Ein Erziehungsbeispiel

Sehr viele, ja die meisten unangenehmen Eigenheiten eines Charakters offenbaren sich schon bei den allerkleinsten Kindern. Wer sie dort entschuldigt – weil er sie zu begreifen glaubt –, der festigt sie! Denn alles Altgewordene ist eine Verhärtung jugendlicher Angewohnheiten, und kaum mehr zu ändern. Wie sinnvoll es darum ist, solche ganz allgemeine menschliche Schwächen schon im frühesten Alter den Kindern bewusst zu machen und ihnen zu helfen, sie zu überwinden, das erkennen wir an einem ganz banal erscheinenden Beispiel, das hier beschrieben wird. Wie schön es ist, ein so tief liegendes Problem schon bei einem Kleinkinde anzusprechen und es ihm damit verständlich zu machen, und wie ungemein bereichernd es auch auf uns Erwachsene wirken kann, das empfinden wir eindrücklich bei dieser Lektüre.

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EIN ERZIEHUNGSBEISPIEL

Es begab sich einmal an einem Sonntag, dass eine Bekannte auf Besuch bei einer Familie weilte, in welcher mehrere Kinder aufwuchsen. Das Jüngste war gerade eben 3 Jahre alt geworden und es fiel der Bekannten auf, wie selbständig und zufrieden das Kind war. Da sie ledig war und das Erlebnis des Werdens eines Kindes noch nie empfunden hatte, so beschäftigte sie sich innerlich mit der so ungewöhnlich ruhigen und überlegten Art des Kindes. Dabei sah sie ihm zu, wie es mit seinen Bauklötzen schon allerhand bauen konnte und wie es ebenfalls mit Bauklötzen eine Eisenbahn imitierte, indem es mehrere Klötze waagrecht hintereinander reihte und auf dem vordersten einen senkrecht stehenden als Kamin benutzte. Beim 'Fahren' damit konnte es grössere Kurven schon gut ausführen, ohne dass die Zugskomposition dabei auseinander fiel. Langsam und konzentriert schob es dabei am Zugsende die ganze Komposition vorwärts, oft unter oder zwischen Bauten hindurch. Wenn es auch hie und da einen Bau streifte und der eine oder andere Klotz dabei umfiel, so machte das dem in sein Spiel ganz vertieften Kinde nichts aus und es flickte ganz selbstverständlich den Schaden und spielte weiter.

Einmal auch geschah es, dass der Zug in einer allzu eng vollzogenen Kurve auseinander barst und das Kind die bunten 'Wagen' von neuem zusammenstellen musste. Als dasselbe sich aber gleich dreimal hintereinander wiederholte, da wurde das Kind erstmals ein wenig unwillig und fuhr mit seinen kleinen Händen zwischen die zerborstene Zugskomposition, sodass die Klötze durcheinander flogen, was ihm sein Vater sofort verwies.

Dieser Vorfall gab dann Anlass zu einem Gespräch, weil die Bekannte meinte, dass dieser sofortige, wenn auch mit ruhigen Worten angebrachte Verweis, denn doch zu früh erfolgte, falls er überhaupt richtig sei. Denn, so meinte sie, ein Kind müsse doch auch seine Energien abreagieren können, sonst werde es ein in seinem Innern gehemmter Mensch. "Ganz richtig", meinte da der Vater und fuhr fort: "Es fragt sich nur wann, wo und auf welche Art! Sieh, wenn die Erwachsenen sich abreagieren, so machen sie zumeist eine Beziehung kaputt dabei, oder sie belasten sie wenigstens schwer. Wenn du aber schon weisst, dass das so ist, dann musst du eben das Kind als werdenden Erwachsenen so lenken und leiten, oder mit andern Worten dahin 'erziehen', dass es auch beim Aufkommen niederer Triebe, diese stets so zur Ausführung bringt, dass nie etwas Schlechtes daraus resultiert, sondern wo-möglich etwas Gutes.

Also verbiete ich ihm bei Erregung und Wut, irgendeine Sache zu zerstören oder in Unordnung zu bringen. Das Verbot ist aber dabei – wie du vorhin wohl bemerkt haben wirst – nicht ein sanktioniertes, festes, sondern eher eine bestimmt vorgetragene Empfehlung. Ich sagte ja nicht: 'Das darfst du nicht tun, sonst gibt es eine Strafe', sondern sagte nur: 'Das ist ungeschickt von dir, denn die Klötze können nichts dafür, dass du sie so ungeschickt geschoben hast. Also musst du nur über dich selber enttäuscht sein. Dabei stehe auf, wende dich von den Klötzen ab und denke über dich nach. Und wenn du wieder Lust und Liebe zu den Klötzen hast, dann erst gehe von neuem zu ihnen. Du sollst alles was du tust mit Liebe tun.'

