teller unseres Neffen, samt dem dazugehörigen Tassli und stelle dann den Teller und das Tassli unseres Jüngsten dorthin, wo ihm noch ein Platz frei gelassen wurde." –  Die Mutter brachte Teller und Tassli vom vorgesehenen Platz des Neffen in die Küche zurück und rückte das noch vor dem Neffen stehende Gedeck des Jüngsten an den frei gewordenen Platz neben der Cousine. Nun fanden alle Platz am Tische, nur hatte natürlich der Neffe dadurch kein Gedeck mehr. Ihn sollte es nicht zu rühren scheinen, wiewohl er aus seinen Augenwinkeln alles weitere Geschehen mit ungeteilter Aufmerksamkeit verfolgte. Als allen geschöpft war, lud der Onkel alle zum Essen und wünschte ihnen, dass ihnen die Speise wohl bekäme. Alles griff nun wacker zu. Nun erst begann der kleine Neffe den Ernst der Lage zu ahnen und zu verstehen; lautstark meldete er sein ihm rechtlich scheinendes Begehren an. Aber niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Seinen Kindern gab der Vater mit einem Blick zu verstehen, dass sie ruhig essen sollen, die Tante war von ihm schon vorher instruiert worden; und so assen nun alle wohlgemut, während der Neffe immer ärger zu schreien und am Ende beinahe zu toben begann. Zuhause hätte er sich wohl bald einmal selber bedient, und er schien auch jetzt diesen Gedanken abzuwägen, indessen ruhte des Onkels Blick, zwar stets wie zufällig, aber dennoch zu sehr strenge wachsam auf ihm, als dass er sich dazu hätte verleiten lassen. Endlich verliess er seinen Platz schreiend und rannte zu seiner ältern Schwester, zerrte diese unanständig an ihren Kleidern und begehrte von ihr, dass sie sich für den Erhalt seiner Speise einsetzen solle. Diese hatte innerlich zwar eine grosse Mühe und brauchte etwas Überwindung, dem in – wenn auch selbstverschuldete – Not geratenen kleinen Bruder nicht beizustehen. Aber sie fand, durch die Unanständigkeit und Rücksichtslosigkeit der Art des Reissens und Zerrens an ihren Kleidern begünstigt, bald wieder zu sich und antwortete ihrem Bruder auf dessen Geschrei, dass sie selber nur zu Gast beim Onkel sei und dasjenige geniesse, das ihr der Onkel gebe. Es sei ihr darum nicht möglich, ihm von derjenigen Speise herauszugeben, die dem Onkel, nicht aber ihr gehöre. Da verlangte der eingefleischte, noch kindliche, aber schon äusserst wendige Advokat, sie solle ihm von dem ihren Essen aus ihrem Teller etwas geben; aber die Schwester fasste sich diesmal etwas schneller und sagte, sie wisse nicht, ob es im Sinne des Onkels sei, das für sich selbst Erhaltene ihm weiterzugeben. Der Bruder möge da zuvor den Onkel fragen. "Frage du ihn!" befahl darauf der zornmütige Erpresser gebieterisch. – "Willst du ihn nicht lieber selber darum bitten? Wer weiss, vielleicht wird ihn eine artige Frage von deiner Seite erfreuen, sodass er dir denn doch vielleicht in der Küche dein Gedeck aufstellen und füllen lassen wird", antwortete die Schwester, selber froh, einer Eingebung folgend diese Antwort gefunden zu haben. – "Ich will aber, dass du ihn fragst!" gab der kleine Despot zurück. Da wusste sie sich nicht mehr zu helfen und fragte den Onkel: "Lieber Onkel, wäre es in deinem Sinne, wenn ich meinem ungehorsamen Brüderchen von meinem Teller etwas zu essen gebe?" Und dieser antwortete: "Es ist für jeden genug vorhanden, und ich habe vorhin eine Ordnung bestimmt, die jedem genügend zu essen erlaubte. Ich habe an das Herz deines Bruders vorher Worte der Mahnung gerichtet. Er hat sie nicht gehört, vielleicht auch nicht hören wollen. Hatte er vorher weder Zeit noch Lust, auf meine Worte einzugehen oder mit mir zu reden, so soll er nun von meiner Ordnung, anstatt von mir, eine Antwort verlangen. Ich selber esse nun und habe weder Lust noch Zeit, zu antworten. Denn die gute Ordnung will ja, dass nicht einer den andern von seinem Platz vertreibt, und will nicht, dass einer alle andern bei einer Beschäftigung störe. Und darum sage deinem Bruder, dass er sofort mit seiner Tyrannei aufhören solle, sonst wird ihn meine gute Ordnung in sein Zimmer verweisen, wo er seinen Eigensinn austoben kann, ohne dass die andern dabei gestört werden. Ohne Abendspeise verhungert er nicht, und am Morgen gibt es wieder etwas zu essen. Er solle sich überlegen, wie er sich morgen verhalten wolle, damit er wenigstens dann etwas in seinen leeren Magen erhalte." – Der grosse Ernst der Rede liess alles still werden, selbst den kleinen Despoten. Dieser ging in eine Ecke und versuchte mit Weinen und Schluchzen für sich etwas Erkleckliches zu ertrotzen oder zu erbetteln, je nachdem, was eher möglich wäre. Alle andern assen schweigend. Plötzlich verschwand der kleine Plagegeist aus dem Zimmer. Seine Schwester wurde etwas unruhig, aber der Onkel bedeutete ihr, dass er wahrscheinlich in sein Zimmer gegangen sei und fragte die Tante mit einem Augenzwinkern laut, ob sie noch etwas Speise in der Küche habe, er habe noch Hunger. Die Tante bejahte, stand auf und ging in die Küche, sich vorher behutsam umsehend und umhörend, wo der Neffe sich befinde. Als sie nach kurzer, prägnanter Hantierung aus der Küche zurückkam, sagte sie leise, dass der Neffe wirklich im Zimmer sei. Die Türe sei einen Spalt weit offen und es scheine Licht heraus. "Gut", meinte der Onkel leise, "dann lassen wir ihn. Er wird Zeit finden, sich zu orientieren. Wir haben die Chance, dass er es bis zum Morgen schafft. Nur, das sage ich euch: Dass ihn morgen keiner bemitleide, keiner nach ihm frage, sondern ein jeder seine Pflicht tue. Will er dann dem einen oder andern dabei helfen, so lasset es geschehen. Aber keiner lobe ihn darob! Jeder scheine nur auf die Ordnung sein Auge gerichtet zu haben und um alles Ausserordentliche mich zu fragen". –

Nun war es schon die zweite Nacht, die das Mädchen bei seinem Onkel verbrachte. Und es lag in seinem Bette noch wach, lauschte manchmal, ob es einen Laut von seines Bruders Zimmer erhaschen könne, aber er schien wirklich fest zu schlafen, was ihm auch recht war. Ganz so, wie der Onkel gehandelt hatte, so hatte es sich die Erziehung auch immer vorgestellt, nur eben – noch nie ausführen müssen oder dürfen. Und nun, da es einmal geschehen war, hatte es denn doch gespürt, wie ungemein herausfordernd die Härte der Bestimmtheit für den Erziehenden sein kann, welche dazu erforderlich ist, dem schon böse gewordenen Eigensinn eines noch so jungen Kindes zu begegnen. Es war immer noch in einer gewissen Spannung, ob das gut herauskommen könne. Daneben aber empfand es ein Gefühl der Aufgehobenheit, das es von seinem Onkel ausgehend verspürte. Es spürte, ohne es sich voll bewusst zu werden, dass seine Art, die Dinge anzugehen, eine völlig bewusste und ganzheitliche war. Er ging mit seinen eigenen, noch kleinen Kindern ebenso verständnisvoll und so verständig um wie mit ihm selbst. Er konnte auf die Menschen derart tief eingehen, dass ihm noch keiner bis jetzt so wohltuend nahe gekommen war wie er, als er am Morgen seine Sorge um das Benehmen seines Bruders ihm von der Seele ablas und sie ihm auf eine so entgegenkommende Weise abnahm, wie es noch nie ein Entgegenkommen empfinden konnte. Ihm war, als hätte es nun erstmals einen vollen Tag wirklich gelebt und als seien alle Tage der bereits zurückgelegten 18 Jahre leere Tage voll eitler Gaukeleien gewesen, die sein Innerstes weder je zu berühren, noch gar zu beanspruchen, oder gar zu erbauen vermochten. Nie war es derart in einen Vorgang integriert gewesen wie nun hier, schon am zweiten Tage seines Hier-Seins. Es verglich das bisherige Leben immer mehr mit einem leeren Schall von Worten und Ereignissen, und das hiesige mit der Fülle des Lebens und gegenseitigen Helfens und Dienens, kurz: mit der Fülle der Freude, der Hoffnung und der verständnisvollen Liebe. Es fühlte sich erst hier Mensch, während es zuhause immer beim blossen Wunsch und der Vorstellung, wie Mensch-Sein sich gestalten müsste, geblieben war.

Es erlebte eine ausgleichende Nacht und erwachte mit heiteren und hoffnungsvollen Gefühlen. Sein Bruder wartete schon wach im Bette, als es am Morgen zu ihm ging, sagte aber nicht viel. Als sie zusammen zu Tische gingen, wartete er bis zuletzt und setzte sich dann schnell neben es. Er wartete, bis ihm das Brot gereicht wurde und sagte das erste Mal ein "Danke" dafür, ohne dass er von irgendwem dazu aufgefordert worden wäre.

Diesen Morgen half es der Tante im Haushalt. Dabei fiel ihm auf, dass die Kinder des Onkels eine Zeitlang sehr geschäftig sich tummelten. Sie leerten die Papierkörbe in Stube, Büro und in ihrem Zimmer, nachdem sie zuerst geholfen hatten, das Geschirr abzutrocknen, ohne dass sie zuvor dazu angehalten worden wären. Auch es selber musste das in seiner Jugend tun – sein Bruder hingegen nicht. Aber bei ihm zuhause war das nie eine Arbeit, auf die es sich freute, denn sie war streng mechanisch, und Mutter und es hatten sich dabei wenig zu sagen.

Hier aber wurde die Mutter – also seine Tante – von ihren Kindern um dieses und jenes gefragt, und sie erklärte ihnen alles mit einer herzlichen Anteilnahme. Die Fragen der Kinder waren in allem verständnisvoll gestellt und eine etwaige Nachfrage verriet ihm, wie emsig es in ihren noch jungen Gemütern zu und hergehen musste.

Nach weiteren kleinen Arbeiten, die sie danach im Haushalt noch verrichtet hatten, meldeten sich die beiden ab, indem sie sagten, dass sie ihre beiden "Meersäuliställe" (Meerschweinchenställe) misten müssten und fragten, ob der Cousin mitkommen dürfe. Dieser aber, der sich bis dahin ruhig auf einem Stuhle verhielt und in einem von zuhause mitgenommenen Bilderbuch blätterte, wusste nicht so recht, was er wollte, als man ihn fragte, ob er mitgehen wolle. Er zog es vor, zu bleiben. Vorsicht und Abwarten schienen ihm in der neuen Umgebung geratener zu sein.

Durch die Fenster der ebenerdig gelegenen Küche sah es die Kinder draussen beim Misten sich tummeln und dazwischen mit ihren muntern Meersäuli manchmal spielen. Es empfand lebhaft mit ihnen, wie sie freudig, ja unternehmungslustig, aber äusserst bestimmt und besonnen bei der Sache waren, ohne dass ihnen dabei nicht so mancher Spass eingefallen wäre, der aber immer nur kurz war. Wie gut, dass sein Bruder nicht dabei war, dachte es. Dieser würde dabei wieder nur gar zu schnell in eine Hitze kommen und könnte sein Temperament wohl kaum mehr im Zaume halten. Es fragte seine Tante, wie das nur zugehe, dass ihre Kinder so zielstrebig alle Arbeiten verrichteten, obwohl sie doch erst 5 und 7 Jahre alt waren. Es habe so etwas noch nie erlebt. "Der Vater hält eben strenge auf Ordnung, weisst du", gab sie ihm zur Antwort. "Sie haben einen genauen Arbeitsplan, den sie selber lesen können und müssen, den ihnen der Vater eben deshalb gemacht hat, weil sie sich zu wenig um unsere Wünsche und Sorgen gekümmert hatten, wie er sagte. Ich selber hätte ihnen anfangs mehr Freiheit gegönnt. Nun aber sehe ich ja selber – im Vergleich zu früher – wie sehr sie vorher ihre Zeit vertrödelt hatten. Jetzt, da sie wissen, was von ihnen vor jedem Spiel und Vergnügen verlangt wird, sind sie munter tätig und lassen sich die gebotene Mühe dennoch nie sauer werden, wie du ja selber siehst. Der Vater will aus ihnen alles andere als "Diener" ziehen. Nein, aufgeweckte, fröhliche und dankbare, aber andern gegenüber verständnisvolle und für alles Höhere zugängliche Menschen will er aus ihnen machen. Sie können und dürfen Spässe treiben, soviel sie wollen, aber nie auf Kosten eines andern oder auf Kosten der Arbeit und Pflicht." –

Lange dachte das Mädchen über die Wesensart der Kinder nach während es ihnen zusah, wie sie sich draussen alle Mühe gaben, ihren Tierchen ein schönes Zuhause herzurichten, und wog die Gründe, die ihm die Tante dafür genannt hatte, in sich ab. Wie schön, dachte es sich, ist doch eine Ordnung, welche die Entwicklung eines Wesens zu ihrem Grundzuge hat, und wie unendlich reich und schnell geht diese dann auch vonstatten. Es besann sich während seiner weitern Arbeit wieder, dass die Kinder einen Arbeitsplan hatten, den sie selber lesen müssen, und war überrascht, dass sie demnach ja schon lesen können. Verwundert fragte es deshalb seine Tante, wann denn die Kinder lesen gelernt hätten und wo. – "Sie können noch gar nicht lesen und auch nicht rechnen", gab sie ihm zur Antwort. "Der Vater liesse das niemals zu. Er will, dass nur ihr Gemüt zuerst gebildet wird durch eine tiefe Liebe zueinander und zu allen andern, und vor allem zu Gott. Der früh ausgebildete Intellekt, sagt er, mache die Menschen hoffärtig, eigendünklerisch und überheblich. Er wolle aber demütige, dienstfertige und liebevolle Menschen erziehen, die ihr Ziel im Jenseits erkennen, und nicht in der Lust der Sinne und der Welt. Warum fragst du danach?"  –  "Hast du denn vorher nicht gesagt, sie hätten einen Arbeitsplan, den sie selber lesen müssen?"

"Ach so", lachte die Tante, "ja, den hat der Vater schon ihrem noch jungen Wesen angepasst. Er ist wunderschön, weisst du, und es sind alle Arbeiten darauf bildlich dargestellt – für jeden Tag wieder andere. Ich will ihn dir nachher zeigen, wenn wir in der Küche fertig sind." –  Wieder erstaunte das Mädchen über die Aufmerksamkeit seines Onkels, der in allem äusserst stark auf die andern einzugehen vermochte. Wie wohl können sie denn nur die Wochentage auf dem Arbeitsplan erkennen? Wie nur sind sie bildlich darzustellen, überlegte es. Aber es grübelte nicht weiter, sondern freute sich schon im Voraus auf diesen Arbeitsplan, denn es stellte sich ihn so richtig kindlich vor, ohne jedoch zu ahnen, wie. Aber es bekam aus der vorigen Antwort auch mit, dass diese Familie offenbar noch an einen Gott glaubte, an dem auch es noch festhielt, wenn es sich auch gewünscht hätte, mehr von ihm zu vernehmen, als die blossen Geschichten, wie sie vor über 2000 Jahre alters passiert sein mögen. Es juckte es ordentlich, sich zu erkundigen, welchen Glaubens oder welcher Religion sie seien, aber es wollte in dem für es selber heiklen Punkt nicht einen falschen Schritt tun durch zuviel Neugierde; und so schwieg es vorderhand dazu.

