Vom Wesen der Erziehung

Wie manch einer, auch unter den beruflichen Erziehern, erzieht seine Zöglinge mehr oder weniger auf ein bestimmtes Ziel, ohne sich Gedanken zu machen, ob dieses Ziel auch wirklich für alle so erstrebenswert ist, dass es als oberstes Ziel angesehen werden kann. Die Freiheit, die wirkliche innere Freiheit zu entwickeln und zu festigen, damit ein jeder einmal mit seinen ihm eigenen Gaben und seiner eigenen Beurteilung der Dinge zur für ihn alleine gültigen Wahrheit kommen kann, das wäre das einzig erstrebenswerte Ziel. Nicht jedoch, den eigenen Glauben und die eigene Anschauung für richtig haltend, schon einem kleinsten Kinde ein festes Endziel vorzugaukeln oder gar vorzuschreiben. Diese wahre Freiheit, alles selber prüfen zu dürfen – und auch prüfen zu können – und davon das dem eigenen Wesen Zusagende zu verwirklichen, gilt es bei der Erziehung immer an erster Stelle im Auge zu behalten. Und dazu braucht es eine möglichst umfassende Ausbildung der Seele und ihrer Kräfte. Wie? Das zeigen die folgenden Überlegungen.

Gedruckt erhätlich für SFr. 5.00

Den vollständigen Inhalt enthalten die nachfolgenden Seiten:

© Copyright by
A. Perle Verlag
CH-4315 Zuzgen AG


VOM WESEN DER ERZIEHUNG

Jedermann weiss sofort, was unter Erziehung verstanden wird. – – Weiss er das wirklich? Und wenn er es auch weiss, kann er das auch?

Im Allgemeinen wissen wir viel zu viel, um etwas wirklich zu kennen und aus dem Grunde heraus zu beherrschen. Was bedeutet denn das Wort "Erziehung", was sagt es aus? Das müssen wir doch wissen, wollen wir von diesem Tätigkeitsvorgang etwas verstehen. In diesem Wort steckt das Tätigkeitswort "ziehen". Ziehen, – – aber wohin?? Das ist die grosse Frage, und darin unterscheiden sich die Geister. Denn erziehen ist ein Ziehen an irgendeinen bestimmten (nicht unbestimmten) Ort oder ein bestimmtes Ziel. So, wie ein Mensch zwar nach etwas langen kann, so kann er auch etwas ziehen, aber erlangen ist ein Erhalten dessen, nach was man gelangt hat. Es erlangt einer zum Beispiel seine berufliche Selbständigkeit. Und ein Erziehen ist das Ziehen auf einen erwünschten Standpunkt hin, den der Erziehende als erstrebenswert hält.

Es werden zwar alle Kinder einmal erwachsen, selbst ohne Erziehung. Denn der leiblich-seelische Mensch ist so eingerichtet, dass er das, was er sieht und hört, nachahmt und aus den Erlebnissen dieses Nachahmens einen mehr oder weniger sinnlichen oder dann eher einen den Intellekt anregenden Impuls erhält, der seinen Willen dann in die eine oder andere Richtung zu mobilisieren beginnt. Folglich kann "Erziehung" nicht als eine allgemeine Entwicklung zum Erwachsenwerden hin verstanden werden. Denn es gibt so viele stumpfe und unansprechbare Erwachsene, die stur und stumm ihre Erdenzeit ohne grosse Veränderung durchleben, sodass man sich fragen kann, für was ein solches Leben gut oder nützlich gewesen sei. Anderseits gibt es so dynamische Menschen, welche im selber angerichteten Chaos von Erlebnissen und allerartigsten Erfahrungen förmlich untergehen, weil sie diese Fülle nicht mehr zu ordnen fähig sind und deshalb auch zu keinem geordneten Gebrauch derselben gelangen können. Sie sind – wie die Kinder – völlig überfordert von den erkannten und erlebten Möglichkeiten dieser Welt – und dennoch sind sie erwachsen und machen auf wenig tief empfindende Menschen auch einen durchaus erwachsenen Eindruck.

Erziehen lässt sich also nicht als eine Führung zu einem so unbestimmten und ohnehin erreichbaren Standpunkt wie das Erwachsenwerden verstehen, sondern nur als ein Ziehen auf ein bestimmtes Ziel hin. Erwachsenwerden heisst eigentlich bloss: in seinem anfangs noch hin- und herschwankenden, jugendlichen Wesen fester und beständiger werden, gleichgültig wie gut oder wie schlecht der Charakter dieses Wesens dann ist.

Welches aber sind die erstrebenswerten Ziele? Darin unterscheiden sich dann auch die Erzieher und ihre Erziehungsmethoden.

Die meisten Erziehungsziele sind Sammelpunkte einer gewissen Art von Reichtum. Denn das kleine Kind ist – seinen äussern Erkenntnissen nach – arm. Die einen erziehen es zum Sammeln von irdischen Gütern. Das sind die Reichen. Andere wieder erziehen es zur Ansammlung von Wissen. Das sind die Wissenschafter oder Wissenschaftsgläubige. Wieder andere erziehen es zur Anhäufung von Anerkennung und Ehre: das sind Ehrgeizige, beim weiblichen Geschlecht auch Kokette und bei den Politikern Renommiersüchtige. Wieder andere erziehen Kinder zum Sammeln oder Festigen von ihnen erstrebenswert erscheinenden Charaktereigenschaften – zum Beispiel des Ordnungssinnes. Das sind zum Beispiel Buchhalter, Organisatoren und Analytiker. Oder sie erziehen sie zur Beherrschung des Körpers; das sind Asketen, aber auch Akrobaten, Kunstturner, auch eine gewisse Art von Musikern, hingegen nicht Leistungssportler, denn diesen geht es um die Ehre. Eine weitere Art der Festigung von Charaktereigenschaften besteht in der Festigung des Willens; das sind Hypnotiseure, Diktatoren, Befehlshaber, Dompteure und viele weitere.

Alle solchen Erziehungsziele haben eines gemeinsam: Sie fassen und erfassen nicht das Ganze, nicht die Gemeinschaft, nicht das Leben schlechthin, und zwar in allen seinen Formen und Auswirkungen und allen seinen Folgen für den Einzelnen und das Ganze. Denn sie suchen nicht nach dem Grund, dem Urgrunde alles Seins, sondern begnügen sich mit den Möglichkeiten des für sie in der Beschränktheit ihrer Wahrnehmung Vorhandenen. Folglich können derart Erzogene – so praktisch sie in der Gesellschaft auch zu verwenden sind – nicht dem Ganzen, das aus einem einzigen Grunde heraus entstanden sein muss, dienen, und zwar aus dem leicht begreiflichen Grunde heraus, weil niemand etwas oder jemandem dienen kann das oder den er nicht kennt – dessen Plan ihm unbekannt ist. Dadurch verlieren sowohl Erzieher wie Erzogene einen gewissen, sie stetig verjüngenden Teil, der eben nur aus jenem Grunde sich gewinnen lässt, aus welchem schon das Bisherige (Eigene wie Fremde) ebenfalls sein Dasein schöpfte und stets weiter schöpft.