Und wie es sich zeigte, hat der Kleine das begriffen und er weiss es auch, dass ich in solchen Fällen auch Zeit für ihn habe und er in den Schoss meiner Liebe seinen Ärger schütten kann. Aber schon lange nicht mehr mit der nur Böses hervorrufenden Heftigkeit des Ärgers oder gar Zornes, sondern mit der sanften Enttäuschung über sein eigenes Unvermögen. Aber zugleich auch mit der Erkenntnis, dass sein Unvermögen oder sein Versagen unsere Beziehung nicht nur nicht belastet, sondern sogar stärkt, weil er es ja sieht und weiss, dass ich allen gerne helfe, die der Hilfe bedürfen. Und sieh ihn nun nur an, wie er zwischen meinen Beinen steht, soweit es ihm die Stuhlsitzkante erlaubt und sich mittlerweile bereits wieder umgekehrt hat und dich bestaunt, sich fragend, was du wohl für ein Problem habest."

Die Bekannte musste dem Vater Recht geben, aber ihr spukte die heute übliche Lehre noch stets im Kopf herum, nach welcher sich ein Kind sollte abreagieren können. Und sie bezweifelte deshalb, dass das eine genügende 'Abreagierung' war, wie sie sich ausdrückte.

"Kann er ausgeglichener sein, mein kleiner Sohn, als er nun ist, wo er so bei mir steht und seine ganze Aufmerksamkeit auf unser Gespräch richtet, obwohl er es ja natürlich noch nicht wirklich fassen kann? Siehe, es baut ihn mein Verständnis und meine Nähe schon lange wieder auf.

Glaubst du, dass eine schroffe Abwendung nicht auch eine überaus starke und genugtuende 'Abreagierung' ist, besonders dann, wenn sie heftig erfolgt? Aber diese Abreaktion ist eine wahre 'Abreaktion' und nicht eine 'Aufreaktion', die auf der Gegenseite wieder nach Abreaktion – die ja wieder nur eine 'Aufreaktion' sein könnte – ruft.

Wer sich in einer Wut oder im Zorne innerlich schroff von dem ihn erregenden Teil seines Gegenübers abwendet, der lässt dabei sein Gegenüber ganz. Er lässt ihm seine eigene Art, seine Meinung seine Besitz ergreifende Liebe; kurz, er lässt ihm die Unversehrtheit seines ganzen Wesens. Das ist es doch, was gemeint ist unter dem    Gebot: 'Du sollst nicht töten', was gleichbedeutend ist mit dem weiter gefassten Wort 'Du sollst nicht zerstören'. Deshalb dürfen meine Kinder auch keine Gegenstände von sich werfen und dürfen auch nicht absichtlich – ja nicht einmal achtlos – auf Gegenstände, die von Menschen gemacht wurden oder benutzt werden, auftreten. Das alles bedeutet Zerstörung im weitesten Sinne des Wortes oder im kleinsten Detail – wenn du es so begreifen kannst. Denn achtlos etwas tun, bedeutet im exakt erfassten Sinne: nicht nur keine Achtung oder Wertanerkennung für das Vorhandene zu haben, sondern sich auch nicht achten auf vorhandene bessere Möglichkeiten, sondern einfach und unbekümmert seines eigenen, durchaus nicht sinnvollen Weges zu gehen. Und aus der Häufung solcher scheinbaren Kleinigkeiten entstehen dann auch grössere, gute Verhältnisse zerstörende Zwischenfälle. Würden also diese scheinbaren Unbedeutendheiten von "Zerstörungen" in der Tiefe der Seele schon im frühen Kindesalter ausgestaltet, so könnten sie sich in der Seele auch nicht auswachsen, und nimmer könnten sich dann erwachsene Menschen so leicht zu einem verletzenden Streit entzünden lassen oder gar einen alles verheerenden Krieg beginnen.