Nach einer weitern halben Stunde waren die beiden mit ihrer Arbeit fertig, und die Tante lud es ein, mit ihr in das Zimmer der beiden Kinder zu gehen. Es schaute instinktiv nach seinem Bruder, der in sein Buch vertieft schien. Als die Tante es merkte, fragte sie es, ob es ihn mitnehmen wolle. Es bejahte aus der Sorge heraus, dass sein Bruder, wenn er alleine bliebe, auf dumme Ideen kommen könnte, aber auch aus einem in ihm aufsteigenden Wunsche heraus, ihn am glücklichen Erlebnis, das ihm selber hier wohl bevorstand, einen Anteil nehmen zu lassen, und fragte ihn darum, ob er in das Kinderzimmer mitkommen wolle. Er bejahte und ging etwas unsicher und vorsichtig mit.

Als sie ins Zimmer traten wunderte sich das Mädchen, wie schön und bunt - aber in sanften, warmen Farben – die Einrichtung des Zimmers gehalten war. Über dem einen Bett hing ein Wandbehang aus brauner Jute, auf welchem mit herrlich weichem Filz in den allerlieblichst zarten, und doch innig leuchtenden Farben Märchenfiguren vor einem Waldrand dargestellt waren. Der Himmel, der ebenfalls mit Filz gestaltet war, wie die zu drei Vierteln über dem Horizont hervorleuchtende Sonne auch, erschien in der Nähe des Aufganges hellblau-gelblichgrün leuchtend und verlor sich über Hellblau zu hellem Blau ins dunklere Blau der weichenden Nacht, die durch die Bäume des Waldrandes auf der linken Bildseite noch ein wenig sichtbar war. Und leuchtendgelbe, aufgestickte Strahlen fielen von der über den rechtsseitigen Hügeln aufgehenden Sonne hernieder und küssten die Kräuter des Bodens und fielen in den Schoss Schneewittchens, das in einer Wurzelnische eines alten Baumes sass. "Hast du diesen herrlichen Wandbehang selber gemacht?" fragte das Mädchen seine Tante überrascht, und diese bejahte. Eine ganze Zeit lang beschäftigte sich das Mädchen dann mit dem Betrachten und Bestaunen der einfachen, kindlichen und äusserst feinfühlig hergerichteten übrigen Zimmerausstattung, und ein Gefühl glücklicher Jugend überkam es dabei; aber auch einen innigen Liebezug in seinem Herzen verspürte es, wie er der später einmal angehenden Mutter nicht fremd bleiben wird.

Sein Bruder war es, der es aus seinen Träumereien riss, indem er vorwitzig und mit der ihm eigenen Art der Sich-bemerkbar-Machung und des Versuchens, wie viel es verträgt, zuerst auf einige verschiedene Gegenstände zuging, sie nur berührte mit einem gleichzeitigen, unauffälligen Kontrollblick aus den Augenwinkeln, wie sein Benehmen auffiel: ob es toleriert würde und was für etwaige Folgen es zeitigen könnte. Dann nahm er kurz entschlossen eine Puppe auf und setzte sie irgendwo anders hin. Darauf erst nahm er sich die Freiheit, ein anderes Spielzeug aufzuheben, und er wollte sich gerade mit ihm zu beschäftigen beginnen, als seine Schwester, die ihn schon mit der Puppe hantieren sah, aber in sich bis jetzt noch unschlüssig war, ob und wie sie vorgehen solle, intervenierte. Sie sagte zu ihm: "Nein, mein kleiner Bruder, das geht hier nicht! Weisst du denn nicht mehr, was der Onkel über die Ordnung in diesem Hause gestern Abend gesagt hatte?" Das wirkte. Denn der Onkel war für ihn vorderhand noch nicht zu berechnen, aber sicher derart kategorisch, dass er einer Konfrontation mit ihm lieber aus dem Wege ging. Zu lange wirkten seine Strafen nach.

Als sie sich wieder der Türe zuwandten, da erblickte das Mädchen unverhofft eine wunderschön gezierte Tabelle an der halb zugezogenen Türe hängen. Und unwillkürlich kam ihm das Pensum der Kinder wieder in den Sinn, dessentwegen sie ja das Kinderzimmer aufgesucht hatten. Ein leichter Aufschrei der Entzückung entfuhr seinem vor lauter Staunen halboffenen Munde. "Das ist ja aber ein allerliebstes, munteres Bild, dieses Pensum; nur die Linien darauf und teils reihenweise wiederholte Bildchen mahnen an eine Tabelle oder ein Pensum. Gut, dass dieser Plan gerade an der Tür-Innenseite hängt, sonst hätten wir ihn ja beinahe vergessen", sagte es in einer hellen Freude über diese Entdeckung. –  "Das ist nicht von ungefähr so", erwiderte die Tante, "da würdest du den Vater schlecht kennen. Er sagte damals zu den Kindern: 'Und damit ihr beim Verlassen des Zimmers niemals vergesset, wie eure Pflichten aussehen, so hänge ich euch euren Arbeitsplan geradezu über euren Weg – an diese Türe hier. Es kann sich also keines von euch beiden entschuldigen, als hätte es vergessen, darauf zu schauen.' " –  Das gleicht dem Onkel, so wie ich ihn bis jetzt kenne, empfand das Mädchen eher, als dass es sich's bestimmt dachte. Denn der Onkel war einer, der auf die Natur der Menschen voll einging. Es näherte sich dem Kunstwerk während es zuerst die grossen Züge des Pensums betrachtete. Auf dem grossen, länglichen, aber quer aufgehängten Plan gab es vier senkrechte Zonen, durch welche sieben Querlinien gezogen waren. In der ersten Zone, links, waren die sieben Wochentage aufgeführt, auf jeder Querlinie einer. Gegen den äussern linken Rand zu verdeckte je ein weisses Wölkchen die Querlinie. Über einem, jenem auf der Dienstagslinie, prangte eine goldgelbe Sonne, auf eine Wäscheklammer geklebt, die am Rande des Pensums festklemmte. Nun ging dem Mädchen sofort auf, wie der Onkel den Kindern den jeweils seienden Wochentag begreiflich machen konnte. – "Diese Sonne kannst du durch lösen der Wäscheklammer jeden Tag um eine Linie nach abwärts verschieben, nicht wahr, sodass sie jeden Tag über dem Wölkchen steht, welches zum entsprechenden Wochentag gehört?" fragte es seine Tante. Diese bejaht, erfreut darüber, wie schnell ihre Nichte das System begriffen hatte, und fuhr mit der geöffneten Wäscheklammer über alle die 7 Wochentage herunter und wieder hinauf zum Dienstag, wo sie die Klammer wieder los liess, sodass sie, den Karton des Arbeitsplanes einklemmend, wieder unverrückbar festhielt. "Dann musst du also jeden Tag die Sonne um eine Zeile oder einen Tag weiter schieben", fragte es weiter, "vergisst du denn das nie?" Seine Tante verneinte: "Denn ich komme ja jeden Abend zu den Kindern hinauf ins Zimmer, wenn ich mit ihnen bete. Der Plan liegt zudem auch mir selbst über meinem Rückweg und zudem würden mich auch die Kinder daran erinnern. Es erfüllte sie anfangs mit einer eigenen Erwartung, der Verschiebung oder der Wanderung der Sonne von einer Tageslinie zur andern beiwohnen zu können. Du hättest sie am ersten Morgen, als er hing, sehen sollen, wie sie, sich beratend, vor ihm standen und versuchten, die Aussagen seiner Symbole zu begreifen. Zu herzig war es, wie die beiden sich besprachen darüber, was sie nun zuerst tun müssten, und welches von beiden was. Denn der Vater liess ihnen das offen, wie sie sich in die Arbeit teilen wollten." –   Das Mädchen blickte wieder zum Pensum und betrachtete die am Kopfe der übrigen drei senkrechten Zonen gemalten Sonnen. In der zweiten Zone, oder Kolonne, von links war sie gerade über die Hügel heraufkommend abgebildet, und ein paar Vögel kreisten um sie herum. In der nächsten Kolonne sah man sie zwischen Wolken stehen und ihre Strahlen weit verbreiten, und in der letzten erblickte man nur noch den rötlichen, obern Rand der untergegangenen Sonne und daneben, am allmählich dunkler werdenden Himmel, die Mondsichel und ein paar Sterne.  "Da ist also der Tag noch einmal unterteilt in Morgen, Tag – wohl der Nachmittag? – und den Abend", vergewisserte es sich bei der Tante, um sicher zu sein, recht zu verstehen. "Wie schön, ja wie kindlich lieblich!" rief es aus. –  "Ja, Vater sagte damals zu mir, er sei sicher, dass die Kinder auch ohne diese Bilder die drei Kolonnen erfassen würden, denn sie wüssten ja selbst, dass zuerst der Morgen, dann der Nachmittag und zuletzt der Abend aufeinander folgen; aber er wolle, dass in diesem Hause alles in der Fülle gegeben und voll beschaulich eingerichtet sei, damit die Freude des Sehens und Erkennens – auch der Pflichten – zur Beseligung eines jeden werden könne, der gutwillig sei." –  Nun betrachtete das Mädchen die vielen verschiedenen Symbole in den Tagesfeldern. Einige waren senkrecht übereinander, über alle Wochentage verteilt, angeordnet. So zum Beispiel ein Teller mit dem Besteck zu seinen Seiten; in der Abendkolonne auch ein Tassli mit Teller und Besteck. Das verstand das ganz entzückte Mädchen wohl. Mit Teller und Tassli war wohl das Decken des Tisches angedeutet. "Aber was bedeutet in der Morgenzone in jedem Tagesfeld das Bett mit je ein Paar Socken davor und was erst die Spritzkanne und die Karotte oder die Zeitung in der Abendkolonne?! Sie müssen doch wohl nicht eine Zeitung durchblättern und ansehen? Lesen können sie ja nicht, hast du gesagt", erkundigte sich das Mädchen. –  "Das Bett mit dem unordentlich zerstreuten Sockenpaar bedeutet das Ordnen des Zimmers", erklärte die Tante. "Die Giesskanne bedeutet, dass sie das Wasserbecken in Vaters Vermehrungsraum auffüllen müssen, weil dort noch kein Wasseranschluss besteht. Die Kolonne mit den Zeitungen bedeutet nicht, dass sie sie lesen sollen, sondern nur öffnen und auflegen. Denn wir brauchen sie zum Versand der Pflanzen, weisst du. Damit diese weich gepolstert sind, zerknüllen wir die von den Kindern zuvor aufgelegten Zeitungen und polstern damit die Versandkartons aus. Da ist uns das oft mühsame Ausblättern der einzelnen Zeitungsbogen eine zeitliche Hilfe beim allmorgendlichen Versand und unsere Kinder, die manchmal eher zum Trödeln neigen, haben damit eine sinnvolle und ihrer Fassungskraft angemessene Beschäftigung. Denn Müssiggang und Trödelei erträgt Vater schlecht. – Die Kolonne der Karotte bedeutet: die Meerschweinchen füttern." – Das Mädchen freute sich an der Gediegenheit, Vielseitigkeit und Schönheit des ganzen Planes und am schönen Gedanken, der dahinter war, und erfragte noch so manches weitere Symbol, das nur wenige Male oder gar nur ein einziges mal vorkam, wie etwa ein angefaulter Apfel in der Mittwochlinie, der bedeutete, dass die Kinder im Winterhalbjahr die Äpfel auf den Hurden durchsehen mussten um die jeweils faulenden auszusortieren. Eine Arbeit, die es – der erforderlichen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit wegen – keinem seiner eigenen Geschwister hätte anvertrauen wollen. – Oder eine Schnecke im Dienstags- und Freitagsfeld der Abendzone, die bedeutete, dass sie im Gemüsegarten Schnecken abzulesen hatten. Ein Meerschweinchen auf  der Dienstagslinie der Morgenzone, das hinter sich ein Häuflein schwarzer Böhnchen hatte, bedeutete das Misten ihrer Ställe, so wie es heute früh geschehen war, und so weiter und so fort (das Pensum ist auf der letzten Buchseite abgebildet). Herrlich war das! Ja, es war wirklich ein vertiefendes Erlebnis. Die Kinder mussten sich mit all den Problemen und Sorgen des Alltages auseinandersetzen, sie kennen lernen und die Nützlichkeit ihrer schon in frühester Kindheit erstarkenden Kräfte zu Gunsten des allgemeinen Wohles kennen lernen, sodass sie mit der Zeit vor allem auch eine Freude an einer guten Ordnung bekommen konnten. Denn sobald sie ihren Pflichtteil erledigt hatten, waren sie frei und konnten tun, was ihnen gefiel, soweit sie nicht irgend bei einer einmaligen Arbeit ihrer Eltern mithelfen mussten. Nur eine Einschränkung ihrer Freiheit hatten sie, und diese bestand darin, dass sie ohne speziell eingeholte Erlaubnis nicht ins Freie durften und schon gar nicht auf die Strasse. –  Das Mädchen verglich die Fülle dieses Familienlebens und der Kindererlebnisse mit derjenigen seiner eigenen Kindheit, und es wurde froh darüber, doch wenigstens nun, am Ende seiner Kindheit, noch eine Ahnung zu erhalten, wie schön das Kindsein sein konnte. Und es genoss in warmer Dankbarkeit die Gelegenheit des Kontaktes mit diesen bisher wenig bekannten Verwandten.

Am Mittagstisch sagte der Onkel, noch vor dem Schöpfen der Speisen: "Nun, da wir diesmal alle so schön am Tische vereint sind, alle gleichen Sinnes und keines das andere störend, so wollen wir – die Tante, die Kinder und ich – unserem Vater im Himmel in unseren Herzen dankbar sein. Wir tun das sonst immer vor dem Essen, wollten aber euch beide nicht gerade zu Beginn eures Hier-Seins damit überraschen. Wenn wir nun eine kleine Weile schweigen, weil wir uns inwendig an unseren himmlischen Vater wenden wollen, so hoffe ich, stört das euch beide nicht allzu sehr. Ihr dürfet euch ruhig im Zimmer umhersehen oder tun, was ihr wollt, nur die Stille möget ihr nicht unterbrechen. Wer weiss, vielleicht spüret ihr mit der Zeit dann ohne weiteres Suchen selbst, wie gut dem Menschen eine so völlige Ruhe in dankbarer Ergebenheit vor dem Essen tut. Darum also lasset uns unsere Gewohnheit des Betens fortsetzen, ohne dass es euch allzu sehr beirren möge. Darauf neigte die ganze Familie ihr Haupt und schloss die Augen. Das Mädchen war etwas peinlich berührt und sein Brüderchen schaute es fragend an. "Wenn das mit meinem Bruder nur gut geht", dachte es, "er könnte diese Situation ausnützen". Er tat es aber nicht, und das Mädchen sah mit einem gewissen Befremden verstohlen das eine oder andere an, obwohl es seinen Blick gesenkt hielt. Es spürte dabei, dass das kleinere der beiden Kinder bald einmal fertig war und nur darauf wartete, ob auch die andern mit ihrem stillen Gebet bald zu Ende kamen. Als die Mutter dann aufschaute, da schaute auch es selber auf, aber alle warteten geduldig, bis auch Vater wieder aufschaute, alle freundlich ansah und herausschöpfen liess.