Die Mitte oder der Grund eines Baumes beispielsweise liegt weder in seinen Wurzeln noch in seinem Stamm oder seinen Ästen, Zweigen, Blättern, Blüten oder Früchten, sondern ganz eindeutig in seinem Plan, der in alle seine Zellen und speziell in seine Keimzelle gezeichnet ist. Und dieser Plan ist nicht materiell! Wohl ist es zwar seine Zeichnung, jedoch nicht der Gedanke oder der Plan, welchem diese Zeichnung entsprungen ist. Könnte ein Baum das verlieren, so wäre sein Leben, seine Existenz und auch seine dem Ganzen dienende Aufgabe dahin. Ein Baum kann das zwar nicht verlieren, wohl aber der Mensch. Denn er ist – im Unterschied nicht nur zu allen Bäumen und Pflanzen sondern auch im Unterschied zu allen Tieren, ja zu allen Wesen überhaupt – nur in den Grundzügen all seiner Möglichkeiten geplant, damit ihm, als einem sich selbst bestimmenden Wesen, die eigene Ausgestaltung seines Seins möglich bleibt. Die Grundzüge sind zwar alle auch in ihm vorhanden, aber die Verhältnisse unter ihnen sind seinem eigenen Willen anheim gestellt. Und damit fehlt ihm ein Teil zum Ganzen, den er selber finden und gestalten muss. (Darum auch das Wort oder die Feststellung in der Bibel: "Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn" (1. Mose 1, 27). Der Mensch, der nach dem Bilde Gottes, seines Schöpfers, gestaltet wurde, soll also selbst Schöpfer seines ihm eigenen innern Wesens werden, wie Gott, sein Schöpfer, ein Schöpfer der ganzen sichtbaren Welt und damit auch Schöpfer der Grundvoraussetzung eines freien menschlichen Wesens ist, das sich anfänglich nur in seiner materiellen Isoliertheit vom Geiste Gottes bis zu einem gewissen Punkt selber gestalten kann, nach welchem es erst fähig ist, ohne Verlust der eigenen Identität mit den Zielen Gottes eins zu werden.

Natürlich sind wir bei dieser Betrachtungsweise beim Glauben angelangt. Aber ist es denn anderseits nicht auch vor allem nur der verschiedenartige Glaube, was wirklich gut sei, der uns Menschen auf so verschiedene Weise zu erziehen gewillt macht. Denn "Ansichten" sind immer zugleich auch glaubensvolle Annahmen, dass wir etwas richtig sehen und beurteilen können. Je nach Standpunkt erscheint dem einen etwas gross, das dem andern unbedeutend und gering vorkommt. Welcher Standpunkt ist aber zur Beurteilung einer Gegebenheit der richtige? Jeder glaubt, der seine! Ohne Glauben kann darum niemand leben!!! Auch der Wissenschafter glaubt, dass er seine Fragen richtig gestellt hat. Das beweisen die jeweils späteren Erkenntnisse über ein Wissensgebiet, die laufend frühere Erkenntnisse korrigieren müssen. – Obwohl sich dann wieder einige über alle Zeit hinaus als tatsächlich und darum als richtig erwiesen haben, wie zum Beispiel die Tatsache, dass die Erde um die Sonne kreist und sich dabei erst noch um ihre eigene Achse dreht. Aber das macht ja eben der Glaube aus, dass er etwas nur so lange als richtig annehmen darf, bis ihm aus der Anwendung seines Glaubens Schwierigkeiten erwachsen, die ihn an der Richtigkeit seines bisherigen Glaubens Zweifel aufkommen lassen, die ihn vor die Entscheidung stellen, seinen bisherigen Glauben durch eine erweiterte Sicht der Dinge zu vervollständigen oder aber, durch das Erkennen eines Fehlers in seinen bisherigen Annahmen, einen neuen, besseren Glauben anzunehmen, welcher den neuen Erscheinungen oder Erkenntnissen eher entspricht. Darin liegt ja der Sinn eines lichtvollen Glaubens, dass er durch die Praxis stets vervollkommnet oder berichtigt werden soll. Denn Glaube ist stets eine Sichtweise, eine Ansicht der Dinge und Verhältnisse. Und das immer klarere Sehen ist die Folge vieler Erfahrungen aus der Anwendung unseres Glaubens, die unsere bisherige Sicht der Dinge zu korrigieren imstande sind. Das sind sie aber nur, wenn wir keinen starren Glauben haben, etwa so, wie ihn der Arzt Dr. Emil Theodor Kocher in Bern  (1841 - 1917) gehabt hatte, der allen seinen Kropfpatienten als erster Arzt die Schilddrüse völlig entfernte, weil er in der ersten Zeit danach sah und darum auch glaubte, dass der Mensch auch ohne sie leben kann. Auch er glaubte, die Verhältnisse richtig zu erkennen, obwohl er von andern Ärzten gewarnt wurde, dass die von ihm operierten Menschen alle zu Kretins wurden. Freilich hat er dann später, als er endlich zur Einsicht kam, dass er die Dinge und Verhältnisse, wie sie der Schöpfer im menschlichen Leib eingerichtet hat, völlig falsch und voreilig interpretiert hatte, alles versucht, diesen armen Menschen zu helfen, aber 'verdorben' blieben sie alle. Hätte es so vieler Opfer seiner "Kunst" bedurft, seine Ansicht, seinen Glauben und damit sein Verständnis für die Verhältnisse des Lebens zu korrigieren und zu reformieren, wenn sein Glaube an seine Beurteilungsfähigkeit nicht gar so stur und starr gewesen wäre? Damit soll nur dargetan werden, dass sich im ferneren Verlauf unserer Betrachtungen niemand stossen solle weder am Glauben einerseits noch anderseits an der Situation des Glaubenmüssens bei allen menschlichen Ansichten und den daraus sich ergebenden Handlungen. Nur die Sturheit ist in Glaubenssachen einem Fortschritt hinderlich; der Glaube selbst hingegen ist zu einem jeden Fortschritt notwendig, weil er alleine dem Menschen das Licht zu einer vorläufigen Beurteilung eines bestehenden Verhältnisses gibt. Denn wir alle sind unvollkommen und müssen uns selber vervollkommnen, und dazu ist immer ein Glaube notwendig, eben weil wir nur bruchstückhaft erkennen und nicht in Vollkommenheit alles überblicken können. Vergegenwärtigen wir unsere diesbezügliche Situation an den Verhältnissen eines Kindes: Schon das kleinste Kind muss vorerst glauben, dass seine Erzieher Recht haben, dass sie die Dinge und Verhältnisse richtig sehen und auch richtig beurteilen, weil ihm die Fähigkeit noch mangelt, zu prüfen, was es glauben und von seinen Eltern und Lehrern als richtig annehmen soll und auch, weil seine Eltern, zumindest zu Beginn seines erwachenden Verständnisses, in praktischen Dingen zumeist auch immer recht haben werden.

Wenn wir also davon ausgehen, dass eine jede geordnete und sich gleich bleibende Erscheinung, dass ein jedes Lebewesen einen Grund haben muss und diesen Grund als "Geist" definieren – und nicht als eine stumme Naturkraft –, weil nur ein Geist planvoll wirken kann und Pläne sowohl erstellen als dann auch nach ihnen tätig sein kann, so sind wir zwar mit dieser Annahme auf unsern Glauben angewiesen, aber immerhin nicht in einem grösseren Masse, als ein Wissenschafter auf seinen Glauben angewiesen ist, dass er seine Fragen richtig gestellt hat, sodass er die Resultate seiner Forschung dann auch richtig zu interpretieren versteht. Denn durch unsere Feststellung, dass nur der Geist planen kann, nicht jedoch eine stumme physikalische Naturkraft, haben wir durchaus etwas Vernünftiges und Einleuchtendes angenommen. Denn blosse Naturkräfte, wie Wind und Wetter oder Zentrifugal- und Zentripetalkraft oder die freie Elektrizität und der Magnetismus, haben noch niemals ein planvolles System entwickelt. Aber der menschliche Geist kann sich alle diese Kräfte in einem so hohen Grade dienstbar machen, dass er alle seine Pläne mit ihnen verwirklichen kann, sogar jene, die Erde zu verlassen und ins All zu fliegen. Damit ist doch klar genug dargetan, dass alles systematisch Geordnete und Wiederkehrende einen Plan, und ein Plan einen Geist zur Voraussetzung hat!