Das Von-sich-Werfen eines Gegenstandes in einer Erregung beispielsweise ist doch nichts anderes als ein Bild, ein vorprogrammierendes Detail für das spätere Von-sich-Weisen eines Menschen. Dieses aber ist doch eine Entgegnung oder Zurückweisung der Absicht des Nächsten, welche stets seiner Liebe entspringt, wenn diese Liebe auch noch so ungereinigt, also selbstisch sein mag. Das Sich-Abwenden hingegen lässt dem Gegenüber seinen freien Willen, der aus seiner Liebe entspringt, und benimmt ihm möglicherweise nur den Erfolg oder das Gelingen seiner ursprünglichen, aus seiner primitiven Liebe begründeten Absicht.

Und dieses Recht (des Sich-Abwenden) muss ja notwendigerweise einem jeden Menschen zustehen, weil ja jeder Mensch eben auch seine eigene Liebe und den daraus hervorgehenden Willen hat, der auch nicht zerstört werden darf. Also muss doch die erste und deshalb heftigste Reaktion stets die sein, dass sich der Mensch von der ihn erregenden Seite eines Vorfalles abwendet und diesen dann – nach Trennung des erregenden Momentes – in Ruhe zu beurteilen beginnt und erst dann handelt, wenn er vorher zur reiflichen Beurteilung Zeit und Ruhe gefunden hat. Die Abwendung mit dem Leibe und einer Sache gegenüber (also beispielsweise bei den Bauklötzen) ist doch viel besser und einfacher zu erlernen, als später jene im bloss seelischen Bereich zu vollziehende Abwendung, einem Menschen gegenüber, der tatsächlich Schlechtes oder gar Böses tut, oder wenigstens beabsichtigt hat, zu tun.

Wenn diese Gedanken durch die Erziehung bei den kleinsten und unscheinbarsten Begebenheiten durch die Beachtung der gewissen Ordnung in ein werdendes Menschlein einfliessen, so wachsen sich diese mit dem Grösserwerden der Fassungskraft und des Wirkungsfeldes eines Menschen auch zu Grossem aus, genauso wie das in die Rinde eines jungen Baumes geschnittene Bild mit dem Wachsen des Baumes sich vergrössert, oder wie umgekehrt das böse Fortwerfen sich auswächst zur Verfolgung anders Denkender bis hin zur Diktatur in Familie oder Staat, und wie das Treten über Gegenstände sich auswächst bis zur rücksichtslosen Missachtung der Rechte des Nächsten in Geschäft und Wirtschaft. Bist du da nicht meiner Meinung? –  Etwas anderes ist es, wenn in spätern Jahren – nach einem solchen Abwenden – vom Betreffenden eine Konstellationen erkannt würde, welche ohne sein weiteres Eingreifen zu einer unmittelbaren Ausweitung des Falschen oder Bösen führen würde, das sogar zum Mitreissen anderer führen könnte. Dann wären Gegenmassnahmen angezeigt. Diese stellen dann aber einen Neubeginn, ein Anfangen einer ganz neuen Tätigkeit dar, weil sie keine unmittelbare aus einer momentanen Erregung entspringende Reaktion mehr darstellen, sondern die Frucht höherer und reiflich geprüfter Betrachtungen und Überlegungen sind."  –

Natürlich konnte die Bekannte auf so tief gefasste und tief gefühlte und deshalb wohl fundierte Argumente nicht leicht etwas erwidern, ja sie kaum in vollem Umfange würdigen. Zu sehr war sie mit der Vorstellung beschäftigt, wie ein Leben unter solchen Gesichtspunkten wohl eingeengt sein könnte, und dabei fiel ihr ein, dass es Gegenstände gibt, die ja geradezu zum Fortwerfen gemacht sind, wie etwa ein Ball. Und sie fragte deshalb den Vater, was er denn bei solchen Umständen anordnen könne oder wolle, damit schon im Detail oder im Kleinsten nicht Bösem der Grund zur Entfaltung gewährt würde?

"Ganz gut", meinte da der Vater, während das Kind sich wieder seinem Spiele zuwandte. "Wirklich ganz gut, dass du diese Frage aufgegriffen hast.