Diese Szene beschäftigte das Mädchen tief und nachhaltig, und am Nachmittag, an welchem es wieder seinem Onkel helfen konnte, wartete es auf eine günstige Gelegenheit, sich über die Religionszugehörigkeit der Familie Aufschluss zu verschaffen. Nichts hatte es gegen ein Gebet einzuwenden, aber es hatte eine eigene Scheu, mit andern Glaubenssitten vertraut zu werden, da diese es verunsichern konnten. Als es dann während eines kleineren Gespräches etwas spontan und vielleicht auch jugendlich ungeschickt diese Frage an den Onkel gestellt hatte, betrachtete es dieser mit einer entgegenkommend warmen Anteilnahme und sagte zu ihm: "Du fühlst ganz recht, wenn du deinen, wenn vielleicht auch bloss nur vermuteten, Gott nicht mit einem fremden vertauschen, ja auch nicht einmal bedrängt haben möchtest. Schau, das Verhältnis zu Gott kann nur ein wahrhaftes, gerechtes und belebendes sein, wenn es ein Allerinwendigstes und Intimstes ist. Alles andere ist Schein und Trug! Und darum sind auch alle Religionen mehr oder weniger falsch, weil sie einen ganz bestimmten Gott vorschreiben. Einen, der von aussen gewisserart auf die Gläubigen loskommt, anstatt bloss an ihr Inneres pocht, damit es sich ihm erschliesse. Aber es heisst doch in der Bibel, dass Gott pur Liebe sei, und nur jene zu ihm Zugang haben, die in der Liebe leben und bleiben. Somit ist er das Inwendigste und Tiefste in einem jeden Menschen, das zwar solange nicht fühlbar ist, bis erst die rechte Liebe zu ihm ihn spürbar lebendig werden lässt. Ja ich sage dir, so wie er in dir gewisserart schlummert, ist er mir heilig sogar, und ich wollte nicht einmal mit einem Gedanken an dieses dein wirklich einziges, dich einmal ganz beseligendes Leben rühren! Es ist mir ein Heiligtum, das ich fürchte. Sei darum nicht bedrängt in deinem Herzen ob unserer Sitte, vor dem Essen unserem Vater zu danken. Ich bin, wie ihr, glaube ich, auch der reformierten Kirche angehörig. Aber ich besuche sie nicht, denn ich suche nicht einen äussern Rahmen; ich wünsche nur, Gott, meinen lieben Vater und Beschützer, dadurch kennen zu lernen, dass er sich mir in seiner Art und seinem Wesen offenbart, damit ich in der Liebe meines Herzens Zugang zu ihm finde. Und diesen Wunsch kann mir keine Religionsgemeinschaft, und noch weniger eine tote Religion, erfüllen. Wohl besteht das Wort Gottes in der Bibel. Aber sehe hin auf alle diejenigen, die es auslegen; wie weit haben sie sich voneinander entfernt! Also kann auch darin nicht alles liegen. Wohl lernte ich als Knabe auch die Bibel von den Religionsstunden her kennen, und ich wusste darum auch, wie ich mir Gott etwa vorzustellen hatte und was er von uns will. Aber ich sah anderseits auch ein, dass man mit der in der Bibel geforderten Redlichkeit im Allgemeinen nicht weit kommt, dass sie niemand pflegen will und sie deshalb keine irdischen Vorteile bringt – wie ich glaubte; und ich musste mich, wie alle andern halbwegs Gläubigen, mit dem schönen Jenseits vertrösten, das einmal alle irdische Ungerechtigkeit ausgleichen soll. Um aber Gott so richtig fest lieben zu können, brauchte ich mehr als eine Vertröstung aufs Jenseits, die ja ohnehin nur Glaube sein kann. Und so fragte ich mich denn, ob denn Gott nicht auch mit uns Menschen schon auf dieser Welt sein kann, wie er etwa mit dem König David war. Und aus diesem meinem innigsten Liebebedürfnis, aus welchem ich bereit gewesen wäre, zu Gunsten der Gnade der fühlbaren Nähe Gottes auf alle irdischen Annehmlichkeiten zu verzichten, bat ich ihn einmal, als ich noch ein angestellter Arbeiter war, aber nebenher schon seit drei Jahren mein früheres Hobby zu meinem Beruf machen wollte, ohne dass ich bisher von ihm hätte leben können, er möge mich doch einmal so richtig fühlen lassen, dass er meine Geschicke in seiner heiligen Hand halte, damit ich seiner Nähe mehr gewiss sein könne, denn ich brauche ihn ja vorzugsweise hier, auf dieser Erde, auf welcher mir so manches begegnen kann, das mich zum Fallen bringen könnte, sodass ich ein jenseitiges Bei-ihm-Sein vielleicht für ewig missen müsste. Ich bat ihn, er solle mir doch dadurch anzeigen, dass er mich behüte und mir alles zu geben, was notwendig war, bereit sei, dass er mir nur für einen einzigen Monat lang aus meinem Hobby-Nebenerwerb so viel zufliessen lassen solle, dass ich davon auch einen Monat lang leben könne. Ich war mir bewusst, dass er sehr wohl Gründe dafür haben kann, mich nicht Selbständigerwerbender werden zu lassen, und ich wollte ihn darum nicht um dasjenige bitten, das er aus seiner Ordnung heraus und zu meinem eigenen Heile vielleicht nicht geben konnte. Ich wollte nur die Möglichkeit erfahren, dass er mich – als einen durch seine Prinzipien Gebundenen und deshalb etwas ungeschickten Geschäftsmann – auch ohne alles mein Zutun von meinem Verdienst als Selbständiger erhalten könnte, wenn es in seinem Willen und seiner Ordnung stände. Und so bat ich ihn inniglichst, mich das den nächstfolgenden Monat erfahren zu lassen, dass und wie ich völlig in seiner Hand sei, damit ich dann für alle künftige Zeit wissen könne, dass er mit mir sei, auch wenn ich fürder keinen äussern Erfolg mehr hätte, und dass ich es folglich als seinen Willen annehmen könne, dass ich vorderhand nicht selbständig werde. Und siehe, das hat er getan! Und ich lernte voll der mächtigsten Freude meinen Vater in dem Himmel meines innersten Herzensgrundes als einen ebensolchen Liebevollen und Treusorgenden, aber auch als einen so Mächtigen kennen, wie ich ihn mir, auf Grund der Bibel vorstellend, inniglichst gewünscht hatte. Ja, er war gerade so, wie er selber seine Kinder haben möchte, wenn er in der Bergpredigt dazu rät, mit einem, der einen bloss um eine Meile Begleitung bittet, gleich zwei Meilen zu gehen. Denn ich bat ihn bloss für einen Monat und nur um der Erfahrung meines Glaubens und der Stärkung meines Vertrauens willen – um dadurch besser ausharren zu können. Er aber gab mir, statt für einen, für zwei, drei, vier und schliesslich für alle Monate seither – neben der Glaubensstärkung – auch den täglichen Unterhalt, aus meiner selbständigen Arbeit, sodass ich schliesslich meine Stelle künden konnte, ganz selbständig wurde und fortan mehr Zeit und bessere Gelegenheit fand, für das innere Wachwerden und Weiterkommen meiner Frau und meiner Kinder zu sorgen.

Was glaubst du, wie es mich anfangs dabei hätte stören können, wenn ich plötzlich mit einer neuen Religionsform konfrontiert gewesen wäre. Nun freilich, nach so vielen Jahren eigener Erfahrung, würde ich natürlich dadurch nicht mehr so schnell irritiert. Ein ebenso inniges, beseligend belebendes Verhältnis zu deinem Vater im Himmel zu haben, bist aber auch du fähig, und von ihm sogar dazu bestimmt; und ich möchte ihm in keiner Weise mit meinen noch ungeschickten Fingern darin vorgreifen, verstehst du?"

Diese Worte brachen dem Mädchen fast das Herz, sodass es zu weinen begann. Nie noch zuvor hatte es ein Mensch in seinem Innern so subtil berührt und so respektvoll behandelt, ihm soviel Achtung vor seinem Menschsein und Berufen-sein-zu-Gott, seinem himmlischen Vater, entgegengebracht wie dieser Mann, der ihm zugleich sein Innerstes ein wenig geöffnet hatte, in welchem das Leben – ein wahres Liebeleben mit und zu Gott – so lebendig nahe spürbar wurde, dass es selber mit einiger Scheu dasselbe betrachtete. Dadurch wurde auch sein Onkel etwas gerührt, sodass er nur mit einiger Mühe mit fester Stimme weitererzählen konnte, dass er und seine Familie auch in Krankheitsfällen versuchen, erstens sich des Vaters Führung hinzugeben, das Leiden als ein Kreuz anzunehmen aber gleichzeitig auch bloss auf des Vaters Hilfe zu vertrauen, der ja wohl imstande sei, alle Krankheit zu heilen, wie wir aus Jesu Heil-wundern wüssten. Und eben gerade dann, wenn man selber in der misslichen Lage einer Krankheit sei, so sei man weniger schnell und leicht fähig, volltrauig zu der Liebe Gottes zu finden und in ihr ruhig zu werden, sodass dann die Fürbitte der Angehörigen eine grosse Hilfe sei. Aber ganz besonders auch die vorher schon regelmässig eingehaltenen Zeiten des Gebetes – wie eben vor dem Essen – erwiesen sich in solchen Situationen dann als die geeignetsten, das durch Sorge, Kummer und Leid gebeugte Gemüt wieder hoffnungsvoll vertrauend zum Vater im Himmel erheben zu können – was er nun aus der Erfahrung schon wisse. "Das ist auch der Grund, diese zeitliche Hilfsbrücke für die Notfälle des Lebens nicht aufgeben zu wollen, wenn wir länger dauernden Besuch haben", sagte er weiter. "Aber ich werde dir für die Zukunft ein schönes Gedichtbändchen neben das Tischgedeck legen lassen. Dann kannst du in der Zeit unseres Betens dich ebenfalls für dich selbst besser sammeln und kannst dann lesend, oder – falls es dich mit der Zeit ankommen sollte – auch eher betend ungestört mit uns zusammen sein. Deinem Brüderchen will ich eine bebilderte Kinderbibel verschaffen, die er dann nur in dieser Zeit betrachten kann, sodass auch seine Sinne in dieser Zeit gesammelt bleiben und du selber nicht auf ihn aufpassen musst." Das Mädchen nickte nur, denn es vermochte noch immer nicht zu sprechen. – "Bleibe noch etwas hier sitzen", sagte der Onkel zu ihm, "bis ich wiederkehre; dann wollen wir zusammen weiterarbeiten". Es fühlte, dass er ihm Zeit geben wolle. Aber nicht so schnell reicht eine Zeit aus, solch grosse Gedanken, die sich da plötzlich erschlossen hatten, zu ordnen und miteinander zu verbinden. Es begriff natürlich nun sofort, woher des Onkels Wesen diese Kraft und Tiefe erhielt – dieses Leben auch, und dieses Verständnis für die tiefsten und verborgensten Vorgänge im Innersten eines Menschen. Es verstand plötzlich die gewisse Unsicherheit oder Hemmung, die ihm an den Kindern bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit vor dem Essen aufgefallen war. Und es ahnte – ja es war sich beinahe sicher, wer mit dem Wort "Vater", gestern Abend, gemeint war, zu dem der Onkel sein älteres Kind beschieden hatte. Beinahe schwindlig wollte es ihm werden ob solcher Erkenntnisse. Aber als der Onkel wieder kam, wirkte er so natürlich und sagte so voll warmem Entgegenkommen zu ihm: "So, – es ist mir natürlich klar, dass du in dieser kurzen Zeitspanne nicht mit all dem Vielen, das du da erfahren hast, fertig werden konntest. Schau das übersteigt nicht nur deine Kraft, sondern auch die meine. Ich arbeite deshalb selber auch immer wieder dann daran, wenn mir eine eher eintönige Arbeit die Zeit dazu lässt, und vor allen Dingen auch in meiner freien Zeit. Nun aber wollen wir wieder an die Arbeit, damit du dich mit deinem zur jetzigen Zeit vergeblichen Abmühen nicht überanstrengst.

In der dritten Nacht seines Hier-Seins fand das Mädchen nicht viel Schlaf. Zu erregt war es, zuviel war da passiert. Es war nicht all die Fülle des Erlebens eines neuen Lebensstils, nicht der Reichtum all der äussern so geistreichen Fülle; es war die eine von seinem Onkel angerührte Quelle in sich selbst, die es nicht mehr zum Versiegen bringen konnte – und noch weniger wollte. Wie war es doch durch seine Worte, des Nachmittags, urplötzlich in eine so intensiv gefühlte Verbindung mit Gott getreten, sodass es deren Folgen immer noch nicht abzuschätzen vermochte. Immer schon hatte es sehr genaue Vorstellungen von idealen Zuständen, aber es hätte sich nie getraut, diese als eine in sich selbst verschlossene, göttliche Realität aufzufassen. Sein Onkel hat es ihm mit wenigen Worten bewiesen. Und dazu waren natürlich auch die vorherigen Erlebnisse notwendig gewesen, aus welchen es die Fülle fliessen verspürte, die aus so einem innersten göttlichen Punkte und seinem in ihm verwahrten Himmel strömen konnte, ja musste. Es fühlte nun zwar fast förmlich einen Himmel auch ausser sich, der, sein ganzes Gemüt wärmend, auf es einströmte, ohne dass es jedoch gewahren konnte, woher und wie. Sein Onkel hatte ihm zwar nur seinen eigenen – also des Onkels – Punkt in Onkels Herzen gezeigt, der sich ihm damals geöffnet hatte, als er seinen Vater im Himmel in der Tat seines äussern Wirkens auf seine Verhältnisse erfahren hatte. Aber das, was er heute zu ihm darüber gesagt hatte, liess es gewiss werden, dass auch in ihm selber sich dieses Göttliche oft schon, wenn es auch bloss erst erahnen lassend, gerührt haben musste. Zu sehr entsprachen die Worte des Onkels seinen eigenen allerinnersten Gefühlen und Wünschen. Nun, mit der Bestätigung seiner Ahnungen durch seine Worte, drängte seine eigene Liebe mit ständig anwachsender Heftigkeit diesem von ihm selber zuinnerst erhofften und ersehnten Glücke entgegen, es im Gefühle beinahe erfassen könnend – wie es ihm vorkam –, aber es dann auch wieder fühlen lassend, wie elendiglich schwach und unvermögend es noch sein muss, da es sich nicht imstande fühlte, sich diese Fülle in seinem künftigen Alltage erhalten zu können. Vorderhand war es jene des Onkels, die es beglücken musste. Und doch –  es fühlte sie seit diesem Nachmittag zeitweise auch in sich selbst. Freilich, wie es richtig ahnte, wohl nur erst in seiner Vorstellung, weil seine äussern Taten noch zu sehr aus seinen Überlegungen entstanden als eben aus diesem überstarken Gefühl der geborgenen Liebe in und aus Gott. Unter dem Bewusstsein dieser Beschränkung konnte es dann wieder fürchterlich leiden. Nichts ist doch schwerer für ein weiches und zartfühlendes Gemüt, als die Möglichkeit sehen zu müssen, die einmal voll empfundene Fülle und Heftigkeit einer ihm zuströmenden Liebe wieder einmal verlieren zu können und dann vielleicht längere Zeit hindurch missen zu müssen.