Und darum fassen wir einmal den Sinn vernünftigen Erziehens dahingehend zusammen, dass dieser in einem nach und nach Tauglicherwerden des Zöglings für das Erkennen des grossen Planes besteht, der allem Erscheinlichen zu Grunde liegt, und der nur von einem Geist – niemals jedoch von der Materie an sich – entworfen worden sein kann, sosehr die Materie stärker als unser noch sehr schwacher Geist zu sein scheint! Und doch ist es der menschliche Geist, der die ihn himmel-hoch überragenden Naturkräfte sich in allerlei Maschinen und Vorrichtungen dienstbar gemacht hat. Zudem wissen wir heute genau, dass nur die Elektrizität und der Magnetismus als Kräfte das Bestehen der Materie überhaupt erst ermöglichen; aber eben erst durch einen geistreichen, sinnvollen Plan.

Eine ebensolche Kraft – in zwei Erscheinungsformen – liegt auch im Wesen eines jeden Menschen. Es ist die Kraft seiner Liebe, die alles ihr angenehme, sie Ergänzende, anzieht wie ein Magnet das ihm verwandte, aber in seiner magnetischen Ordnung noch nicht festgelegte Eisen, die aber anderseits auch alles ihr Widrige abstösst, wie ein Magnet den ihm zu gleichartig agierenden Pol eines andern Magnetes. Denn wo zwei geben wollen, fehlt ein Empfänger und wo zwei nehmen wollen, fehlt ein Geber, darum ergänzen sich nur Gebende und Nehmende. Also sucht auch die Liebe nach dem ihr Fehlenden einerseits und sucht anderseits ihre Fülle loszuwerden. Darum ist es falsch, einem Kinde etwas mit Gewalt oder Zwang beibringen zu wollen. Denn alles, was es nicht aus einem Bedürfnis heraus selber an sich zieht und an sich bindet, das stösst es als ein ihm und seinem Wesen Fremdes nach dem Aufhören des Zwanges sofort wieder von sich. Nur was ein Kind mit seiner Liebe ergreift, wird zu dem Seinen, das ihm bleibt, wenigstens dann, wenn sich nicht negative Folgen aus einer solchen Vereinigung zeigen. Das ergibt sich eben aus dem Bedürfnis nach einem ihm Fehlenden, aber seinem Wesen dennoch Verwandten. Darum ist es eine gute Erziehungsmethode, in einem Kinde einerseits Bedürfnisse nach Gutem und dem Allgemeinen Dienendem zu erwecken und anderseits unzeitige und zum innern, geistigen Leben unpraktische Bedürfnisse zu ersticken suchen durch das Erfahrenlassen (und eventuell Herbeiführen) einer möglichst baldigen negativen Folge einer zu heftigen Befriedigung irgendeines zum Leben unpraktischen Bedürfnisses. Wohl ist im Grunde genommen die Lehre oder – mit andern Worten – eine Beleuchtung der Verhältnisse der vorzüglichste Weg zur Regelung der verschiedenen Bedürfnisse. Aber in frühen Kinderjahren, in welchen der Zug der Liebekraft für eine verständnisvolle Regelung noch zu ungestüm und zu heftig ist, bleibt eben doch nur das Erfahrenlassen und die Erfahrung, als eine direkt wirkende Gegenkraft als Möglichkeit der Korrektur übrig. Wird diese Erfahrung dann vom Erzieher nachträglich, aber nur so wie nebenbei, als die Folge einer zu einseitigen und unzeitigen Willensäusserung der Liebe beleuchtet, so erweckt er damit im Kinde zusätzlich auch ein Bedürfnis nach Licht – nach Beleuchtung aller obwaltenden Umstände. Und dieses Bedürfnis ist dann schon ein Suchen und Sehnen nach dem ihm bis jetzt noch fremden, aber seinem Wesen dienenden Geiste, der sich in einem kleinen Kinde anfänglich noch wie ruhend oder schlafend verhält. Anfänglich allerdings, bei noch zu einseitig veranlagten, und darum blinden oder stummen Bedürfnissen reicht das Licht nicht aus, eine Situation zu erfassen. Denn die Liebe oder Wärme oder gar das Erbrennen für etwas ist anfänglich stärker als alles Erkennen und Verstehen, genauso wie ein jedes Feuer zuerst nur heiss und sengend ist, bevor es dann in seinem Vollbrande auch ein genügend helles Licht zu verbreiten beginnt. Süchtige aller Art beweisen das, indem sie – trotz aller Klarheit über Wesen und Folgen ihrer Sucht – süchtig bleiben, das heisst: ihr Bedürfnis mehr spüren als die Orientierung über alle Folgen ihrer Sucht.

In solchen Fällen ist es das Beste, andere Bedürfnisse wecken oder beleben, dann aber auch erfüllen zu können, welche dem vorherrschenden und zu einseitig empfundenen zuwider laufen.

So haben zum Beispiel viele Trunksüchtige nur einen einzigen vor-herrschenden Wunsch: Den Wunsch nach Anerkennung und Verbundenheit mit andern. Fast niemand will aber eine solch übermässige Bindung, und die Anerkennung der Schwachheit (auch vor allem in sich selbst) sowie eine Hinwendung zum Schwachen, um ihn zu stärken, ist ebenfalls nicht ein vorherrschend menschlicher Zug der Allgemeinheit. Folglich bleibt ein solcherart Bedürftiger mit seinem Bedürfnisse alleine und darum unbefriedigt. Im Alkoholkonsum, besonders unter Gleichartigen, gibt es jedoch – wenn auch nur scheinbar und zeitweilig – eine solche Befriedigung dieses Urbedürfnisses.

Würde man – so man es könnte – mit einem aus einem solchen Grunde Trunksüchtigen in einem oder besser mehreren, ganz ungezwungenen Gesprächen, vielleicht über eigene Schwächen ganz unvermerkt seine eigenen innern Bedürfnisse beleuchten und über die möglichen Arten ihrer sinnvollen Erfüllung zu sprechen kommen, so gelänge es mit der Zeit, im Trunksüchtigen ein stärkeres Bedürfnis nach Licht über die innern Bestrebungen seiner Liebekraft zu erwecken. Dieses Bedürfnis würde dann bei genügender, aber nur etappenweiser Sättigung zu wachsen beginnen und durch die stete, aber nie ganz vollständige Befriedigung stets vehementer wirksam werden, bis es zu einer gewissen Selbständigkeit erstarken würde, aus welcher es dann die niedrigere Form seiner Erfüllung verabscheuen, weil als untauglich und un-brauchbar erkennen würde, und so dergestalt über die frühere, bloss sinnlich materielle Richtung seiner Befriedigung hinauswachsen würde.