Siehe, der Ball ist tatsächlich bei vielen Spielen der Vorläufer einer Gewehrkugel: er ist ein Geschoss. Und zum Überfluss haben die Spiele auch darauf hinweisende Namen, wie etwa 'Völkerball', 'Jägerball' etc. Weil wir schon in einer Welt leben, wo Tod, Rache und Vergeltung als Gesetze der Hölle gang und gäbe sind, so kann ich nicht alles verhindern, was gang und gäbe ist, sondern nur in meiner Familie eine solche Ordnung treffen, die alles Gute nur fördert und alles Schlechte oder dem Schlechten Vorschub Leistende möglichst vermeidet. In der Schule hingegen wird der Ball wohl für alle Arten von Spielen verwendet, ohne dass diese darauf geprüft würden, was für Gründe sie in den Gemütern der Kinder beleben und welche Gefühle sie im Menschen wecken und stärken. Auch die Nachbarskinder sind schon nicht nach solchen Idealen ausgerichtet erzogen worden und betreiben alle ihre Spiele, wie sie ihnen in den Sinn kommen und noch mehr danach, wie sie diese von andern erlernt haben.

Ich wende deshalb nichts dagegen ein, wenn meine Knaben den Ball zum Werfen auf Ziele gebrauchen, nur ermahne ich sie stets, nicht auf Lebendiges zu zielen. Ich würde ihnen nicht einmal Völkerball verbieten, nur muss ich hinzusetzen, dass sie – zufolge der schon im ersten Lebensjahr beginnenden Erziehung eine Abneigung oder zumindest keine besondere Lust zu solchen Spielen haben, was ihnen jedoch persönlich nur mehr oder weniger bewusst wird, weil sie sich selbst und ihr Wesen noch nicht genau kennen. Weil aber dieses Wesen durch die Erziehung so gebildet wurde, dass solche Betätigung – wie in vielen Ballspielen vorkommend – in allen möglichen Vorstufen nie stattfand, so sind deshalb solche Spiele dem so erzogenen Kinde auch wesensfremd und es meidet sie – oft ohne es sich selbst bewusst zu werden, warum.

Was ich aber für meine Kinder tun kann, das ist: ihnen Ballspiele zu zeigen, die ihrem Wesen nicht fremd sind, sondern ihm entsprechen. Jedes Werfen des Balles beispielsweise mit dem Ziele, ihn einem andern zukommen zu lassen, hat nicht das Fortwerfen zum Grunde, sondern die Absicht, zu geben, weiterzugeben. Alles, was der Mensch weitergibt, muss er ja fortschaffen, wie ich beispielsweise nun meine Ideen und Ansichten in Worte verpackt aus mir schaffe, aber einzig zum Zweck, sie dir zukommen zu lassen, sie dir zu geben. Es gibt viele solche Spiele; und wenn der Spielkamerad sehr weit vom Werfenden entfernt ist, so kann dieser sowohl die Kraft des Werfens üben und stärken, als auch das absolut genaue Zielen. Aber diese Übung ist dem Wesen des Gebens verwandt, während das 'Abschiessen' bei Völkerball oder Jägerball das Zerstören und Töten zweifach in sich birgt, erstens im Von-sich-Schleudern und zweitens im Treffen des Nächsten zu seinen Ungunsten.

Und wenn ein Knabe dabei auf ein Mädchen schiesst, das nach dem Aufprall des Balles aufschreit, so kann es bei Veranlagung dazu der vorbildende Entstehungsgrund zu späterem Sadismus sein. Würde das in solchen Spielen sich vom Schützen wendende Mädchen jedoch – bei besseren Spielen und ihren Regeln – zu ihm sich wenden müssen, um den Ball zu fangen, so würden solch sadistische Veranlagungen viel weniger herausgefordert weil nicht durch ein bestimmtes Gefühl erregt. Und wären diese auch heftig im Gemüt des Schützen vorhanden und der Schuss würde deshalb absichtlich heftig ausgeführt und das Mädchen würde danach bloss weinen (und nicht aufbegehrend zu schreien beginnen), so könnte ein jugendlicher, noch weicher, und darum noch nicht ausgehärteter Sadist auch Schuldgefühle oder sogar ein wenig Mitleidsgefühle empfinden. Und diese könnten dann gegen seine sadistischen Gefühle ankämpfen, so dass der Schütze in seinem Gemüte über längere Zeit indifferent erhalten werden könnte, in welcher Zeit die Möglichkeit durchaus besteht, dass die Veranlagung dazu gehemmt wird, besonders bei gleichzeitig erfolgter 'Erziehung'. Denn der nutzlose Widerstand – wie es ein aufbegehrendes Schreien darstellt – ist dem Sadismus mehr Genugtuung als das bloss empfundene Leid, weil es ihn in seiner Macht und Gewalt bestätigt. Der Sadist zerbricht lieber etwas Zähes, ihm Widerstrebendes, als dass er einen weichen Schwamm durch Ausdrücken seines Lebenswassers entledigt.