Der Mond verbreitete seinen silbernen Glanz im kleinen Zimmerchen des Mädchens. Es gewahrte zwar den romantischen Schmuck und Wert dieses Scheines, wenn er von glänzenden Punkten oder Gegenständen zurückgeworfen wurde und dabei in seine Augen fiel. Wie herrlich reich wäre seinem noch romantisch jugendlichen Gemüte diese Stimmung sonst vorgekommen, und wie beelendete – in seinem jetzigen in voller Liebe erbrannten Zustande – dasselbe Bild sein Herz und sein Gemüt nun. Wie billiger und loser Schmuck einer eitlen Dirne kam es ihm vor, gerade recht, die blinden Männer zu verführen. Was war denn dieses schale Silberlicht im Vergleich zu der goldenen Liebefülle seines Herzens beim Gedanken an seinen ihm alleine eigenen Vater im Himmel seines Herzens, der dennoch derselbe sein musste, wie jener seines Onkels – und wohl eines jeden andern gutwilligen Menschen –, was es aus der es so beseligenden Fülle seiner Worte nur zu gut und zu sicher verspüren konnte. So stritt innere Fülle und durch bloss äusseres Erleben empfundene Einsamkeit in seinem aufgewühlten Gemüte miteinander, sodass es bis zum Morgen zu keiner Ruhe kommen konnte. Den folgenden Tag hindurch empfand es eine gewisse Leere, und alles schien ihm kaum erträglich, weil zu sehr verschieden zum gestrig Erlebten.

Aber mit der Zeit legte sich der erste leidenschaftliche Feuersturm seines Gemütes, und es empfand die es von aussen sanft belebende Wärme der häuslichen Atmosphäre als wohltuend und aufbauend. Es hatte beinahe eine gewisse Scheu, sich wieder der Berührung dieses innern Punktes auszusetzen, zu sehr überwältigend war die Wirkung gewesen, und es selber zu hilflos ihr gegenüber. Dafür konnte das tägliche Erleben sein inneres Wachstum fördern, indem es durch die Lebensart der Familie fortwährend auch innerlich angesprochen und beschäftigt wurde, was es geistig beweglicher machte und kräftiger werden liess. Es sah mit der Zeit immer klarer, dass einzig das Erlebnis eine genügend starke Hilfe und Stärkung für das noch wenig entwickelte und noch unbeholfene Gemüt des Menschen darstellte. Was es natürlich nicht zuletzt den Worten des Onkels entnommen hatte – nicht nur damals, als er ihm vorschlug, wie sein Brüderchen zu einem nützlichen Menschen zu gestalten sei, sondern seither noch viele Male wieder, aber besonders drastisch aufnehmbar eben im Erleben so mancherartigen Vorkommnissen der Tage seines Hier-Seins.

So hatte der Onkel einmal schon mehrere Tage hindurch seine Kinder immer wieder ertappt, dass sie ihre Meerschweinchen noch nicht gefüttert hatten. Wohl taten sie es ein jedes Mal sofort, wenn er sie mahnte; aber ihm gefiel nicht, dass er sie mahnen musste. "Die Liebe alleine soll euch mahnen", hatte er ihnen mehrmals gesagt, "denn eure Liebe war es, die die Tierchen sich zu eigen machen wollte. Und die Pflicht, die ihr auf eurem Pensum aufgezeichnet findet, mahnt euch täglich. Lasset es nicht zu, dass euch äusseres Ungemach – anstatt Liebe, oder wenigstens Pflichttreue – an eure Aufgabe erinnern muss!" Aber immer wieder kam es vor. Eines Tages, als alle beim Abendtische versammelt waren und das Beten eben beendet hatten, sodass die Tante ans Herausschöpfen kam, wobei sie die Kinder geflissentlich überging, fragten die Kinder erstaunt: "Ja, aber – erhalten wir denn heute nichts zu essen?" – "Ach ja – ihr wollt ja etwas zu essen; das hat euer Muetti wohl ganz vergessen", sagte der Onkel ganz gelassen, aber wie etwas erstaunt. "Aber nun lassen wir das, wir andern wollen jetzt essen und ihr werdet bis morgen wohl kaum verhungern. Und morgen früh gibt es ja schon wieder etwas für euren leeren Magen." –  "Aber wir haben doch Hunger!" beklagten sich die Kinder fast weinend. – ."Ja nun, das macht doch nichts, wenn ihr einmal Hunger habt. Das ist nicht halb so schlimm, wie ihr es euch denkt. Sehet, draussen die Meerschweinchen haben ja heute auch nichts zu essen bekommen und hätten in letzter Zeit schon oftmals nichts erhalten, wenn euch nicht das Muetti oder ich ständig kontrolliert und ermahnt hätten." – "Ja, wir wollen sie ja nachher füttern", schlugen die Kinder vor, und der Vater erwiderte: "Dann ist es recht. Ich werde euch dafür am nächsten Morgen auch wieder füttern". –  "Ja aber – heute erhalten wir nichts mehr?" – "Nein", entgegnete der Vater, "ihr müsst einmal selber fühlen, wie hart das Hungern ist, damit ihr auch wisset, was ihr euren Schützlingen antut, wenn ihr sie zu füttern vergesset. Dann brauche ich euch auch nicht mehr ständig daran erinnern. Denn das Erlebnis des Hungerns werdet ihr weniger vergessen als meine Worte. Ich habe es euch ja zuvor einmal gesagt, ihr sollet besorgt sein, dass nicht äussere Umstände euch lehren müssen, was euch eure Liebe gerne gezeigt hätte, wenn ihr sie nur erweckt hättet."

Solche Szenen gingen dem Mädchen sehr tief zu Herzen, und es liebte die Treue seines Onkels zu Recht und Ordnung und zum kontinuierlichen Gedeihen seiner Kinder oft mit feurigem Herzen, sosehr ihm im Moment die Kinder auch leid tun mochten. Es hatte eine unbändige Vorliebe für Recht und Ordnung, aber auch eine ebensolche Liebe zu der Liebe selbst, die es in sich reiner und fester gestalten wollte seit jenem Gespräch mit seinem Onkel über die Religion.

Manchmal erkannte es denselben Zug auch an seinem Onkel, zum Beispiel, wenn die Kinder sich gegenseitig stritten, was zwar selten vorkam: Waren sie nach ein oder zwei Mahnungen nicht zur Ordnung zu bringen, so liess er sie trennen, und zwar auf ein, zwei oder gar drei Tage, je nach der Schwere. War es ein Streit um eine Sache oder ein Recht, so weniger lange; war es eher ein sich Belustigen am Streiten aus Langeweile, dann bis drei Tage lang. Wobei er stets mahnend sagte; "Ich will, dass ihr in euch gehet und lernet, zu was der Bruder oder die Schwester alles gut ist und wie unentbehrlich sie sind, damit ihr Freude aneinander und Verständnis füreinander haben könnt." Während einer solchen Zeit durften sie dann nie ins Freie und auch in ihr gemeinsames Zimmer nicht vor der Zeit des Zubettegehens. Wie sehr diese Anschauung durch das Erlebnis allen Worten vorzuziehen war, das erlebte es ja zuerst am Beispiel seines Brüderchens, das in der kurzen Zeit von nun schon  anderthalb Monaten in seinem Wesen ganz verändert war; sah es aber seither in so manchen Anordnungen des Onkels wieder – eben auch nach einer solchen Trennung der Kinder, wo es gut nachfühlen konnte, wie sehr sie sich nachher gegenseitig wieder entgegenkamen. Die Kinder des Onkels kamen ohnehin dem Idealbild seiner Vorstellung von Kindern sehr nahe, nur waren sie ihm manchmal zu lebendig und zu wenig tief.

So sehr es sich im übrigen über die Wandlung seines Bruders auch aufrichtig freute, ja oft richtiggehend glücklich über diese Wandlung war – zu einem Teil wohl auch, weil es dadurch die Möglichkeit seiner geheimen Vermutungen auch bestätigt fand und damit auch die in ihm wach gebliebene Überzeugung, dass Gott erst in dem durch die Liebe erwachten Herzen fähig wird, direkter auf den Menschen Einfluss zu nehmen –, so war es neben diesem Glück auch ein klein wenig traurig, dass sich sein Bruder manchmal betont von ihm distanzierte. Er wollte es seine Schwester wohl fühlen lassen, dass sie ihn am ersten Abend, zu Gunsten des Onkels Ordnung, nicht verteidigt hatte, dachte sie, und konnte es ihm deshalb gut nachsehen, weil sie sich sagte, dass ja am Ende beide dafür beim Onkel sind, dort, wo sie beide Gottes Einwirken am ursprünglichsten erfahren hatten in der Zeit ihres kurzen, bisherigen Lebens.

Schon nach wenigen Wochen ihres Hier-Seins war sie in sich ihrem Wesen nach – nicht aber ihrer innersten Zielrichtung nach – so stark verändert, dass sie nur ungern an ein Nachhausekehren dachte. Ihr Ziel war zwar immer gewesen, die Liebe zu suchen und zu stärken, denn darin fand sie die höchste Befriedigung. Da sie aber bis jetzt einen Gott eher wünschte, als an ihn wirklich glaubte, oder ihn gar schon erfahren hatte, so war ihre Liebe bisher mehr auf das Natürliche gerichtet gewesen, anstatt auf eine geistige Entwicklung. Sie freute sich eher an der Schönheit der Natur als am Reicherwerden im Geiste. Ihre Liebe gab sie mehr in ihren Leib als in die Erweckung des Geistes in ihr, und ihr Liebetun verstand sie eher in einer leiblich sanften, tröstenden und ausgleichenden Tätigkeit als in der Hingabe ihres Leibes und seiner Vorteile an die geistige Reiferwerdung. Und in diesem Bestreben konnte sie sich bis dahin dann manchmal schon sehr einsam fühlen, wenn sie merkte, dass all ihr Liebeeifer niemanden zu Dank oder gar zu uneigennütziger Gegen-liebe aneifern konnte, und sie mit ihrer Liebe alleine bleiben musste. Denn es kann einer heranreifenden Jungfrau, die all ihre Sinne beisammen hat, nicht entgehen, wie alles in der Welt bloss aus Eigennutz geschieht und selbst dort, wo etwas wie Liebe erscheint, zum wenigsten drei Vierteile Eigenliebe hervorleuchten. Seit sie aber bei dieser Familie täglich – ohne es anfangs sich so ganz bewusst geworden zu sein – erfuhr, wie diese all ihre Liebe nur vor allem der Entwicklung ihrer innern Kraft gewidmet hat und darum ihr gesamtes Tun nur darauf ausgerichtet hat, ein möglichst inniges Verhältnis zu Gott zu erhalten, sodass es ihr später dann manchmal so vorkommen musste, als besprächen sich Onkel und Tante fort-während mit Gott, da verliess sie dieses manchmalige Gefühl der Einsamkeit. Nur, wenn Besuch kam, empfand sie manchmal äusserst stark, dass das ganze Leben der Familie dadurch gestört wurde. Der Onkel konnte dann oft nicht so frei reden, da er sonst – wenn die Familie unter sich war – stets alles auf Gott, den lieben himmlischen Vater, bezog oder von ihm herleitete, während er Fremden gegenüber davon schwieg und deshalb wohl doppelt so stark auf seine Worte aufpassen musste, damit er in der Denk- und Redeweise der gewöhnlichen Menschen sprach.

Sie empfand stark, dass diese Familie – wie sehr mitteilsam auch ihre Glieder untereinander waren – gegenüber aussen sich abgrenzte und nur dann frei war, wenn sie unter sich ihren Vater im Himmel wieder frei im Zentrum wirken lassen konnten. Das lehrte sie, dass ein Verhältnis zu Gott nicht nur wünschenswert sei, sondern geradezu unabdingbare Voraussetzung für ein glückliches und erfülltes Leben, weil nur dabei der Mensch ständig mit dem Guten und Vollkommenen und dadurch mit dem für ihn einzig Richtigen, seine Liebe Bestärkenden, verbunden ist, der ihn nie alleine lässt. Sie war denn auch mehrere Male Zeuge davon, wie ihr Onkel auch in Gegenwart Fremder, und gerade eben auf diese eingehend, Worte fand und Dinge sagte, die diese äusserst stark treffen konnten, sodass sie spürte, dass es nicht eine Art von Furcht war, welche die Familie, oder wenigstens nicht den Onkel, vor andern schweigen liess, und dass er also auch dann nicht von der fühlbaren Nähe Gottes getrennt sein konnte; und dieses Erkennen war es, das sie für ein künftiges, eigenes Leben in dieser Art eingenommen machte.

Auch merkte sie mit der Zeit, dass fremde Kinder, seien sie aus Nachbarsfamilien oder von weiter her aus dem Dorfe, einen eigenen Zug zu dieser Familie empfinden mussten. Und sie erkannte leicht, dass eben die Art von Onkel und Tante, in einem jeden Menschenwesen nur die Möglichkeit seiner Entwicklung zur Aufnahmefähigkeit des göttlichen Geistes durch die Belebung der Liebe zu sehen, schuld daran war. Zu dieser Erkenntnis brachte sie vor allem eine mit angehörte Aussprache zwischen Onkel und Tante, als diese einmal zum Onkel gesagt hatte, er dürfe doch die fremden Kinder der Nachbarn nicht in dieselbe strenge Zucht nehmen wie die eigenen, worauf dieser erwiderte: "Es hat jedes Haus seine eigene Ordnung, sein eigenes Wesen und seinen eigenen Geist, das alles notgedrungen für alle gelten muss, die sich darin aufhalten, wenn es nicht gestört werden soll. Wer freiwillig sich stets von neuem wieder einem Hause nähert, der bekundet ja damit nur, dass ihm dieser Geist des Hauses wohl tut. Wieso soll ich ihn dann hemmen, wenn sie ständig hier sich verweilen, weil sie sich dahin gezogen fühlen? Siehe, ringsherum hat es Strassen, Wiesen und Plätze, wo sie sich ohne meine sie korrigierenden Hinweise völlig frei entfalten könnten. Aber gerade dort wollen sie nicht sein, sondern hier, wo sie allenthalben auf alles Rücksicht nehmen müssen und sich deshalb nicht so frei bewegen können. Warum denn das? Eben deshalb, weil sie die Sinnlosigkeit ihres bisherigen Seins und die Leere ihrer Alten - wenn auch unbewusst - drückt, und weil sie spüren, dass hier eine jede Handlung einen tiefern Sinn hat; dass jede Anweisung, die sie hier erhalten, den Schutz oder die Förderung irgendeiner Sache oder eines Wesens zum Grunde hat und die eigene Entwicklung, zur Vervollkommnung hin, so schmackhaft als möglich durch unzählige Beispiele aufgezeigt wird und sogar erfahren werden kann. Gleichen sie nicht alle den Samen, welche ohne die notwendige Lebensfeuchtigkeit der Liebe nie zur Keimung und Entfaltung gelangen können und ruhelos vom Winde ihrer innern Triebe von einem Ort zum andern getrieben werden, bis sie endlich an einem liebefeuchten Fleck kleben bleiben, daraus dann die notwendige Liebefeuchtigkeit in sich aufnehmen und sich zu entwickeln beginnen. Soll ich dann das Wesen dieses Fleckens, der unser Haus darstellt, ihretwegen so zu ändern beginnen, dass just jene Feuchtigkeit sich verflüchtigt, derentwillen sie bei uns kleben geblieben sind?"

Solche Reden, die sie von ihrem Onkel immer wieder bei der einen oder andern Gelegenheit mitbekam, öffneten ihr die Augen, sodass sie viel tiefer zu sehen und zu fühlen vermochte, als durch ihr ganzes, bisheriges Leben. Sie empfand es, wie es für den Onkel keine Kinder und Erwachsenen gab, keine Buben und Mädchen, keine Männer und Frauen, sondern nur Menschen – Wesen, welche die Bestimmung hatten von der Liebefülle des Geistes Gottes voll zu werden, damit sie ihr spezifisches Wesen in Harmonie zu allen andern, von ihnen verschiedenen – obwohl von ein und demselben Vater erschaffen – entfalten und vervollkommnen können. Er nahm sich für ein fremdes Kind ebensoviel, ja oft mehr Zeit als für einen guten Kunden. Bei ihm bestimmte nur die seelische Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit die Zeit, welche er sich für einen Menschen nahm.