Aus diesem Beispiel ersehen wir, dass in den Bedürfnissen des Menschen – und besonders des in seiner Schwachheit ohnehin in allem bedürftigen Kinde – selber der Zug zu einem Ziele hin vorhanden ist. Wir müssen es also im Allgemeinen nicht selber ziehen, sondern nur über seine eigenen Züge wachen, sie beurteilen nach dem Wert und dem Plan für das Ganze, und sie dementsprechend entweder fördern oder dämpfen, oder mit andern Worten: regulieren. Wie das im Einzelnen geschehen kann, das soll am Beispiel einer Möglichkeit von vielen gezeigt werden:

Ein Kind will etwas erfahren und erleben. Dieses Verlangen oder Bedürfnis zieht es mit all seinen Sinnen hinaus in die Welt, die Welt der Erscheinungen. Und darin verliert sich nicht nur ein Kind, sondern auch ein so mancher kindlich schwach gebliebener erwachsener Mensch – nicht erst seit es Zeitschriften, Film und Fernsehen gibt, aber seither umso mehr!! Denn die äussern Erscheinungen schlagen das kindliche, aber auch das kindlich schwach gebliebene Gemüt eines Erwachsenen, oft breit und schwächen damit seine innere Kraft der Beleuchtung oder gewissermassen sein Ordnungsvermögen, das heisst mit andern Worten: sie schwächen die Kraft seines Verstehens. Wohl verspürt ein Kind auch darin ein sehr starkes Bedürfnis, das Erlebte zu verstehen und zu ordnen. Aber weil es bei dieser notwendigen ordnenden Beschäftigung von seinem Erzieher nur selten unterstützt wird, verliert sich dieses Bedürfnis, während das andere Bedürfnis – die Neugierde – stets Neues über das dadurch zu verkümmern drohende aber dem innern Leben des Geistes so notwendige Urbedürfnis nach Ordnung häuft. Und so wird dann das bloss seelisch sinnliche Bedürfnis – eben die Neugierde – endlich zum einzigen Grundbedürfnis, das einen Menschen natürlich so einseitig werden lässt, dass er sein Gleichgewicht entweder verliert, oder es aber durch eigenes stetiges Neuschaffen ohne Ziel und Mass aufrecht zu erhalten bestrebt wird. Allerdings verliert ein Mensch dabei so oder so jede Verbindung mit seinem Urgrunde oder zu dem seinem Wesen zu Grunde gelegten Plan. Denn der Plan seines Wesens ist die Gottähnlichkeit, und sein eigenes Wesen ist Geist – aus dem Geiste Gottes stammend. Und der Geist alleine ist eine bleibende, schaffende Kraft, nicht jedoch dasjenige, das er für die Zeit erschaffen hat (die Materie und ihre Einrichtungen). Demzufolge hören beim leiblichen Tode alle äusseren Erscheinungen und Einwirkungen und damit auch alles einen solchen Menschen Erfüllende auf. In der Folge bleibt sein bisheriges Bedürfnis nach Fremdem, ihn seiner Meinung nach erfüllen Sollenden, für alle Zukunft unerfüllt, was mit dem Erleiden des innern Todes gleich-gesetzt werden kann, weil sein Geist durch Äusseres nicht mehr geweckt werden kann und darum keinen Sinn mehr sieht, zu erstarken und sich an ihm Widerstrebenden zu ertüchtigen. Denn der erschaffene Mensch muss durch die Lebendigwerdung seines innern Geistes erst zu einem selber wollenden, ungeschaffenen Wesen werden (Wiedergeburt), sofern er nicht als Erschaffenes zurücksinken will in bloss vergängliche Erscheinlichkeit ohne eigene Kraft.

Menschen, welche sich das Bedürfnis des Verstehens (welches eine Liebe und damit ein Verbindungsbedürfnis zum Wesen anstatt bloss zur Erscheinung ist) neben allem andern doch noch erhalten haben, haben es in dieser materiellen Welt der Erscheinungen zwar sehr schwer, haben jedoch nach ihrem Hinschied immerhin die Möglichkeit, in ihrem Verständnis für den Sinn des Ganzen zu erstarken und dabei in sich selber Zugang zu andern – auch zu ihrem Urgrund, zu ihrem Schöpfer – zu finden, eben weil sie alle in ihrem Gemüte noch vorhanden sind und wieder verstärkt hervortreten, wenn dem bisher vorherrschenden Bedürfnis nach Neuigkeiten – durch den leiblichen Tod bedingt – nichts Befriedigendes mehr geboten wird. Menschen hingegen, die während ihres irdischen Lebens ein solches Bedürfnis nach Verstehen – eine solche Liebe zum Wesen, anstatt zu den blossen Erscheinungen – nicht mehr in sich forterhalten, haben selten Schwierigkeiten in dieser Welt, sind aber jenseits in einem todesähnlichen Zustand, weil sie dort nichts Fremdes mehr beleben kann und Eigenes, andern Dienendes und damit Erhaltendes, nicht mehr oder nur noch rudimentär vorhanden ist.

Wie also müssen wir bei einem Kinde vorgehen, damit all seine Bedürfnisse in einem rechten Verhältnis zueinander sich entwickeln können? Unter den vielfachen Bedürfnissen der Kinder sind immer einige hervorragend. Bei vielen ist es das Bedürfnis nach leiblicher Bewegung. Bei andern – wie schon erwähnt – die Freude am Sinnenreiz, sei er physikalisch, also Freude am Empfinden der Schnelligkeit, der Zentrifugalkraft (beim Reitseilen oder Sich-Drehen), der Kühle oder der Wärme oder anderen Empfindungen der Haut wie: Streicheln und Kosen. Diese zweitgenannten Bedürfnisse nach einem Sinnenreiz sollten in keinem Falle unterstützt werden, weil ihre Befriedigung die Seele in die Materie ihres Leibes – der vergänglich ist – hinauszieht, ohne dabei etwas Erspriessliches für das innere Leben des Geistes tun zu können. Das Bedürfnis nach Formen, Farben und Tönen hingegen ist ein schöpferisches Bedürfnis, das dem Geiste innewohnt, der nach den Gründen und Zusammenhängen der dabei erlebten Empfindungen sucht und dann wieder nach einer noch klareren Ausdrucksmöglichkeit des dabei innerlich Erlebten. Allerdings kann auch dieses Bedürfnis nach Formen, Farben und Tönen bloss seiner selbst willen befriedigt werden und gleitet damit ins bloss Sinnliche und damit ins Seelische hinab, wie anderseits auch das zuvor erwähnte Bedürfnis nach leiblicher Bewegung den Menschen, oder besser: seine Seele, in die bloss leiblich-sinnliche Sphäre hinabziehen kann. Darum ist dort – beim Bewegungsbedürfnis – zu achten, dass man es immer nur bei Betätigungen zu Gunsten etwas Gutem oder zu Gunsten eines Andern gelten lässt, unterstützt oder gar fördert, und niemals in Verbindung mit einer Auszeichnung einer gewissen Leistung (Wettbewerb: der Schnellste, der Kräftigste etc.). Denn damit brächten wir die Seele nicht nur zu einer allzu innigen Verbindung mit ihrem Leib, dem verweslichen Fleisch, sondern auch in Verbindung mit dem Verderblichsten, nämlich zu einem ohne jeden vernünftigen Grund aufwallenden Selbstgefühl. Denn dieses Selbstgefühl ist es, das einen Menschen für sich selbst genügen lässt: Es ist ihm wichtig, der Beste (in was immer) zu sein, ohne jeden Sinn und Nutzen für das Ganze, für den Nächsten, für seine Umgebung, seine Familie etc. – und damit ist er nicht nur isoliert, sondern bleibt es auch dann, wenn er eigentlich Hilfe bräuchte, weil er seine Not oder sein Versagen niemals zugeben kann.