Ganz anders bei den genannten Spielen, wo ihn (den Schützen) die Abwendung des Mädchens – durch die Spielregeln bedingt – geradezu bestimmt, seinen Schuss so schnell und deshalb auch so heftig als möglich zu führen, um zu treffen. Ja, bei solch einem Entschuldigungsgrunde lässt sich eine sadistische Veranlagung ungehindert festigen und deren Handlungsweise als absolut natürlich und folgerichtig rechtfertigen. Unter dem äusseren Schutz der Rechtfertigung also reifen solche Laster, die jeder Träger stets und allzeit gegenüber seinem Gewissen zu verteidigen hat.

"Unüberlegte Spielanordnungen also und unüberlegte Familienordnungen sind der Schutz und Freiraum zur Ausreifung aller Arten von Laster und zusätzlich noch die Rechtfertigung vor dem Gewissen. Damit aber wird der Ordner oder Anordnende zum Urheber der Sünde, weil der Sündigende stets vor dem Richter seines Gewissens geltend machen kann, dass diese Sünde von ihm verlangt wurde. – – –

Nun sehe doch wieder meinem Jüngsten zu, wie er ganz aufgeht in seinem Spiel. Ihm läuft nichts davon; nur er selber ist stets der Schuldige, das weiss er wohl. Glaubst du, dass in ihm einmal solche Gefühle frei zu wuchern beginnen können? Ich kenne seine Veranlagungen noch lange nicht alle, aber ich kenne seine Waffen – und schärfe diese auch –, mit welchen er alle solchen Versuchungen bekämpfen kann und die es vorher schon erschweren, dass er überhaupt solchen Versuchungen ausgesetzt wird." –

"Aber die gestaute Aggression?", wollte die Bekannte eben noch einwerfen, aber der Vater, der die Frage erriet, kam ihr in ruhiger Weise zuvor mit der Frage: "Hat er sie denn, und wenn ja, wie? Er hat sie ja doch abgelegt, bei mir, indem er seine eigene Schuld einsah und auf meiner Seite – statt Aggression – nur Entgegenkommen fand. Ja, das musste er zuerst auch lernen, aber er hat es gelernt und auch empfunden, dass er dabei nur reicher wird. Denn nach einer Aggression empfindet sich der Aggressor dem Angegriffenen gegenüber – solange dieser nicht zurückschlägt – stets alleine und ohne eine ihn und sein schroffes Handeln bestätigende Antwort und muss sich darum nachher Anerkennung bei andern suchen. Auf der Welt – mit ihren dummen Menschen – wird er diese zwar wohl finden. In der geläuterten Vernunft oder gar im aller Liebe vollen Himmel aber nie!

Auf die eingelernte und von dir vorher mitverfolgte Art und Weise aber kann er seiner in ihm wach gewordenen Aggression den Boden entziehen und findet gleichzeitig Anerkennung im Herzen eines jeden vernünftigen, ihn beobachtenden Menschen, ja sogar der Engel im Himmel. Heisst es doch deshalb: 'Lasset die Kleinen zu mir kommen', oder 'So ihr nicht werdet wie diese Kindlein,...'.

Meinst du wirklich, Jesus hätte mit seinen damals ausgesprochenen Worten so aggressive, tobende Kinder und allen Eigennutzes volle Familientyrannen gemeint, wie sie heutzutage häufig anzutreffen sind, denen wir gleich werden sollten?

"Ich sehe es dir an, dass du noch immer nicht befriedigt bist, und ich glaube auch zu merken, was du eigentlich meinst. Ja, es gibt freilich auch – durch die Entwicklung des Leibes bedingt – in eben diesem Leibe Spannungszustände, die aggressiv machen können und die nur im Leibe selbst ihren Grund haben und nicht Folgen seelischer Erregung sind. Diese Spannungszustände des Leibes sind allerdings ganz ähnlich jenen aus seelischer Erregung und können auch auf die Seele erregend zurückwirken. Und diese lassen sich natürlich nicht einfach nur dadurch lösen, indem das Kind zum Vater eilt. Nein, diese müssen vielmehr durch leibliche Betätigung ausgeglichen werden. Eine Art solcher Betätigung, das Werfen eines Balles auf weite Distanz – aber stets zu einem Empfangenden hin – haben wir eben erwähnt. Aber: schwere Lasten tragen, laufen, springen oder klettern vermögen ebenfalls solche Spannungen auszugleichen. Auch schon bei den Jüngsten und Kleinsten. Lasse sie nur eine Türvorlage ausklopfen und erkläre ihnen aber zugleich und zeige es ihnen, wie der Staub sich dabei aus dem Teppich macht und in einer Wolke davonfliegt. Du lässt sie dann durch ihr Tun also nicht den Teppich schlagen, sondern nur den ihn schädlich bedeckenden Staub frei klopfen. Diesen können sie nicht fortwerfen, sondern nur lösen oder vom Teppich trennen; denn er schwebt ja vor den Augen des Kindes glücklich und gelassen dahin und verliert sich in seiner Nutzlosigkeit dann endlich einmal, wenn er sich auf den lebendigen Boden der Natur setzt, der ihn endlich wieder zu neuem Leben in den Pflanzen aufbereitend aufnimmt. Das letztere aber musst du dann dem Kleinen nicht unbedingt sagen, denn das sieht und versteht er ohne ein Wort.