Aber eines empfand sie dabei auch täglich klarer: dass es für sie unendlich schwer sein wird, sich wieder von hier zu trennen! Manches Mal kam sie dem Weinen nahe, wenn sie daran dachte, dass schon in kurzer Zeit all diese für sie himmlischen Verhältnisse zu Ende sein werden. Als sie es ihrem Onkel einmal gestand, tröstete sie dieser mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, dass sie diesen hier gefühlten für sie himmlischen Zustand dem Äussern nach verlassen müsse, damit eben in der Entbehrung vom äussern Himmel tief in ihrem innersten Herzen ihr ureigenster entstehen und sich festigen könne, der dann nie von ihr getrennt werden könne – anders, als dieser, den sie hier von aussen erfahre, der aber mit dem Lauf der Zeit bestimmt von ihr fallen müsse – sicher dann, wenn er oder sie einmal das Zeitliche verlassen müssen, aber wohl bestimmt schon vorher aus den allerverschiedensten Weltgründen. Sie müsse im Gegenteil versuchen, in ihrem Herzen Gott so zu empfinden, ja durch alle ihre Gedanken förmlich so reden zu lassen, wie sie ihn - den Onkel - eben jetzt reden höre. Denn auch seine Worte seien nichts als gefühlte Liebehinweise seines Vaters an sie zur Heilung und Stärkung ihres manchmal noch etwas jugendschwachen und etwas kranken Herzens. "Denke doch", sagte er dann, "wenn du einmal heiraten möchtest - wer wird dir dann in deinem Glücke so nahe sein, dich so gut verstehen können und dennoch dich auch bewahren können vor zu vorschneller Vereinigung mit dem möglicherweise falschen oder dann noch nicht völlig gereinigten Gatten, wie dein Vater im Himmel? Du musst dich nur an seine Art, sich den Menschen zu nahen, gewöhnen, damit dein Verhältnis zu ihm noch inniger wird als jetzt das Deine zu mir. Schau, wenn du krank wirst, wenn du einmal sterben wirst deinem Leibe nach, wenn du in Kindesnöten sein wirst, aber auch, wenn du glücklich dein erstes Kind - frisch geboren – dankbar in deinen Armen halten wirst, dann überall müsstest du mich zuerst aufsuchen. Dein Vater aber wird bei dir,  oder wenigstens hinter dir stehen und dir seine Worte im Gefühl zufliessen lassen, und du wirst allemal nicht nur erkennen, sondern lebenstief fühlen, dass er dir jederzeit noch treuer und näher war als du ihm, und dass er ja schon lange nur darauf gewartet hat, dass du ihm nur möglichst bald das Gesicht deiner Seele und dein Herz zukehrest und nach ihm alleine dich sehnest und nach seinem Trost und nach seiner Freude an dir ein ebensolches Verlangen hast wie er, schon ehedem du warst, nach dir. Das kann dir niemand anders geben und niemand anders sein als nur der Vater in dir! Weil du ihn in dir aber noch nicht so stark geweckt hast, weil ihn dir bisher auch niemand gezeigt hat und auch niemand zu zeigen vermochte, weil ihn niemand derart durch seine Liebe fest verbunden bei sich hat; nur deshalb sehnst du dich nach jenem, das du vorderhand wie aus mir fliessen fühlst. Aber erst, wenn es einmal aus dir zu fliessen beginnt, bist du wirklich zuhause in deinem eigenen Himmel, bei deinem ewigen Vater – überall und jederzeit – hier, wie drüben."

Wieder einmal hatte sie Mühe, ihre Augen trocken zu behalten. Ja, sie begann richtig zu weinen. Zu sehr empfand sie Dankbarkeit gegenüber dieser dargestellten Seligkeit, die sie nicht nur vorahnend stark empfand, sondern auch als folgerichtig bestimmt erkennen konnte, sodass sie in ihrem grossen Dankgefühl so hilflos wurde, dass nur noch das Rinnenlassen ihrer Tränen den grossen, innig gefühlten Druck des Dankes in ihrer Brust etwas mildern konnte. Mit vollstem, feurigem Willen war sie entschlossen, diesem Vater, diesem über alles liebesorgenden Vater ewig treu zu sein und ihm in allen noch so misslichen Umständen auch treu zu bleiben.

Als sie ihren Onkel später einmal fragte, wie sie noch leichter zu einem bestimmteren Gottesbild kommen könnte, denn es läge ihr alles daran, ihn so genau als möglich zu erkennen, weil sie ihn überaus lieb habe und in dieser Liebe einfach noch nicht genügend Vorstellung von ihm habe, um ihn so recht innig wie einen geliebten Menschen erfassen zu können, da zeigte ihr der Onkel, dass dieser ihr Wunsch, Gott von aussen her näher erfassen zu wollen, eben wieder die Religion berühre und dass er daher nicht anders könne, als sie – die sie aus der Bibel zu wenig Nahrung, zu erhalten glaube – mit einem ihr vielleicht noch nicht bekannten Umstand vertraut zu machen. Es war die Tatsache, dass es seit Entstehung und vorläufigem Abschluss der Bibel, die ja in grossen Teilen nichts anderes ist, als die Aufzeichnung der Prophetenworte, die in grösseren oder kleineren Zeitabständen an das Volk der Juden geflossen sind, und den göttlichen Worten Jesu, immer auch wieder neue Propheten gegeben hat, die mit ihren Worten die Bibel eigentlich hätten ergänzen müssen und auch ergänzt haben. Er zeigte ihr sodann, wie die so genannt christlichen Priester bis heute – wie die damaligen Judenpriester auch – jedem neuen Propheten abhold waren und ihn womöglich verfolgten und dass sie deshalb – schlimmer noch, als die damaligen Judenpriester – seine Worte auch nach seinem Ableben nicht in die Bibel aufzunehmen bereit waren – und auch heute noch nicht dazu bereit sind. "Das aber hindert Gott nicht, sein Wort immer wieder an die Menschen zu richten", sagte er, "und dieses dann ebenfalls – wenn auch ausserhalb der Bibel – aufgeschrieben zu erhalten und alle, die ihn innig lieben, dann zu diesen neuen Worten hinzuführen, um sie so auch ihnen allen zukommen zu lassen. Nur müssen natürlich die von ihm Geführten sie auch glauben können und darauf vertrauen, dass sie von ihrem himmlischen Vater ausgegangen sind, weil sie sonst in Zweifel kommen, was ihre Liebeentwicklung stören würde – was allerdings auch für die Bibel gilt.

Ist aber die Liebe zu Gott einmal – wie in dir – gar mächtig heiss geworden, dann spürt der Mensch schon durch die Wärme seiner lebenskräftig und stark fühlend gewordenen Liebe, woher diese Worte sind und wohin sie ziehen. Wenn du also durchaus nur dadurch deine grosse Liebe etwas beruhigen kannst, dass du stets und immer detaillierter das Wort deines Herrn und deines liebevollen Vaters vernimmst, so kannst du, bei einer noch kleinen Unsicherheit im Glauben, die Schriften Swedenborgs lesen. Er war ein Prophet des 18. Jahrhunderts – nicht etwa ein Religionsstifter –, der die Bibel in so umfassend tiefer Weise erklärte, dass du keinen Zweifel darüber haben kannst, dass sowohl die Bibel als auch seine Erklärungen aus der Weisheit Gottes kommen. Denn nie noch hast du auch eine nur ähnliche Tiefe der Erklärung gehört und gefühlt, wie du sie dort findest. Und es ist dir ein Leichtes, nachzuprüfen, ob die Aussagen stimmen, denn sie berühren stark deine Gefühle. – Ist deine Liebe aber wirklich so heftig, wie ich sie vermute, so wirst du deshalb, weil darin nur über Gottes Wort die Rede ist, anstatt dass das direkte Wort deines Gottes deinem Herzen fühlbar wird, in deinem liebehungrigen Herzen kaum so gesättigt werden, dass du Ruhe findest. Für diesen Fall hat der Herr all das Viele, das er seinerzeit in der Person Jesu seinen Jüngern gesagt hatte, und auch noch vieles, das er seinen damaligen Jüngern noch nicht sagen konnte, weil sie es damals noch nicht hätten ertragen können (Joh.16, 12), einem jüngsten Propheten, dem Jakob Lorber im 19. Jahrhundert, wieder von Wort zu Wort zukommen lassen. Wenn du darin lesest, so fühlst du den Odem Gottes dich anwehen und dein dürstendes Herz erquicken. Dann hast du alles, was du von aussen her erhalten kannst! Aber, wenn du es nicht äusserst liebewillig und tatkräftig in deinem äussern Handeln nachvollziehst, was darin geraten und erklärt ist, so wird es dir nichts nützen zur Entwicklung deines innern Wesens, darin alleine du einmal das Himmelreich erleben kannst. Darum bleibe vor allem in dieser innern Liebetätigkeit deines Herzens, so kannst du auf keine Art je fehl gehen."

Solche Gespräche waren dazu angetan, dass sie ihr Herz noch viel stärker prüfte und den vorderhand noch möglichen Umgang mit ihrem Onkel noch weit mehr nutzte, sich in allem und jedem zurechtfinden zu können. Darum auch gab sie acht auf alle Worte ihres Onkels, die ihr oft noch fast wichtiger erschienen, wenn er sie an Kinder richtete, als wenn er zu andern Erwachsenen sprach.

Einmal, an einem schönen, warmen Abend, trug er seinen Kindern auf, den Hut des alten Nachbarn, der am Abend zuvor bei ihnen zu Besuch weilte, und ihn vergessen hatte mitzunehmen, zu ihm zurückzubringen. Dieser wohnte etwa 600 Meter weit vom Dorfe entfernt, an dessen Rand das Hauswesen des Onkels lag. Da es bereits leicht zu dämmern begann, wollten die Kinder nicht so recht, zumal sie noch nie bei jenem alten Manne waren, der dort mit seiner Frau zusammen ein eher zurückgezogenes Leben führte, und ihnen darum der normalerweise von niemandem sonst benützte Weg dorthin – weil er eben nur dorthin, und nicht weiter führte – ihrer Erfahrung nach nicht bekannt war. Auch ihr Brüderchen, das sich längst schon an die beiden Kinder angeschlossen hatte und in ihrer Gesellschaft schon wesentlich aufgeschlossener geworden war, sagte, dass es da nicht mitgehen wolle. Der Onkel liess es ihm auch gelten; seinen eigenen Kindern aber sprach er zu, indem er sagte, dass sie noch lange vor der eigentlichen Dämmerung zurückkommen könnten. Denn die alten beiden Leute seien nicht sehr gesprächig und würden sie schon bald wieder ziehen lassen. Es behagte den beiden zwar nicht, aber sie wussten schon, dass in solchen Fällen der Onkel nicht leicht nachzugeben bereit war, und so brachen sie denn etwas zaghaften Gemütes auf.

Als sie auf dem Wege waren, fragte die Tante den Onkel, ob er denn diesen Auftrag nicht auf morgen hätte verschieben können, und ob er nicht gefühlt hätte, wie ungern die Kinder das taten.  "Oh doch", gab er ihr zur Antwort. "Eben deshalb müssen sie es auch noch heute Abend tun. Es würde mich nicht wundern, sie würden auf halbem Wege umkehren, weil sie befürchten, sie hätten entweder das Haus verpasst, oder es sei dann zu weit weg, um noch bei Tageslicht wieder nach Hause zu kommen. Hast du vor einigen Tagen nicht gehört, wie sie sich im dunkeln Estrichvorraum amüsierten, sich gruselige und unheimliche Dinge vorzustellen und einander gegenseitig zu erzählen? Schau, wer die Dunkelheit zu seiner Lust macht, der muss sie auch an sich selbst erfahren, damit die Enge und die Not, die sie im Empfinden des natürlichen Menschen erzeugt, ihnen die Lust, sie zum Vergnügen zu nutzen, austreiben wird. Mit dem für alle Menschen Schlechten soll niemand scherzen." –  "Aber die Dunkelheit hat ja auch das Gute, dass sie uns den Schlaf beschert", wandte die Tante ein, worauf der Onkel präzisierte: "Ja, das stimmt! Das dem Menschen Unangenehme der äussern Dunkelheit treibt ihn nach Hause, und da in sich selbst und bewirkt den Schlaf und darin – in seinen Träumen – auch die Verbindung mit seiner innern Welt, aus welcher er wieder Kraft schöpfen kann für den nächsten Tag. Darin gebe ich dir Recht. Aber eben darum ist es pervers sich in dem uns von aussen Bedräuenden einen sinnlichen Lustreiz zu suchen, welcher dem Sinn und Zweck des äussern Umstandes widerspricht. Und dieser wird den beiden vergehen, wenn sie den Ernst und das Hindernis der Dunkelheit bei einer äussern Betätigung, so recht am eigenen Leib erfahren." – Die Tante fand es zwar sichtlich hart, was da ihr Mann sagte, aber sie schwieg.

Der Onkel aber sollte recht behalten: Eine Viertelstunde später ersahen sie die beiden Kinder mitsamt dem Hut wieder zurückkehren. Bei ihrer Ankunft sagten sie, dass sie das Haus nicht hätten finden können, sie wollten es aber morgen noch einmal versuchen. Das liess ihnen der Onkel nicht gelten, er sagte: "Wisset ihr denn, ob der Nachbar nicht schon am Morgen früh seinen Hut braucht? Nein, nein, ihr bringet ihn ihm noch heute. Ihr habt nur ein wenig Angst vor der nahenden Dunkelheit, deswegen wolltet ihr nicht bis zu seinem Hause gehen. Ihr aber habt keinen Grund, euch davor zu fürchten, denn wenn ihr emsig seid, kommt ihr noch lange vor der wirklichen Dunkelheit wieder zurück. Wenn ihr aber noch zwei- oder gar dreimal unverrichteter Dinge zurückkehret, dann allerdings kann es schon auch noch völlige Nacht werden. Ich aber lasse euch nicht ruhen bis der Nachbar seinen Hut hat. Warum auch habt ihr euch denn vor ein paar Tagen im dunklen Estrichvorraum gegenseitig Angst machen müssen? Sehet, diese macht euch nun untüchtig zu einer guten und notwendigen Arbeit! Vertreibet also eure Gedanken und Vorstellungen, mit denen ihr euch zur Belustigung gegenseitig Furcht machen wolltet und gehet nun bald, damit ihr rechtzeitig wieder zurückkommet." –  Aber die Kinder meinten, dass sie nun aber nicht so recht diese Furchtgedanken loswerden könnten, sodass sie lieber morgen früh – noch vor dem Morgenessen – gehen wollten, damit der Nachbar zur Zeit seinen Hut wieder habe, wenn er im Falle früh fortgehen wolle. "So früh stehen alte Leute nicht immer auf", erwiderte ihnen der Vater. "Stellet euch vor, wie das wäre, wenn sie noch im Bette lägen, während ihr an der Haustüre läuten würdet; nein, das geht nicht. – Natürlich könnt ihr euch nun die dummen Gedanken nicht so leicht wieder aus dem Kopfe schlagen wie ihr sie einander eingegeben habt. Dazu sind sie nun schon zu lange in euch! Aber ihr könnet wohl andere und bessere Gedanken in euch zu fassen beginnen, zum Beispiel die Vorstellung, dass der Vater im Himmel seinen Kindern immer beisteht, wenn sie ernsthaft bestrebt sind, ihre Pflicht zu erfüllen, und dass er ihnen darum nichts geschehen lässt, auch wenn sie einmal zuvor eine Dummheit begangen haben, indem sie sich geflissentlich Angst gemacht haben. Wenn ihr mit solchen Gedanken euer Herz füllet, so beginnen diese zu wachsen in euch, füllen auch euren Kopf immer mehr aus und verdrängen so die dummen Gedanken eures Kopfes, die ihr euch gegenseitig eingepflanzt habt, sodass ihr diese wieder ganz verlieret. Habt ihr das auch recht verstanden?" – Die Kinder bejahten, zwar etwas zaghaft, aber den noch mit ein wenig Hoffnung, denn so jung sie waren, so hatten sie dennoch schon so manches innere Erlebnis gehabt. Und der Onkel meinte: "Nun gut, wenn ihr das begriffen habt, so verbleibet noch eine kleine Weile hier, bittet euren Vater, dass er es euch geben möchte, dass eure Gedanken an ihn euch ganz erfüllen werden, sodass ihr fast spürbar an seiner Hand zum Nachbarn gehen könnt." Der Onkel schien nach solchen Worten, die er seinen Kindern so recht liebefreundschaftlich zugesprochen hatte, etwas abwesend zu sein, sodass das Mädchen sich überlegte, ob er selber wohl nun auch mit seinem himmlischen Vater Rat halte, ob er die Belehrung an seine Kinder richtig ausgeführt habe. In solchen Erwägungen versunken, verspürte es, ohne darauf geachtet zu haben, wie die beiden Kinder etwas ruhiger, ja fast etwas entschlossener zu werden schienen und wie ein gewisses Leben in sie kam, bis schliesslich das Ältere sagte: "Also Papi, dann gehen wir". –  "Ja, das ist recht", bestätigte der Onkel ihren Entschluss, "behüt euch Gott!" Und sie gingen wieder los. Das Mädchen und die Tante waren gespannt, wie das ausgehen werde, aber der Onkel wirkte diesmal sehr entspannt und zufrieden.