Auch in einem Bedürfnis nach Konstruktionen (Bauklötze, Lego-Bausteine oder die früheren Metallbau-Sätze etc.) kann eine gewisse Rekordsucht versteckt sein oder sich entwickeln, oder sie schüren oder gar erst injizieren, sofern die Erzieher solche Konstruktionen lobend bewundern anstatt zu versuchen, sich mehr über die Zweckmässigkeit des Erbauten in laut ausgesprochenen Gedanken zu beschäftigen, damit das Kind merken kann, dass alles Gute nach seiner Zweckmässigkeit und sinnvollen Verwendbarkeit geprüft wird – und nicht nach der darin investierten Leistung. Solcherart erzogene Kinder werden später auch bei den alltäglichsten Dingen, wie zum Beispiel bei Kleidungsstücken, nur auf die Zweckmässigkeit – zu der allerdings auch eine gewisse Gefälligkeit gehören mag – achten, und niemals auf eine darin investierte (finanzielle) Leistungsquote, so wie sie etwa bei den Markenartikeln nach der Meinung ihrer Träger für andere zum Ausdruck gebracht werden soll.

Die schlichte Zweckmässigkeit spricht sich immer und überall als einen Dienst am Guten aus, weil alles, was nicht ausschliesslich einem vernünftigen und sinnvollen Zweck zu dienen vermag, einer Sache unangemessen ist und darum bloss dem Selbstbewusstsein oder dann dem blossen Sinnenreiz eines Menschen dienen kann. Gerade bei Konstruktionen und Bauten sowie bei Kleidern ist oft das letztere Motiv – Selbstbewusstsein und Sinnenreiz – ein Bedürfnisgrund zur Herstellung oder zum Erwerb oder zu irgendeiner Handlungsweise. Wir sollten aber Bedürfnisse nur dann befriedigen, oder unsere Kinder befriedigen lassen, wenn sie dem Allgemeinen und dem Ganzen dienen. Denn ein jedes ursprüngliche und nicht durch andere Absichten hergeleitete Bedürfnis ist eine Gabe, die dem Menschen zur Entwicklung seiner Fähigkeiten in die Wiege mitgegeben wurde, und ist daher eine Gabe des Geistes, von jenem Geiste herkommend, der den Menschen erschaffen hat – und ist nicht etwa eine Eigenheit seiner selbst. Es soll daher seine Befriedigung auch nie zur Erhöhung, und damit verbunden zur Isolation des eigenen Selbst von seinem Grunde, dienen, sondern nur der Ertüchtigung und Vervollkommnung des Talentes und in diesem Zustand dann auch der Allgemeinheit – oder Gott, als dem Grunde alles Seins der über das Wohl seiner ganzen Schöpfung wacht. Es darf darum die mehr oder weniger starke Ausprägung eines Bedürfnisses, sowie auch seiner Befriedigung vom Erzieher auch niemals als eine Auszeichnung, sondern nur als eine gute Möglichkeit zur Nutzwirkung zu Gunsten der andern oder des Ganzen angesehen, und dem Fähigen auch nur so gedeutet werden.

Auch bei dem Bedürfnis nach Formen, Farben und Tönen ist darauf zu achten, dass sie nicht mit bloss sinnlichem Genuss befriedigt werden – wie vorher schon festgehalten wurde. Auch sie sollen möglichst dazu gebraucht werden, andern zu dienen, andere zu erfreuen, und weniger dazu, lediglich etwas Eigenes auszusagen. Denn wer sie dazu benutzt, der nimmt sich in und mit seinen steten Aussagen gefangen. Nicht, dass das Ausdrücken innerster Gefühle an sich etwas Schlechtes ist; ist es doch ein Mittel der Verständigung, das oft viel weiter als Worte geht, das allerdings gerade auch deshalb – weil es tiefer als Worte geht – von vielen nicht verstanden wird, meistens von jenen, die bei Vorkommnissen dieser Welt in ihren Gefühlen weniger angesprochen werden als in ihrem Intellekt. Intellektuelle denken in reduzierten Begriffen, die eher den Zahlen als den Lebenszuständen entsprechen. Es sind Menschen, die durch Feststellungen äusserer Gegebenheiten und Überlegung zu ihren Handlungsgrundlagen finden und deshalb ihre Nützlichkeit in der Planung und Regulierung äusserer Abläufe finden können, jedoch innere Probleme, Hindernisse und Abgründe in andern Menschen nicht ganz nachvollziehen können. Denn zu solchen innern Problemen, Hindernissen und Abgründen kommen vor allem stark beeindruckbare Menschen, weil die jeweils zu heftigen Eindrücke sie derart überrumpeln können, dass sie dadurch gehemmt werden, etwas dagegen zu tun, sie zu analysieren und sie damit von grösserer Distanz her überblicken zu können. Es ist ratsam, solchen Menschen, und besonders Kindern, dort zu helfen, wo ihr eigentliches Problem liegt, nämlich bei einem zu grossen und vor allem zu isolierten Eindruck irgendeiner Empfindung. Und dazu eignet sich die Beschäftigung mit Formen, Farben und Tönen, weil diese Eindrücke zwar ebenfalls Gefühle erzeugen, jedoch nicht in so vorherrschender Absolutheit wie äussere, weltliche Begebenheiten, wie zum Beispiel eine Feuersbrunst, ein Unfall oder ein plötzlicher Todesfall oder aber andauernde einengende Verhältnisse zu andern, nahe stehenden Menschen. Sobald man sich mit Formen, Farben und Tönen eingehender beschäftigt, können diese nämlich während der Zeit solch eingehender Beschäftigung mit ihnen ähnlich stark auf das Gemüt wirken wie die vorher erwähnten weltlichen Begebenheiten, bleiben aber durch die gewollte Beschäftigung mit ihnen bloss auf die Zeit solcher Beschäftigung beschränkt und sind daher ein Übungsfeld für Seele und Geist.

Wenn wir beispielsweise eine rot eingefärbte Fläche betrachten, so beginnt diese in uns über Gefühle wirksam zu werden. Dem einen in angenehmer Weise, einem andern in unangenehmer Weise. Es wirft sich dabei nicht nur die Frage auf, wieso das so ist, sondern auch die Frage, wie ein solcher Eindruck unter Belassung der Farbe geändert werden könnte. Beim Versuchen, diese Frage zu beantworten, könnten einige der Betrachter einer solch rot eingefärbten Fläche feststellen, dass eine Minderung der Farbwirkung – zum Beispiel durch das Überdecken der Fläche mit einer nur halbwegs durchsichtigen Folie – den für sie anfänglich eher aggressiv und unangenehm empfundenen Eindruck nicht etwa bloss abschwächt, sondern ihn geradezu als angenehm und wohltuend ausgleichend empfinden lässt. Wieder andere Betrachter empfinden denselben Vorgang der Abschwächung der ursprünglichen Farbe als ein Lauer-Werden, empfinden ihn also eher als abwertend. Wieder andere beginnen zu erkennen, dass ihnen eine mehr oder auch nur weniger rot gefärbte Fläche zu betrachten überhaupt nicht angenehm ist. Und dennoch könnten solche dann eine weisse Fläche als besonders angenehm empfinden, wenn sie nur einen schwachen Widerschein einer benachbarten oder gegenüberliegenden roten Fläche aufweisen würde, sodass sie oberflächlich betrachtet noch stets als "weiss" empfunden wird. Wieder andere ertrügen das Rot nur nicht als Fläche, wohl aber in oder an begrenzten Formen. Andere ertrügen es gut, wenn es nicht alleine, also absolut, sondern mit andern Farben umgeben ist. Dieselbe Verschiedenheit der Empfindungen verschiedener Menschen können wir bei allen Farben feststellen. Dabei geschähe es beispielsweise, dass Personen, die eine rote Fläche nur schlecht ertragen, bei verschiedenen blauen Flächen nur jene bevorzugen würden, welche warm wirken, weil sie mit ganz wenig Rot durchmengt sind. Solche brauchen zu ihrem Wohlbefinden also gleichwohl jenes Rot, das sie im reinen, absolut roten Zustand nicht gut oder gar nicht ertragen. Im absoluten oder reinen Blau jedoch beginnen sie es richtiggehend zu vermissen und zu suchen, ohne sich vielleicht bewusst zu werden, was der Grund dafür ist, dass ihnen das eine Blau so viel mehr gibt als andere (reinere).