Es wird ihm das zwar nicht unbedingt bewusst. Aber in seinem Empfinden erkennt er dennoch den lästigen Charakter trägen und unnützen Staubes, der ebenso zäh an allem haftet, wie all die dummen äussern Förmlichkeiten in der Gesellschaft und in den so genannten Gottesdiensten im Gemüt eines Menschen haften bleiben. Und gerade das unbewusste Empfinden ist es, das eines Menschen Tun am nachhaltigsten beeinflusst. Würde er sich dieses unbewussten Empfindens in seinen negativen Auswirkungen bewusst, so könnte er diese auch bewusst ablegen. Deshalb schiebe du anderseits so viel Gutes als möglich unbewusst in den Menschen hinein, solange er jung und empfänglich ist. Aber erhelle ihm dennoch zur rechten Zeit stets das Bewusstsein. Denn damit wird er auch die sich allenfalls danach eingeschlichen habenden bösen Unbewusstheiten erkennen und erhält dadurch die Möglichkeit, ihre Auswirkungen – in seinem äussern Tun – zu unterbinden, wie beispielsweise der Jägerballschütze, der bisher gerne auf Mädchen geschossen hatte, wenn ihm bewusst wird, was er eigentlich tut und was ihm den Reiz dazu gab (der erwartete, aufbegehrende und empörte Aufschrei).

Nur hat der Schütze nachher nicht mehr viel in sich – wenn er all seine unbewussten bösen Wesenseigenheiten erkannt hat –, das er sein Eigen nennen könnte und das seinen Kampf gegen das Böse unterstützen würde. Deshalb mein Rat: soviel als möglich Gutes ins Unterbewusste des Kindes fliessen zu lassen. Dieses ist dann die reichliche Gabe der Eltern im Leben ihrer Kinder, wenn diese sich allem bewusst zu werden anfangen, und dabei das Gute dann schon in sich selber haben und nur noch ein bewusstes 'Ja' dazu sagen müssen."

Nun seufzte die Bekannte auf, indem sie sagte: "Wenn ich deinen Reichtum so ausgebreitet vor meinem Geiste sehe und an deine überaus beglückende Tätigkeit als Erzieher denke und daraus er-sehe, wie du damit nur deinen eigenen Erkenntnisreichtum vermehrst, so beginne ich an der so genannten Emanzipation der Frau zu zweifeln, um nicht zu sagen zu verzweifeln. Was habe ich mir alles vertan mit meinem Hang zur Selbständigkeit!

Bist nicht gerade eben du der Selbständigste, der ohne weitere äussere Mittel und ohne auf eine Anerkennung der andern zu achten aus scheinbar Unbedeutendem für das Wohl eines Menschen Bedeutendes macht?!  Und wäre das nicht einer jeden Mutter Aufgabe – und einer jeden Frau höchstes Ziel, eben Mutter zu werden?"

"Ja sehe", fiel ihr der Vater ins Wort, "die Frauen glaubten, sie seien zu dieser Rolle verdammt und deshalb sind sie auf- und damit losgebrochen von der guten alten Ordnung, und das Gute dabei ist immerhin, dass – wollen sie je einmal zurückkehren, wie im Gleichnisse der verlorene Sohn – sie selber dasselbe dann wollen , vor welchem sie ehedem geflohen sind. Vielleicht können sie dann besser und leichter die Vorzugsstellung erkennen, die sie eigentlich in der göttlichen Ordnung innegehabt haben, wenn sie darum ringen, flehen und bitten müssen, diese wieder zu erhalten."

30.9.86

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