Als die Kinder nach einer knappen halben Stunde wieder glücklich und ohne Hut zurückkehrten, erkannte man auf ihren Gesichtern eine gewisse entspannte Freude, die das gelungene Vorhaben oder Erlebnis verriet. Das Mädchen hätte seinen Onkel liebend umfassen mögen, so tief hatte es alles das miterlebt und mitgefühlt und zu begreifen begonnen, wie ernst jede kleinste Handlung eines Menschen zu nehmen ist, wenn er einmal frei und froh in seinem Himmelreich sich bewegen will.

Der Onkel fragte seine Kinder: "So, wie ist es euch ergangen?" Diese sagten: "Gut, wir haben keine Furcht mehr gehabt und das Haus bald gefunden", und der Onkel rief ihnen nochmals in Erinnerung, ja nie vorwitzigerweise die Lust am Schlechten zu schüren und alle ihre schlechten Gedanken, die einem jeden Menschen einmal kommen können, mit den guten aus dem Herzen dadurch zu vertreiben, dass sie diese durch ihre Liebe wachsen lassen und ihren Vater im Himmel auch darum bitten, dass er ihnen Kraft und Liebe geben möchte, damit die guten Gedanken auch so mächtig wachsen können, dass sie die schlechten zu vertreiben vermögen.

In der Nacht fand das Mädchen nicht so leicht den Schlaf. Vor ihm stand in einer gewissen Verklärtheit das Familienbild dieses Abends, als die zwei kleinen Ausgesandten wieder glücklich zurückgekehrt waren und alles eine Freude empfand, als hätte es sich um eine der wichtigsten Missionen gehandelt. Es fühlte stets lebendiger, wie unvorstellbar tief die täglichen Erlebnisse der Menschen begründet sind, und wie sehr schon die kleinsten Kinder wahrhaft Menschen sind, wenn sie richtig erzogen werden. Es erkannte, dass diese noch nicht einmal schulpflichtigen Kinder heute Abend in sich selbst die Erfahrung des göttlichen Beistandes machten; jene Erfahrung, die dem Erwachsenen praktisch verschlossen bleibt, oder dann nur in den allerschwersten Stunden und Tagen zuteil werden kann. Es erkannte aber auch, wie sein Onkel die alleralltäglichsten Vorkommnisse so tief zu beurteilen imstande war, dass er an ihnen die Fähigkeiten der Menschen zu wecken und schulen vermochte, sodass sie allen künftigen noch so ausserordentlichen Gelegenheiten zu genügen vermochten – eben weil er in dem Alltäglichen die Ausserordentlichkeit für die es jeweils Erlebenden erkannte.

Dann aber gingen ihm auch die Worte der Belehrung an die Kinder nicht mehr aus dem Sinn, dass schlechte Gedanken an sich nicht so leicht auszutreiben seien, wie sie vorher aufgenommen worden sind, und dass sie am ehesten dadurch weichen würden, dass sie von den guten des Herzens, die durch ihr Anwachsen langsam auch den Kopf anfülleten, verdrängt würden. Sie waren bedeutsam – auch für es selbst. Hatte doch auch es selber immer wieder äusserst dumme Gedanken. Zwar glaubte es, dass auch seine guten Gedanken des Herzens, durch die Belehrungen des Onkels angeregt, sich ständig vermehrten und anzuwachsen begännen – von einem Vertreiben der schlechten jedoch konnte es noch nichts verspüren. Im Gegenteil, manchmal schien ihm, je inniger, heftiger und entschlossener es die guten Gedanken seines Herzens pflegte, desto ärger würden dann auch die schlechten rege und reger. Und unter diesen konnte es oft so stark leiden, dass ihm zeitweilig alle Freude benommen war, die es sonst seit der Zeit seines Hier-Seins empfand. Lange dachte es darüber nach und wälzte sich dabei von einer Seite auf die andere, ohne eine befriedigende Antwort oder gar eine Lösung zu finden. – Sollte es nicht einmal mit seinem Onkel darüber sprechen? Aber wie ihm die ganze Schlechtigkeit seines Innern aufdecken, nach welcher es ja von ihm nicht gefragt wurde? Was würde er wohl auch denken? Nein! Das konnte es nicht. – – Und dennoch stellte es sich dann wieder vor, wie schön das sein müsste, wenn es so vor seinem Onkel erscheinen könnte, wie es wirklich war, sodass nicht einerseits ständig ein Einssein mit ihm und seiner Hilfe und anderseits dennoch wieder teilweise das schmerzliche Getrenntsein von ihm – und einer vielleicht möglichen Hilfe – seine Gefühle zerwühlen müsste. Wie glücklich waren doch die beiden Kinder des Onkels! Der Onkel kannte sie, und sie hatten ihm nichts zu beichten. Und doch, – würde das stets so verbleiben; würden sie mit der Zeit nicht auch Gedanken in sich aufkommen lassen, welche dem Onkel dann fremd bleiben werden? Bei dieser Vorstellung empfand es so recht deutlich, wie dann der stets zur Hilfe bereite Onkel von seinen Kindern isoliert wäre und dadurch unfähig würde, ihr Inneres wirksam ordnen zu helfen, damit aber auch verhindert, seinem wohl innigsten Wunsche, zu helfen, nachzukommen. Und es stellte sich vor, wie ihn dieser Zustand wohl traurig werden lassen könnte, wenn er ihn erkennen würde. Schon wollte es sich entschliessen, sich seinem Onkel zu eröffnen, damit es selber ihm keine Möglichkeit verwehre; aber dann empfand es wieder den Unterschied zwischen Kind und Vater und bloss Nichte und Onkel. In dieser Art kam es immer tiefer in stets entgegengesetztere Gefühle und zu stets widersprüchlicheren Gedanken, sodass es mit dem Schlaf endgültig vorbei war.

Am Morgen wurde es vom Onkel gefragt, ob es nicht gut geschlafen habe, so sehr mitgenommen musste es ausgesehen haben. "Oh doch, ganz gut", hatte es ihm zur Antwort gegeben, weil es zu unverhofft sich ertappt fühlte. Aber bald darauf schon brannte es diese unbeabsichtigte Notlüge heftig in der Seele, so sehr, dass es keine Ruhe mehr finden konnte. Es hatte den Sinn, nie jemanden zu belügen. Nun, das war zwar auch für es keine eigentliche Lüge, sondern verlegene Ausrede; aber angesichts des Ernstes und der um das Wohl aller bekümmerten Art seines Onkels wurde diese Ausrede vor dem Urteil seiner Liebe und seiner Vernunft zur Lüge. Es drängte es so sehr, dass es nach dem Frühstück einen Moment abwartete, in welchem es den Onkel alleine sprechen konnte. Und diesen benutzte es, ihm zu gestehen: "Onkel, ich habe dich vorhin angelogen. Es tut mir von ganzem Herzen so leid!" worauf es zu schluchzen begann. Der Onkel forderte es in beruhigendem Ton auf, mit ihm in sein Büro zu gehen, das freilich eher einem Zimmer glich, in welchem neben vielen wohnlichen Möbeln auch ein Schreibtisch stand, und lud es ein, sich doch zu setzen. Aber bald stand er selber noch einmal auf, ging aus dem Zimmer und rief der Tante, dass er mit seiner Nichte im Büro sei und ungestört bleiben wolle, sie solle doch das Telefon bedienen. Als er wieder zurückkam, hatte sich das Mädchen bereits wieder etwas gefasst und war in grosser Verlegenheit, seiner vorherigen Eröffnung wegen. Aber sein Onkel sprach es dennoch verständnisvoll und liebeernst folgendermassen an: "Weisst du, das hatte ich schon gespürt, dass du mir meine Frage nicht der Wahrheit nach beantwortet hast; und aus deiner Verlegenheit dabei merkte ich ja auch, dass dich etwas bewegt, das du offenbar nicht bewältigen kannst. Und es ist nun nur die Frage, ob du es mit mir besprechen möchtest, oder nicht. Ich möchte, dass du das ganz selber entscheidest. Aber um dir zu helfen, kann ich dich versichern, dass ich nun gerade Zeit dafür hätte und du also nicht denken müsstest, als behindere mich dein Problem. Wenn du es also mit mir besprechen möchtest, so fange ungehindert an zu reden; es macht mir eine Freude, dir zu helfen soviel ich kann." – Das Mädchen verspürte wieder die ihm bekannte, allen entgegenkommende Art seines Onkels, und da floss es aus ihm heraus: "Es sind deine Worte von gestern, die mir keine Ruhe liessen, heute Nacht. Du hattest deinen Kindern gestern Abend geraten, dass sie nur durch das Wachsenlassen guter Gedanken aus dem Herzensgrund die schlechten Gedanken aus dem Kopfe vertreiben könnten. Aber bei mir will das nicht gehen. Im Gegenteil, je mehr ich mich bemühe, die guten Gedanken, die du meinem Herzen schon alle eröffnet hast, in mir gross werden zu lassen, desto mehr auch regen sich die schlechten meines Kopfes!" Das Mädchen begann zu weinen und konnte nicht mehr weitersprechen. Der Onkel beruhigte es damit, dass er ihm sagte: "Nun weine dich zuerst nur recht aus, wir haben ja Zeit und versäumen nichts. Dann aber musst du mir dennoch erklären, welcher Art deine bösen Gedanken sind, damit wir zusammen ein Mittel finden, sie entweder zu vertreiben oder gar zu bessern in gute." – Das Mädchen sah verwundert auf und fragte: "Verwandeln in gute? Ist das möglich; kann man das auch?" –  "Manche schon", antwortete sein Onkel, "manche auch wieder nicht. Wir wollen dann sehen, wenn wir sie erst einmal vor uns haben." Diese ruhige, sachliche Art, mit der sein Onkel fast alle Probleme anging, beruhigten das aufgewühlte Gemüt des Mädchens so sehr, dass es sich wieder zu sprechen getraute und sagte: "Ich möchte einmal so mit dem himmlischen Vater vereint leben wie du, und ich möchte immer mehr und ausschliesslicher meinem Vater dienen, weil ich ihn immer mehr zu spüren beginne und ihn richtiggehend liebe mit einer reinen Liebe, wie es mir vorkommen will, die nichts als das Gute und alle Beseligende möchte. Aber gerade nach Zeiten, in denen der Wunsch danach besonders drängend und feurig gewesen war, empfinde ich stets auch den Wunsch, mich einem Manne hinzugeben in sinnlicher Lust. Ich suche und empfinde dabei förmlich die Lust so, als würde ich ihn in mein Inneres dringen spüren." Hier unterbrach das Mädchen seine Rede und setzte sie einige Augenblicke später etwas zaghaft fort: "Und wenn ich mich diesen Gedanken hingebe, was ich oft nicht verhindern kann, so tue ich an mir selbst, was nur einem Manne zustehen würde." Darauf schwieg es ganz. "Ja, ich kann dir zwar nicht sagen, dass das gute Gedanken sind oder eine richtige Handlung, aber ich kann es dir erklären, woher solche Gedanken und Handlungen rühren, und kann dir damit auch zeigen, wie du ihrer mit der Zeit Meister werden kannst, sofern es dir der Vater geschehen lässt. Und damit ist dir besser gedient, als mit der Feststellung, dass das nicht gut sei. Weisst du, wir Menschen haben alle irgendwelche Fehler; die einen diesen, andere einen andern. Jeder muss an seinen eigenen Fehlern wachsen und dort stark werden, wo ihn der Vater geflissentlich nicht so stark ausgebildet hat. Schaue dir einmal die Meerschweinchen an, oder auch andere Tiere, die alle aus der Allmacht Gottes hervorgegangen sind und auch durch sie – über den Instinkt – gehütet werden: Sie kommen zur Welt, saugen ihre Mutter und tollen vom ersten Tage an herum, fressen schon bald, neben der täglichen Muttermilch her, Gras und Kräuter und sind schon bald den erwachsenen Tieren gleich. Ganz anders beim Menschen, der nicht bloss aus Gottes Allmacht zustande kam, sondern aus seiner Liebe erst erzogen wird, damit er seinen liebevollen Vater aus eben dieser aus Gott ihm zu eigen gewordenen Liebe erfassen könne und sich aus dieser Liebe zu ihm selber vervollkommnen würde im Sinne seines Schöpfers und fähig werde, einen Himmel in sich selber zu gestalten, wo nur der Liebewille seines Vaters herrscht, der dann auch alles um ihn herum zu verklären imstande ist. Und eben darum haben die Menschen ihre Schwächen, damit sie einerseits durch sie an ihren himmlischen Vater gebunden werden und anderseits diese ihre nicht voll ausgebildete Wesenheit ihrem eigenen Wesen entsprechend, aber im Sinne Gottes, fertig gestalten können." –  "Aber Onkel", unterbrach das Mädchen die Rede, "ich habe dir noch nicht alles gesagt. Wenn ich mich selber beflecke, so habe ich dabei die wildesten Gedanken und Vorstellungen, die sicher nicht in Gottes Plan sind. So wünsche ich mir manchmal, ich fiele in die bösen Hände von Verächtern, die mich auszögen und mich in meiner Hilflosigkeit verlachen und verhöhnen würden, am Ende mich binden würden und meinen Leib zu peinigen begännen zu ihrer blossen Lust, ohne dass sie mit mir schlafen wollten, sondern nur um mich so recht fühlen zu lassen, was für ein hilflos verächtliches Ding ich wäre. Aber, das ist das Schlimme: Bei dieser Vorstellung empfinde ich Lust, so sehr, dass ich mich manches Mal mir gegenüber selber ein wenig so verhalte, wie ich es in meiner Vorstellung sehe. Und doch kann ich in nüchterner Zeit empfinden, wie unendlich tief ich erschrecken würde, würde mir das wirklich geschehen." Das Mädchen schlotterte ein wenig und seufzte: "Ach, wie vernünftig und schön ist alles hier bei euch, und wie unheimlich und dunkel in mir! Wie gerne möchte ich all euren Reichtum annehmen, dass er in mir wirksam werden würde, und wie habe ich dann doch diese entgegen gesetzte Gier und Lust, alles Schöne zu quälen oder zu zerstören!! Mir ist nicht zu helfen! Onkel, es tut mir mächtig leid, dich damit belastet zu haben, ich bin es nicht wert, dass du deine Zeit für mich hergibst!" – Der Onkel rückte zu ihr hin, ergriff ihren rechten Arm und sagte, sie beschwichtigend, zu ihr: "Nun höre, was ich dir sagen werde: Du belastest mich nicht, sondern du entlastest mich in meinem steten Wunsche, dir wirklich und ganz zu helfen; und das kann ich ja nur, wenn du mich darum bittest; und du nimmst mir keine Zeit hinweg, sondern du erfüllst sie mir mit Arbeit, die ich so gerne tue.