Schon bei diesen wenigen Gedanken verspüren wir einerseits, wie stark und intensiv, ja wie unaufhaltsam Farben zu uns sprechen können – im Gegensatz zu blossen Worten. Und wir beginnen zu verstehen, weshalb stark ansprechbare Menschen einem solchen Druck erlegen sein können, wenn er stetig wirkt; wir verspüren jedoch anderseits auch, wie subtil der Mechanismus des Ausgleichens sein kann – und in seiner Anwendung auch sein muss. Ist er bei den Farben nicht ähnlich subtil wie bei der Medizin, wo auch ein und dasselbe Mittel einmal zum Ziel (der Gesundung) führt, ein andermal fast ohne Wirkung bleibt und ein weiteres Mal gar zu einer Katastrophe führen kann. Darum haben wir diese Bedürfnisse (nach Form, Farbe und Tönen) vorher einmal als ein schöpferisches Bedürfnis bezeichnet, das eher dem Geiste als der Seele innewohnt. Und dabei ist noch zu vermerken, dass ausgerechnet der Geist der einzige Erzieher einer Seele ist. Er alleine "wittert" die wahrhaften, weil grundsätzlichen und darum ewigen Verhältnisse, die sich hinter einem jeden seelischen oder gar materiellen Verhältnis finden lassen. Das reine, unbestechlich ruhige und darum kalte Blau entspricht der Weisheit, die sich nicht erregen lässt, die nur erkennt, während das reine Rot erregend wirkt, ja in einer Fläche gar beunruhigend und sich ballend zu empfinden ist. Es entspricht der Kraft der Liebe, die sich ebenfalls so stark an etwas binden oder um etwas ballen kann, dass es für Vernünftige kaum für möglich gehalten werden kann, sodass sie es als eine Narrheit empfinden.

Menschen, welche alle Eindrücke sehr stark empfinden, ohne dass sie eine Freude oder gar eine sie belebende Liebe zum Grunde solcher Kräfte und ihren Wirkungen haben, erliegen dem (bleibenden) Druck, welche von solchen in ihrem tiefern Grunde nicht erkannten Eindrücken herrühren. Würde ihr Geist wach sein, so erkenneten sie leicht, dass alle äussern Kräfte (auch Farbkräfte) zu einem Ausgleich mit der eigenen, innern (geistigen) Kraft auffordern, aus welcher Wechselwirkung die Seele dann erst erwachen, belebt und bereichert und vervollständigt werden kann. Ohne ein solches geistiges Wirken und Leben jedoch erlahmt und verkümmert die Seele, indem sie aufnimmt, ohne Nutzen daraus zu ziehen, und dadurch den aufgenommenen Eindrücken erlegen ist – gleichgültig, ob sie sich ihnen gefügig erweisen muss, und dabei materiell, grob und eigenliebig wird, oder ob sie sich ihnen verneinend zu entziehen sucht und dabei innerlich erstarrt.

Das alles empfinden auch Kinder – allerdings nur jene in augenfälliger Form, die sehr ansprechbare Seelen haben. Ihnen müssen wir helfen, mit dem Erkennen des Wesens solcher Bedürfnisse etwas Ausgleichendes, etwas allen Dienendes und damit etwas Gutes und Nützliches zu bewerkstelligen.

Dasselbe gilt auch von den Formen und Tönen. Je runder (abgerundeter), gefälliger und ineinander fliessender Formen und Töne sind, desto beruhigender und entspannender wirken sie, und je eckiger (bei Tönen: abgesetzter, abgehackter), je ausgeprägter und unausgewogener Formen und Töne sind, desto mehr erregen sie den sie Aufnehmenden, desto mehr überwiegen sie auch die innern Ausgleichsmöglichkeiten des menschlichen Gemütes. Weniger ausgeprägte Formen und weniger abgesetzte Töne jedoch bewegen und ermuntern gar – je nach Gemütstärke – das menschliche Gemüt zum Einschwingen oder gar zum Verbessern und Nuancieren. Auch Formen und Töne sprechen das empfängliche kindliche Gemüt ungleich stärker an als den an sie gewohnten Erwachsenen. Allerdings gibt es Unterschiede des Ansprechbarkeitsgrades eines Gemütes für diese drei Eindrucksmöglichkeiten: Farben, Formen und Töne. Allen aber ist eine Unmittelbarkeit ihrer Einflussmöglichkeit ins menschliche Gemüt gemeinsam, welche von Worten nie erreicht wird, weil diese nur indirekt – über den Verstand – ins Gemüt einfliessen können und darum auch nur nach dem Grad des Verstehens zu wirken beginnen. Was aber verstanden wird, zu dem können wir in unserm Urteil Stellung nehmen, es entweder annehmen oder ablehnen. Nach einer solchen Stellungnahme sind für uns die Verhältnisse wieder klar. Sie beschäftigen uns nicht mehr. Sie gleichen dem Resultat einer Rechnung, während uns unverstanden Gefühltes so lange beschäftigt, bis wir es erfassen können. Bis zum endgültigen Erfassen können wir seinen Grund nur erahnen. Und diese Ahnung hält uns in unserem Gemüte wach und macht uns hoffnungsfroh, einmal vom Grunde und der Tiefe aus alles besser beurteilen zu können. Solche Ahnungen lassen unser Gemüt jung und empfänglich bleiben, während uns der ausgeprägte Verstand eingebildet und schläfrig werden lässt – keine innerlichen Bedürfnisse mehr fühlen lässt, weil er das empfängliche Gemüt eher erhärtet als belebt.

Wenn wir also Kinder dadurch erziehen wollen, dass wir hauptsächlich ihre Bedürfnisse regulieren und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse hauptsächlich unter den Gesichtspunkt der Nützlichkeit und des Ausgleiches mit den andern, oder dem Ganzen, stellen, so ergeben sich schon bei den frühesten Anfängen Möglichkeiten unseres Eingreifens. Beispielsweise verlangen wir von kleinen Kindern beim Ausmalen von Bildern in Malbüchern anfänglich nur eine gewisse Sorgfalt (weil nur sorgfältiges Anmalen die ursprünglichen Bilder nicht entwertet, und weil die Kinder ja mit ihrer Beschäftigung die Dinge stets verbessern oder bereichern sollen, und nie etwa entwerten. Dabei helfen die in solchen Malbüchern üblich dicken, schwarzen Begrenzungslinien der verschiedenen Gegenstände und Figuren die etwas unterschiedlich ausfallenden Endpunkte der einzelnen Mal- oder Farbstriche etwas zu verbergen, sodass sie einerseits weniger stören und sich die Kinder anderseits mehr auf die Gleichmässigkeit von Druck und Verteilung der einzeln ausgeführten Farbstiftstriche konzentrieren können. Wir zeigen und erklären ihnen, dass jeder Strich eine Begrenzungslinie oder eine Teilungslinie der zu bemalenden Fläche ist, und dass wir darum alle Striche möglichst gleich stark und möglichst satt nebeneinander ausführen müssen, damit wir eine ganze Fläche nicht teilen, sondern ausfüllen – erfüllen. Natürlich können die Kinder das anfangs nicht, aber sie werden doch auf die Wirkung und die Folgen ihres mehr oder weniger sorgfältigen Tuns aufmerksam gemacht.