Was dich plagt, sind nicht die Gedanken des Kopfes, sondern Wahrheiten, die du tief innerlich und allerlebendigst fühlst, ohne sie vorerst mit deinem Verstande erkennen zu können. Weil sie aber dennoch unablässig dein Gefühl berühren, so versucht deine Seele, sie, zur bessern Erkennung ihres eigenen Wesens, in Bildern auszudrücken. Und diese Bilder ergeben sich dann in deinem Kopfe und reizen dich, dich in irgendeiner Form so zu benehmen, dass du davon ebenso berührt wirst wie von den in dir zutiefst gefühlten Wahrheiten, die du damit aber noch lange nicht verstehst. Darum auch bringst du diese nicht dadurch aus dir heraus, dass du gute Gedanken neben ihnen aufkommen lässt, sondern nur dadurch, dass du sie als verkehrte Bilder, oder als die negative Seite der Wahrheit in dir entlarven kannst. Denn damit verlieren sie die Faszination, die sich aus deiner Empfindung deines Überwältigtseins durch sie ergibt.

Schau, du empfindest hier wohl sicher zum ersten Mal in deinem Leben eine dich tief berührende, innere Seligkeit. Du forschest nach ihrem Grunde und findest ihn in Gott, deinem und meinem heiligen Vater im Himmel. Du weitest dein Herz für ihn und vertiefst alle deine Empfindung, um nur möglichst voll zu werden von diesem Glück, ja, um es so tief als möglich in dich aufzunehmen – es so tief als nur möglich in dich dringen zu lassen. Weil aber dein inneres Wachstum nicht im selben Masse deiner dazu erhöhten Bereitschaft wächst, so empfindest du in dir dann eine vorerst unerfüllte Bereitschaft und suchst in deiner Erregung fälschlicherweise, dir das Eindringen des Gottesreiches in dich vorzustellen – freilich dir mehr unbewusst und mehr bloss in deinen Gefühlen. In Wirklichkeit aber dringt das Gottesreich nicht in dich ein, sondern muss sich in dir entwickeln. Weil du aber erstmals von aussen, eben nun von unserm Hause her verspürend, vom Gottesreiche eines andern berührt worden bist, stellst du dir fälschlich ein Eindringen vor. Und in der Miterregung deines Leibes in die Erregung deiner von Liebe erwärmten und belebten Seele erregt sich dabei auch das leibliche Nervensystem, und in deinem Leibe entstehen dann Gefühle, die deiner noch unerfüllten Liebe gleichen. Du erkennst sie und beginnst den Seligkeitsreiz auch darin zu suchen, der dich im geistig seelischen Bereich vorher ebenfalls bloss von aussen her angeregt hat oder in dich eingedrungen ist und derart belebt hatte. Und schon drängt es dich im Äussern nach einer Begattung. Denn der Vater im Himmel hat alle äussern Verhältnisse deines Leibes den innern Vorgängen entsprechend geschaffen, um dadurch vorbildend dem bloss äusserlichen Menschen ein Gefühl zu geben, wie etwa die vollkommene Seligkeit der Vereinigung von Glaubens-wahrem mit Liebegutem auf das Gemüt belebend wirkt. Denn viele stumpfe und nach der äussern Welt gekehrte Menschen erfahren erst in ihrer Einigung mit ihrem Ehepartner erstmals den gewissen lustreichen, süssen Schmerz einer völligen Vereinigung. Wie ein weibliches Wesen zwar fähig ist, in sich den belebenden männlichen Samen aufzunehmen und, mit dem seinen zusammen, reif werden zu lassen zu einer Frucht, die sie aber nicht selber lebendig hätte machen können, ebenso ist der Glaube und die Wahrheit ihrem Wesen nach bereit, aus der Anregung eines Liebewunsches heraus in sich Früchte des Werdens und der Kraft der Liebe zu reifen - aber nicht das Leben selbst zu schaffen, das pur aus der Liebe kommt. Und wie sich das Weib also dazu hingeben muss, in seiner völligen Nacktheit den belebenden Samen zur Reifung einer Frucht zu empfangen, ebenso muss die Seele dem göttlichen Liebewillen hinhalten, um in sich die lebendige Frucht des Geistes erwecken zu lassen; hinhalten in der Treue, der Tragung des Kreuzes und der Aufopferung all ihrer eigenen Interessen (der leiblichen Versorgung) zu Gunsten jener des Geistes. Frühreife, zu welchen Menschen deiner Aufgewecktheit gehören, empfinden das alles ahnend und finden in ihrer Erregung dann oft einen körperlichen Widerhall.

Nun aber willst – oder musst – du ja wissen, woher deine so schlecht scheinenden Bilder oder Vorstellungen herrühren, wenn du sie so verstehen willst, dass sie dir nicht mehr so zu schaden vermögen. Dazu beschaue dich selbst in deinem innern Wesen, so, wie es sich hier zu gestalten begann: Du entbranntest vor Freude und dem Verlangen, das hier Erfahrene möglichst völlig in dich aufzunehmen und erweitertest dazu dein Herz und vertieftest dein Gefühl mächtig. Dadurch wurdest du zwar äusserst aufnahmebereit – aber auch äusserst verwundbar. Denn wer das Gute so stark zu empfinden fähig ist, der ist auch fähig, ebenso stark einen Schmerz zu erleiden. Wenn du nun einerseits die Wohltat des in dich einfliessenden Gottesreiches so stark beseligend empfindest, so musst du ja deine noch anhaftende Unfähigkeit, dieses Gottesreich – das in der Seligkeit des Gebens besteht – andern zukommen zu lassen, ebenso stark als einschneidend und schmerzlich empfinden auf so lange, bis du es dir redlich durch viele Selbstverleugnung erworben hast. Und wenn du noch so erfreut und noch so voller Hoffnung die Erfüllung der Verheissung in all deiner Zuversicht auch gerecht erwartest, so lässt sich doch von böser verstandesmässiger Seite auch leicht dein vorläufig noch nicht voll gewandeltes Wesen dadurch verletzen, dass es mit dem Scheinwerferlicht der kalten, bloss verstandesmässigen Betrachtung völlig nackt und aller Zierde und allen Reichtums des Gottesreiches bar erscheint. So sehr du deine Blossstellung - oder die Blossstellung deines innern Zustandes – auch, der Liebe sich hingebend, wünschest, um ihn zu veredeln, so blossgestellt und verletzend empfindest du ihn anderseits vor den kalten, berechnenden Augen der bloss verstandesmässig erkannten Erfassung. Diesen gefühlten Umstand ersiehst du dann in jenen Männern, die du dir vorstellst, dass sie dich, dich höhnend und verachtend, als ein Unding oder als ein unnützes Ding, dich ausziehend, verlachen.

Dass du aber bei aller dir noch so verletzend vorkommenden und anderseits doch, der als notwendig empfundenen Demütigung wegen, erwünschten Nacktheit von diesen auch noch gebunden werden willst – in deiner Fantasie – bezeichnet den Umstand, dass du zu allem segensvollen Wirken auf andere durch deine noch völlige Ungeübtheit noch unfähig – eben noch völlig gebunden – bist. Denn noch fürchtest du, durch die Bekennung deines Vaters im Himmel vor andern als lächerlich zu erscheinen; noch fürchtest du, dadurch eine gute Stelle und ein dabei sorgloses Leben zu verpassen oder zu verlieren. Du befürchtest auch, von den andern nicht verstanden zu werden und darum vielleicht vergeblich Gutes gewirkt zu haben. Siehe, das sind alles Stricke, mit denen du vor den Augen der kalten Vernunft als gefesselt erscheinst, dich weder wehren könnend, noch etwas wirken könnend. Und diese Fesseln schneiden dir gar sehr tief in das vorher extra noch zartfühlend gemachte Fleisch – oder Gemüt – deiner Seele, und das umso härter und schmerzhafter, je inniger du den Wunsch zu einer edlen und guten Tätigkeit in dir empfindest. Dabei beginnt dein Verstand dich als lächerlich anzusehen, dich nicht ernst zu nehmen. Denn für die gewöhnliche, achtlose Welt taugst du in dieser deiner innern liebehellhörigen Empfindlichkeit durchaus nicht mehr, weshalb du vor der der Welt zugekehrten Vernunft auch als lächerlich erscheinst; aber für die Begattung – das heisst zur wesenhaften Erweckung des Gottesreiches in dir – taugst du auch noch nicht, weil du dich, deiner Fesseln wegen, noch nicht frei dorthin begeben kannst, wo alleine du wirken könntest - zu deinen Nächsten hin.

Deine Vernunft und dein Verstand aber sind dir zur Fristung deines Erdenlebens gegeben und wollen deshalb gar nicht, dass du, dein Äusseres aufgebend, dich mit dem Samen des innern Gottesreiches befruchten lassest. Sie erfreuen sich also deiner hilflosen und zu nichts tauglichen Stellung oder Situation, weil du ihnen dadurch noch lange als eine Leibeigene (Sklavin) erhalten bleibst, die sich ihren Erkenntnissen bedingungslos fügen muss. Und auf diese Weise schlagen und kneippen sie dich, um dich die Nutzlosigkeit deiner erreichten Empfindungstiefe in deinem vorläufigen Zustande so recht empfinden zu lassen, damit du dich möglicherweise in deinem Gemüte wieder verhärten würdest und dadurch dem Göttlichen weniger zugänglich bliebest.

Nun gibt es aber viele liederliche Seelen, denen die Ausnützung der Liebe und Gnade Gottes zu eigenen Zwecken – zu ihren Lebzeiten auf Erden – besser gefallen hat als deren Benützung zum Erkeimen- und Erstarken-Lassen ihres innern Geistlebens. Und solchen Seelen sind Menschen, die sich – wie du – von der Welt abzukehren beginnen, um zu ihrem himmlischen Vater zu kommen, stets ein widriger Anblick, weil ein ständiger stummer Vorwurf. Und solche neigen dann dazu, Menschen mit tieferem Gefühl so fühlen zu lassen, wie es der äussern, negativen Wirklichkeit entspricht, damit sie sich entweder schämen sollen und umkehren würden zurück in die Welt, oder dann, wenn sie das nicht erreichen, doch wenigstens durch ihr Einfliessen ins Gefühl ihren Leib durch fortwährende Selbstbefleckung so malträtieren und schwächen, dass er krank und hinfällig wird und zur fernern Ausreifung der nach Gott dürstenden Seele möglichst untauglich. Die Bilder deiner erregten Fantasie haben also durchaus eine Realität, aber sie sind in der negativen, äussern Form der Wahrheit ausgedrückt, die dich verunsichert und plagt - während die innere Wahrheit doch besagt, dass du auf dem Wege bist und als Wanderer dich doch noch unmöglich bereits am Ziele befinden kannst. Ist aber, nach der bloss äussern, verstandes-kritischen Logik betrachtet, ein Wanderer nicht immer ein Unding, das verlacht werden muss? Er ist weder hier, wo er eigentlich einmal war, noch dort, wo er eigentlich sein möchte und hat als solcher keine Ruhe. Er könnte gut ebenso verlacht werden wie du von den Männern deiner Fantasie. Aber der Sinn der Wanderung ist ja eben, von einem Ausgangspunkte zu einem Ziel zu gelangen. Und ist der Weg dazu auch noch so weit und lang, einmal wird das Ziel erreicht und dann hört alle Wanderschaft auf! Das ist die innere, belebte Wahrheit, die, in der Vereinigung mit der Liebe lebend, weiss, was und weshalb etwas sein muss und der Liebe, als väterliche Hilfe, dazu dient, das Ersehnte auch zu erreichen. – Verstehst du das auch alles?" –  Das Mädchen atmete tief ein und auf und sagte in einem von Liebe durchdrungenen, aber völlig gelösten Ton: "Ja, ja, lieber Onkel, das verstehe ich nun ganz gut, und du hast mir mit deinen Worten, so sehr geholfen und wohlgetan. Wie frisch geboren komme ich mir jetzt vor! Oh, wie schön ist es doch, sich im Lichte zu befinden. Aber" – und bei diesem "aber" verdüsterte sich sein andächtig schönes Gesicht, "aber, so schön es mir nun auch vorkommt, so befreiend wohl es mir auch während deiner Rede geworden ist, so fragt sich bloss, ob mir das dann auch noch einzusehen möglich ist, wenn wieder die böse Lust über mich und meinen Leib kommt und ich der hämischen Freude meiner in der Fantasie oft fast gewünschten Männern ausgesetzt bin?" –  "Sicher wirst du nicht immer gegen sie den Sieg davon tragen", antwortete ihr der Onkel. "Aber sieh, daran liegt nicht soviel. Der Mensch, besonders der gar sehr aufstrebende, braucht mancherlei Demütigungen zur Dämpfung seines erwachenden Selbstgefühls. Aber eines kannst du immerhin versuchen, das wird dir bestimmt manches Mal auch aufhelfen – wenn auch nicht gar immer –; und das besteht darin, dass du, wenn du dich wieder einmal bis ins Äusserste deiner Vorstellung verloren hast, ohne bereits Hand an deinen Leib gelegt zu haben, versuchst, in deiner Vorstellung die Gefesselte und in deiner Vorstellung am Boden hart Gepeinigte – die du selber bist – zu verlassen, etwa so, wie eine Seele ihren Leib verlässt, dich dann von allen Beteiligten etwas entfernt aufzustellen und die Peiniger etwa mit folgenden Worten anzusprechen – aber wohlverstanden, mit der ganzen Kraft deiner Fantasie: 'Ihr könnt diese Arme hier schon peinigen, wenn ihr wollt und durchaus eine Lust dazu habt. Es stimmt auch, dass sie euch ausgeliefert ist. Aber auf ihre ständige Bitte hin wird Gott, der Herr, sich bestimmt einmal ihrer erbarmen, sollte sie sich vorher auch noch so ungeschickt verhalten haben; wird ihre Fesseln zerschneiden und sie vor euren Augen hinwegführen und wird dabei euch eurer eigenen Nichtigkeit überlassen, die nichts aus sich selber zustande bringt – wie aller Verstand und alle Vernunft auch –, sondern nur fähig ist, an allem Seienden und allem Lebendigen zu zerren und krittelnd zu rütteln. Das Leben aber wird dennoch diesem Mädchen da gehören – und nicht euch – und wird ihm folgen und verherrlicht werden, wenn es es zurückbringt durch seinen Liebewunsch und Liebewillen zu seinem Vater, damit es dann nur ihm alleine lebe, euch für ewig verlassend und eurer eigenen Nichtigkeit anheim stellend.' – Du wirst dich hocherfreut verwundern, wenn du bei einem solchen innern Vorgang dann plötzlich eine Kraft und Wärme in dir zu verspüren beginnst, und dabei die Nichtigkeit aller deiner Sinnenlust empfindest. Und das wird deine Liebe und dein Zutrauen zum Vater ebenso stärken wie deine innere Freiwerdung von leiblichen Zwängen.

Aber gar leicht kannst du natürlich dabei auch zu selbstgefällig auf deine dann gekräftigte und von aller Fessel befreite innere Gestalt blicken, sodass dir, deines zu grossen Selbstgefühles wegen, wieder zugelassen wird, dass dieselben Männer – oder die äusserlich verstandesmässigen Ansichten – dich von neuem verfolgen, entblössen und gefangen nehmen, damit du die Nichtigkeit deines eigenen Wesens besser fühlen kannst und bei einem nächsten Siege voll Bescheidenheit und Zerknirschung deines Herzens deinem Vater in dir bekennst: 'Vater, das ist ja ein Teil deiner Gestalt, wie ungemein schön und lebenskräftig ist sie doch; lass mich ewig so mit dir vereint sein!'".

Dies Gespräch wurde zu einer mächtig wirkenden Medizin für das Gemüt des Mädchens. Es begann seit jenem Gespräch sich mehr und mehr bewusst zu werden, wie seine Freude über das in diesem Hause Aufgefundene – seinen Vater im Himmel – es in eine Art müssigen, wenn auch dankbaren Sinnentaumel verfallen liess, anstatt dass es sich hätte zu Taten beleben lassen. Es wurde sich dabei auch stärker bewusst, dass es nur darum nicht mehr nach Hause zurückkehren wollte, weil es hier schöner und besser war und es ihm hier wohlgefiel, während zu Hause niemand seinen Wunsch nach der ständigen und fühlbaren Nähe seines himmlischen Vaters unterstützt hätte, sondern ihm alle eher nur Steine auf seinen Weg dorthin gelegt hätten. Wohl hatte es seinen Onkel lieb, und es hätte für ihn auch vieles gerne getan. Aber sein Onkel hatte es nicht nötig, da er die Gnade seines Vaters, und damit seinen Segen, auf all seinem Tun hatte. Aber seine Eltern beispielsweise hätten es, seiner Erkenntnis nach, gut gebrauchen können, dass ihnen jemand die Weise des Himmels, durch sein Benehmen vorlebend, gezeigt hätte. Auch sein kleiner Bruder, der zwar hier wohl schon vieles gelernt hat, hätte nach diesem Aufenthalt hier auch noch dringend der täglichen Aufmunterung und Aneiferung bedurft; ja viele, und am Ende fast gar alle Menschen hätten das – seiner Erkenntnis nach – äusserst nötig gehabt, das schöne, reine Himmlische irgendwo zu sehen, zu fühlen und zu erleben, damit auch sie möglicherweise Freude daran bekommen würden und sich dann aus ihrer Liebe heraus zu ihm kehren würden, welche alleine sie es erreichen lässt. – Aber dazu hatte es keine Lust empfunden: in sich selber für die andern eine solche Fülle zu bereiten durch die völlige Ergebung in den Willen seines Vaters im Himmel, der alle Menschen durch gute Beispiele aufgerufen und eingeladen wissen will – und nur das damit gemeint haben kann, als er seinerzeit seine Jünger ausgesandt hatte. Diesen Erkenntnissen zufolge wäre es also lieber blosse Nutzniesserin als Wegbereiterin des Himmels geblieben. Wohl fühlte es eine tiefe Dankbarkeit dieser Fülle gegenüber, aber es erreichte diese in sich selbst eben darum nicht, weil es sie nicht in sich selbst zum Segen und Vorteil seiner Nächsten verwirklicht haben wollte, sondern mit jener eines andern zufrieden war – wenn diese auch unterstützend. Es begriff, dass erst dann, wenn es zum entschiedenen Willen in ihm kam, dasselbe durch die Tat in sich selber Wirklichkeit werden zu lassen – und das voll zu Gunsten der andern –, dass erst dann seine Nacktheit einer selbst gewählten und tatkräftigen, nicht bloss sinnlichen, Beschauung seiner selbst glich, die ihm alle Möglichkeiten zur Handlung und Tat nach seinem Vorsatze erst erschliessen müsste, sodass es dadurch dann ungefesselt bliebe – auch vor der kalten Vernunft. Wenn es die schlechten und noch unbebauten (Herzens-)Äcker der andern nicht mehr verneine, sondern zu seinem eigenen Tätigkeitsfeld seiner erwachenden Liebe mache, so verschaffe es sich erst durch sie eine Landschaft oder jene Kleidung – jene Genugtuung auch –, die ihm die volle Freiheit lasse, weil sie zu seinem erarbeiteten Eigentum gehöre, das ihm nicht mehr genommen werden kann, sodass es nie mehr nackt zu sein brauche. Und nähme man ihm auch all das weg, was es in seinen Nächsten dann erwirkt hat, so bliebe ihm doch der starke und wesenstiefe Wille und die Geschicklichkeit, das auf andern Herzensgründen wieder zu erreichen und damit seine himmlische Tätigkeit fortzusetzen und so komplett – oder eben gekleidet – zu bleiben.

So aber, wie es nun stand, bewirkte eben eine räumliche Trennung von seinem Onkel das Bild der völligen Nacktheit seiner Gestalt, die im dabei gefühlten Verlustschmerz auch gebunden bleiben müsste und nicht zur frohgemuten eigenen Tat schreiten könnte. Es verstand nun auch den Text der Bergpredigt völlig neu, der auffordert, dem, der rechtet um den Rock – als dem seiner Wesensgestalt ähnlichsten und nächstliegenden Anspruch auf äussere Zuwendung – auch gleich den Mantel – oder die äussere, rationale Rechtfertigung dazu – zu überlassen. Zwar steht er dann völlig nackt, das heisst ohne Rechtsanspruch auf das Äussere oder die Welt; aber diese wird ihn durch ihre äussere Erscheinlichkeit auch nicht mehr zu täuschen imstande sein und seine innere, entfaltende Bewegung zur wahren Gestalt nach dem Ebenbilde Gottes nicht mehr behindern, aus welcher ihm – vom Innern herkommend – ein neues, von Liebe strahlendes Kleid werden wird. Dass ihm zu solch grossen und tiefen Gedanken nur der Segen des Himmels verhelfen konnte, war ihm aus seiner grossen, sein ganzes Gemüt erfassenden Dankbarkeit auch klar geworden.

So unendlich viel konnte eine Aussprache über die innersten, intimsten und deshalb heikelsten Erlebnisse bringen. Wer nicht fähig ist, oder nicht wenigstens den Willen dazu hat, diese Fähigkeit des Beistandes zu erwerben, den der Onkel seiner Nichte zukommen liess, der ist es, der seinen Nächsten – wenn er ihn um eine Meile Begleitung bittet – nur die eine (die Äussere des Zuhörens) zu geben fähig bleibt, während er ihn die gebotene zweite, ihn über die Notlinderung hinaus bereichernde Meile auf dem Wege zurück zum Vaterhaus, mangels Verständnis, nicht begleiten kann. Natürlich kann das in dem Masse nicht jedem gegeben sein. Jedoch führt ein innerliches Eingehen auf das Wesen der eigenen Person unter dem Beistand der erflehten Hilfe von oben immer zu einer wesentlichen Begriffserweiterung, sodass ein um Beistand oder Begleitung Angesprochener dem Hilfebedürftigen wenigstens ein warmes Verständnis für das Vorhandensein solcher Probleme entgegenbringen kann. Versteht er das Problem selber auch nicht zu lösen, so kann doch sein tiefes Verständnis für das Vorhandensein solcher Probleme den Hilfebedürftigen fühlen lassen, dass er nicht alleine, sondern vom Verständnis eines andern begleitet ist. Nur der tägliche innerliche Verkehr mit der Liebe Gottes aber erwirkt mit der Länge der Zeit diese Sicht und Fähigkeit, andern helfen zu können, ohne dabei selbst in Gefahr zu geraten.

Mit der Weile schwand zwar bei dem Mädchen die reichliche Zierde des Dankgefühles ein wenig, ohne sich jedoch zu verlieren. Aber es empfand dafür in sich immer mehr eine zur Tat drängende Kraft und Zuversicht und empfand es manchmal, dass es nicht so schnell mehr nackter und passiver Empfindung ausgesetzt war, sondern positiver, aus ihm selbst strömender Kraft. Natürlich war damit seine leibliche Sucht nach Befriedigung noch lange  nicht völlig überwunden, aber die Schwere der Empfindung nahm ständig ab und auch die Anzahl der Anfechtungen wurde etwas kleiner, während Mut und Zuversicht neben Nüchternheit und Bescheidenheit zunahmen und sein Wesen stets mehr erfüllten. Und so hatte sein Onkel ihm mit der Erklärung des Grundes seiner Schwäche eine entscheidende Hilfe zukommen lassen – wohl eine der letztmöglichen in einer 20 Jahre dauernden Erziehungszeit, in welcher Eltern ihren Kindern das meiste zu geben die Gelegenheit haben.

Zeit seines Lebens freute sich das Mädchen in der Erinnerung an diese seine seligste Zeit ohne je die geringste Wehmut über ihr Vergangensein zu empfinden, da es inzwischen in sich selbst sein eigenes brachliegendes neue Land seines ewigen Geistes mit seines himmlischen Vaters Hilfe erfolgreich zu bebauen begonnen hatte. Es hatte nach seiner Rückkehr voller Anteilnahme und Hingabe versucht, seine Eltern und Geschwister dasselbe fühlen und erleben zu lassen, was es selber während seines Aufenthaltes bei seinem Onkel erlebt hatte. Wenn auch der Erfolg – ausser bei seinem damals mit ihm gewesenen Brüderchen – äusserst dürftig war, so blieb es doch bei seinem Entschluss und vervollkommnete sich unablässig. In seiner Kindheit hatte es manchmal – am Beispiel seiner Mutter erkennend – gedacht, dass Hausfrau kein Beruf sei, der einen Menschen ausfüllen könne und sein Wesen stärke oder gar erweitere, und es wollte deshalb, dem Trend der Zeit etwas folgend, berufstätig werden und bleiben. Seit seinem Erlebnis beim Aufenthalt in der Familie seines Onkels war seine Ansicht jedoch gerade eine entgegen gesetzte:

Nicht einen einzigen Beruf konnte es ausmachen, der dem Menschen eine solche Möglichkeit bot wie derjenige der Mutter – oder eben auch des Vaters. Kein Mensch könnte so nachhaltig, weil in einer so frühen Phase des Lebens, auf die gute und gesunde Entwicklung eines Menschen einwirken wie die Mutter, dachte es. Niemand sonst könnte – und schon gar nicht im Nachhinein – so vollkommene Staatsbürger und angehende Himmelsbürger erziehen; niemand konnte derart am Haushaltbudget – des Staates, wie der Familie – sparen, weil nur die Einstellung zum Leben den Menschen dazu bringen kann, in allen äussern Ansprüchen bescheiden zu werden, um Zeit für die innere Entwicklung zu haben. Niemand kann so effizient die Umwelt schonen wie eine Mutter, die ihre Kinder in ihrer zartesten Jugend lehrt, Rücksicht zu nehmen und das Wohl der andern über das eigene, oder zumindest dem eigenen gleich zu stellen. Und niemand kann mehr zur Gesundheit eines Volkes beitragen, als eine Mutter, welche ihre Kinder zur Nüchternheit, Vorsicht und Umsicht erzieht dadurch, dass sie sie spüren lässt, und an vielen Beispielen sogar aufzeigt, dass sie einen Vater im Himmel haben, der ihnen ein ewiges Leben bereitet hat, das schwer auf denen lasten wird, die es während ihres Erdenwandels zertragen und lädiert haben dadurch, dass sie ihren Leib der Sinnenlust wegen ständig nach allen Seiten hin missbraucht haben. Und das Gebet einer gläubigen Mutter heilt in so vielen Krankheitsfällen, dass ihre Kinder aus der Erfahrung wissen, wo sie ihren Arzt suchen müssen, der nicht nur ihren Leib, sondern auch ihre Seele im Auge hat, pflegt und gesunden lässt, wenn sie auf seinen Wegen bleiben, oder doch wenigstens wieder auf sie zurückkehren. Ärzte, Psychologen, Psychiater, Ökonomen, Staatsrechtler und Gesellschaftsarchitekten sind nicht in der Lage, das zu ersetzen oder auch nur behelfsmässig auszubessern, was die Mütter einst, während der Jugendzeit ihrer Kinder, versäumt haben;  so dachte und so empfand es auch. Es sah es nebenbei wohl auch ein, dass trotzdem gerade dieser Beruf von allen verkannt und verachtet wird, wohl, weil noch beinahe alle darin versagt haben. Die einen, indem sie ihre Pflicht, überhaupt nicht wahrgenommen haben; die andern, weil sie ihren Männern eher dienten und gefallen wollten als ihrem Herrn; wieder andere, indem sie nur um das weltliche Fortkommen ihrer Kinder besorgt waren, welches aber mit dem Grabe endet. Die meisten setzten durch falsche Beispiele ihrem Pfuschwerk von Erziehung noch die Krone auf: Sie zierten sich und ihren Leib, anstatt ihr Herz, und lebten den Töchtern dadurch die Kunst der Verführung vor, und den Söhnen gaben sie damit die ersten Hinweise und Winke, auf was sie sich zu konzentrieren haben.

Heute sind die Frauen, von diesem Beruf hinwegstrebend, emanzipiert; sind, von der ruhigen Beschaulichkeit hinweg, ihren Männern nachgerannt und glauben, ihren Mann stellen zu müssen im Gewühle der Welt und in den Wirrnissen des so genannt "Rationalen". Sie haben die Orientierung zusammen mit ihren Ahnungen und Gefühlen verloren, fühlen sich gescheit, sind ruhelos wie die Männer und obendrauf noch stolz auf ihren Fortschritt ins Chaos dieser Zeit. Ihre Kinder kommen als Waisen zur Welt, deren Mütter nicht einmal mehr durch die Tage ihrer Schwangerschaft Zeit für sie haben. Ihre Ammen sind der Fernseher und die (elektronischen) Spielzeuge; diese erziehen sie zu Technikern und Renommierhelden oder dann zu schwammartigen Konsumenten, anstatt zu verständigen, gefühl- und rücksichtsvollen Menschen.

Wer aber hatte sich damals um das äussere Leben Jesu, unseres Herrn, – ausser sein Geist selbst – gekümmert und sich ihm hingegeben, anstatt sich selbst? War es nicht die Mutter, die Magd des Herrn? So fragte sie sich. Und in grosser Liebe zu ihrem Herrn sagte sie: "Ich will dir in der kleinen Kammer meines Herzens eine Herberge schaffen, damit du wenigstens darin wohnen kannst in dieser Welt. Und alle, die sich einer solchen Mutter nicht schämen, werden zusammen mit mir ständig um dich sein und deine Wunder bestaunen, die du wirkest im Innern aller, die dir zugekehrt sind. So werde ich Licht und Wärme erhalten und verbreiten können in meinem Wesen – und vielleicht auch ein wenig in meiner Umgebung – mein Leben lang, und am Ende ganz von dir aufgenommen werden in dein Reich der Liebeseligkeit".

27. 1. 1994

Aus der Reihe: "Wenn wir christlich leben würden"

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