bild


Bei der Farbwahl suchen wir zu erkennen, ob die Farben zufällig und darum mehr oder weniger gleichgültig gewählt werden. Werden sie eher gleichgültig gewählt, so dringen wir eher auf eine exakte Ausführung, um "dem Bild nicht zu schaden" (Nützlichkeit allen Tuns), wie wir dem Kinde erklären. Wird die Farbe hingegen bewusst gewählt und werden dabei gewisse Farben bevorzugt, so erkennen wir daraus leicht eine innere Neigung, ohne zunächst wissen zu können, welchen Eigenschaften der seelischen Veranlagung diese Bevorzugung entspricht. Aber wir können dem Kinde zu zeigen versuchen, mit welchen Farben man eine Ergänzung zu andern herbeiführen kann, und wir spüren dabei, ob das Kind dafür empfänglich ist, oder eher auf der Einseitigkeit einer Farbgebung beharrt. Vielfach werden bei gewollter Farbgebung zuerst die dem Kinde nahe stehenden Farben gewählt und deshalb jene Flächen zuerst ausgemalt, welche für eine solche Farbe geeignet sind (zum Beispiel Kleidungsstücke).

Zu späterer Zeit erkennen wir, für welche Sujets sich das Kind zu interessieren beginnt. Sind es möglichst naturnahe, oder möglichst kindlich fantasievoll ausgedrückte Formen? Bei der Wahl möglichst naturnahen Formen achten wir dann eher auf eine korrekte Farbgebung. Bei der Wahl möglichst fantasievoller Formen oder bei Kleidern achten wir eher auf den Ausgleich und die Gesamtheit der Farbenvielfalt – ohne jedoch das Kind in irgendeiner Weise oder in irgendeine Richtung zu drängen, es aber fragend, ob es nicht diese oder jene Farbe auch einmal in einem neuen Bilde verwenden will. Aus der Antwort erkennen wir dann inwieweit es innerlich auf Farben festgelegt ist, oder mit andern Worten auch, ob wir seine Aufmerksamkeit auch auf weitere Möglichkeiten lenken sollen, oder nicht. So beschränkt eine Farbwahl anfänglich auch sein kann, so liegt in dieser Beschränktheit doch auch eine gewisse Beständigkeit in der Empfindung von Eindrücken und damit eine eher fest gefügte Grundlage der weitern innern Entwicklung, die freilich am Ende denn doch aufgelockert werden sollte, wollen wir die Entwicklung eines Kindes nicht allzu einseitig fördern, die aber anderseits ein allzu rasches Nachaussen-Kehren der kindlichen Aufmerksamkeit verhindert und damit eine aus dem innern kommende Entwicklung ermöglicht, die allemal besser ist als eine von aussen her kommende. Denn am Ende (des irdischen Lebens) bleibt ohnehin nur der innere Reichtum für eine gedeihliche weitere Entwicklung im Jenseitigen massgebend. Auch bei späteren grossen äusseren Erschütterungen des Gemütes spielt vor allem der innere Reichtum an Kraft und Erfahrung eine massgebliche Rolle für eine möglichst gute und sichere Überwindung, und weniger das von aussen über den Verstand Eingelernte.

Mit der Zeit und dem weitern Fortschreiten der innern Festigung eines Kindes wäre es gut und nützlich, Vorlagen zum Ausmalen zu verwenden, welche keine dicken und schwarzen, sondern nur hellgraue Begrenzungslinien aufweisen, damit das Kind selber mit der Farbe den sauberen Abschluss einer Fläche gestalten muss. Auch sollten die einzelnen auszumalenden Darstellungen oder Gegenstände durch eine Umgebungsandeutung eher fliessend miteinander verbunden sein, damit ein Herausstellen oder die Einzelstellung eines Subjektes vermieden wird. (Eine Malvorlage als solches ist zwar ein Objekt, wird jedoch durch die eingehende, mitfühlende Beschäftigung des Kindes mit ihr während der Bearbeitung mit Farbe zum Subjekt.) Dadurch erreichen wir zweierlei: Nämlich einerseits die Verbindung zwischen zwei verschiedenen, beim Ausmalen subjektiv gewordenen Objekten und das gefühlvolle farbliche Gestalten der in der Vorlage vorgegebenen Verbindungsart (Umgebung, Landschaft etc). Diese farbliche Bewältigung der Umgebung hilft dem Kinde, über sich hinaus zu fühlen und Einzelnes in ein Ganzes einzubinden, mit andern Worten: bewusst eine Atmosphäre zu schaffen, die dem Einzelnen gerecht wird (es weder stört noch einzelgestellt bleiben lässt).

bild bild

Anderseits bleibt eine solch verbindende Umgebungsgestaltung durch die Vielheit und ihre oftmalige Verschlungenheit der in einer solchen Umgebung enthaltenen Faktoren längere Zeit immer auch eine nicht ganz zu bewältigende Aufgabe. Sind nämlich die Einzelobjekte schon ausgemalt und damit auch mehr oder weniger gelungen, so bleibt dann immer noch eine zu bewältigende Aufgabe übrig, welche das Kind fühlen lässt, dass die Bewältigung des Einzelnen noch lange nicht jene befriedigende Folge hat, wie es erst ein Aufeinander-Eingehen in sich birgt – nämlich den alles einschliessenden Frieden, der alleine ein wahrer Friede ist, welcher im Leben überaus schwierig zu erreichen ist. Bei einer solchen, durch die Malvorlage angedeuteten Aufgabe lernt das Kind intuitiv, mit etwas zwar fertig zu sein, jedoch in der vollen Erkenntnis der blossen Vorläufigkeit – und damit kommt es weit weniger schnell zu einer Selbstzufriedenheit, die alles andere als dem Charakter förderlich ist. Vielmehr fördert diese Situation das stetige Bewusstsein, dass noch viel zu tun übrig bleibt, gleichgültig, ob es dann auch schon bald getan wird, oder nicht. Solch gefühlte Situationen – als eigentliche Erlebnisse – wirken besser und nachhaltiger auf das kindliche Gemüt als erzieherische Worte, weil sie im Gefühl verhaftet bleiben, während Worte bloss ins Gehirn aufgenommen werden, wo sie noch lange nicht mit dem Lebensgefühl verbunden sind, sondern lediglich zu einer eventuellen Möglichkeit dazu bereit liegen. Denn im Leben gibt es nichts Unpraktischeres als die Zufriedenheit mit Einzelerfolgen, welche die Menschen leicht überheblich werden lassen, wobei sie sich in einer gewissen Selbstzufriedenheit wiegen, die sie gleichzeitig faul werden lässt. Spitzensport ist eine derartig verkehrte Betätigungsart: Sie überhebt den Menschen weit über den Durchschnitt – aber lediglich in dieser einen Disziplin – und macht ihn damit für die Wahrnehmung vieler weiterer Aufgaben unempfänglich. Trotzdem sollen bei den vorgeschlagenen Malvorlagen einzelne Objekte gewichtiger dargestellt sein, damit mit ihrer Ausmalung denn doch wenigstens eine Etappe erreicht wird, die das Kind nach ihrer Bewältigung ruhen lassen kann, ohne dass es der noch nicht erfolgten Ergänzung wegen selbstzufrieden wird.

Auch Licht- und Schattenseiten (der Figuren, wie des Lebens) lassen sich mit einer hellen Vorlagenfarbe besser vorgestalten, wenn die Schattenseiten in der Vorlage mit hellgrauer Schraffur angedeutet werden, anstatt mit schwarzer, die nicht mehr mit Farbe überdeckt werden kann. Damit gewinnen wir die Gelegenheit, schon sieben- bis zehnjährige Kinder bei ihrer Malarbeit erleben zu lassen, wie sehr das Licht den Farbreiz und die "Farbenfreude" erhöht, und dass es immer der Schatten ist, der die schöne, helle und ansprechende Farbe etwas verdüstert. Wie leicht ist ihm anhand solcher Erfahrungserlebnisse begreiflich zu machen und zu erklären, dass auch im gemeinsamen Leben und in der gegenseitigen Beziehung nichts schwerer wiegt als die Schatten von Eigensinn und Kränkung, von Raffgier und Ehrsucht, weil alle diese Eigenschaften oder menschlichen Eigenheiten sich bloss auf das Eigene, das Ich, konzentrieren und damit ein Gemüt für das Licht weiterer Erkenntnisse undurchlässig werden lassen – und damit auch die Schaffens- und Lebenslust der übrigen Menschen dadurch verdunkeln, dass sie sie weder gelten lassen noch dankbar brauchen wollen.

Alle diese Überlegungen wären auch für Erwachsene selber einer würdigenden Betrachtung wert. Wie wenige sind es aber, die sich für so etwas interessieren?! Sie alle sind nicht in der Lage, andere irgendwohin zu ziehen, weil sie die verschiedenen Punkte in der eigenen Gemütslandschaft viel zu wenig erkennen und darum auch mit ihren Perspektiven nicht vertraut sind. Darum gehört zur Erziehung, dass wir – Erzieher – uns vor allem selber bewusst werden, wie wir etwas (das Leben anderer, sowie unser eigenes) gestalten wollen und warum. Alles nach aussen gekehrte Wesen nimmt den verschieden gefärbten Widerschein äusserer Verhältnisse viel zu gierig auf und verfälscht dadurch seine eigene Farbe oft bis zur Unkenntlichkeit. Die Folge davon ist, dass wir uns und unser Wesen selber nicht verstehen, dass wir keinen eigenen Grund, keine eigene Farbe und keinen eigenen Ton haben, im Vergleich zu welchem wir alle andern Farben, Formen und Töne beurteilen und ihre verschieden-artige Nützlichkeit erkennen könnten. Ein nach innen, in die eigenen Gefühle vertieftes Wesen hingegen, das bemüht ist, die verschiedenfarbigen Gemütslagen und ihre Herkunft oder ihren tiefern Grund zu erkennen, erkennt damit auch das Wesen aller andern, weil alle Menschen grundsätzlich dieselben Gemütseigenschaften in sich haben, wenn auch nicht alle in gleicher Weise betont und auch nicht gleich stark ausgeprägt. Wer nun seine eigenen Eigenschaften der Reihe ihres Hervortretens nach zu erkennen und ihren Grund zu eruieren trachtet, der kennt sie in ihrer Absolutheit oder Reinheit und weiss deshalb auch bei eher undefinierbaren, schmutzigen Farben ihre einzelnen Komponenten und ihren Anteil am Ganzen herauszufinden. Da zudem ein jeder Mensch in seinem Gemüte ein eigenes Erkenntnislicht – von seinem Geiste her – besitzt, sollte er die Kraft dieses Lichtes nicht zur Ausleuchtung möglichst vieler äusserer Verhältnisse verbrauchen, sondern in sich selber konzentrieren auf die jeweils momentan hervortretende Gemütseigenschaft. Damit werden die Farben seiner einzelnen Gemütseigenheiten leuchtend klar hervortreten, sodass er sie in allen ihren Einzelheiten und ihren Übergängen zueinander erkennen und erleben und auch in ihrer Wirkung erkennen kann, während das Farbengemisch der Alltäglichkeit sein Licht nur verzehren wird, weshalb uns die Alltäglichkeit so grau, so schmutzig und so dunkel erscheint. Das alles soll ja eine Erziehung auch durch Erfahrungen im Kleinen – wie es das Ausmalen von Vorlagen darstellt – aufzeigen, damit dann dem später Erwachsenen alle Kenntnisse über sich und die andern in genügend hellem Licht erscheinen können, sodass er nicht unsicher im Dunkeln tappen muss, ohne jede Ahnung, wo und wie ein genügendes Licht und eine genügende Liebewärme zur Erzeugung dieses Lichtes zu erreichen ist. Um uns das noch besser und bildlicher vorstellen zu können, können wir uns eine jede beliebige äussere, förmliche Zurückgezogenheit vorstellen. Zum Beispiel eine trichterförmige Blüte oder die tiefe Falte eines Kleides. Dort sehen wir plastisch mit unsern natürlichen Augen, was zu sehen sonst nur der stillen Gemütstiefe vorbehalten ist: dass sich nämlich die jeweiligen Farben in einer solchen Situation vertiefen und intensivieren, ohne dass sie dabei greller oder schreiender werden. Es ist dasselbe Erlebnis, wie wenn zwei Gleichgesinnte und für das Gute Eingenommene einander ohne viele Worte, sondern nur mit der Tat gegenseitiger Hilfe unterstützen. Sie werden in ihrer gemeinsamen Sache viel schneller, freudiger und mit tieferer Zufriedenheit – die immer eine gewisse Dankbarkeit in sich schliesst – vorankommen, als wenn ein jeder einzeln für sich tätig wäre, weil sie in ihrer stillen Übereinstimmung einander gegenseitig vor dem fahlen und störenden Licht der Aussenwelt oder der äussern Umstände und Einflüsse abschirmen und dabei erst noch die Begeisterung des einen dem andern aufmunternd entgegenleuchtet. Allerdings bewirkt eine solche Vertiefung des Gemütslebens, wie einer äusseren Form, immer einen Ausschluss anderer Wesensarten oder Farben. Da aber solche Vertiefungen des Gemütslebens in allen Gemütslagen möglich sind, wie auch alle äussern vertieften Formen bei allen Farben, verlieren wir dabei keine Möglichkeiten. Wir erleben nach und nach die ganze Vielfalt aller Möglichkeiten oder Farben, aber in einer solch vertieften Art und Weise, wie sie der Alltag oder die Welt nicht kennen, nämlich mit einer lebensintensivierenden Innigkeit, der am Ende nichts verborgen bleiben kann.

Alle äussern Umstände sind es also, welche dem Licht unseres wahren Erkennens entgegenstehen, und damit die dunkeln Schatten bilden, welche alle Wesenseigenheiten eines Gemütes verdüstern, so wie auch alle Gegenstände der Natur verdüsternde Schatten auf ihre nächste Umgebung werfen. Das alles lässt sich dem Kinde bei der Hilfe des Ausmalens geeigneter Vorlagen erklären. Das alles ist geeignet, seine speziellen Neigungen im Hinblick auf sein eigenes Wesen erkennen zu lernen und dann auch zu beurteilen, sodass es selber viel bewusster seine eigene Persönlichkeit gestalten kann, und nicht erst durch schwere Wechselfälle des Lebens zu jener notwendigen, stillen Zurückgezogenheit gebracht werden muss, die ihm ein inneres Wachstum oder die Ausbildung seines seelischen Wesens erst ermöglichen, ohne dass es dabei anfänglich weiss, wie das zu beginnen sei, und ohne ahnen zu können, wie entsprechend doch alles Äussere zum Innern sich verhält, weil das Äussere oder die Natur ja nur eine Vorschule zur eigenen Wesensbildung darstellt, die erst im Jenseits zur vollen Blüte kommt und endlich zur Frucht ewiger Seligkeit werden kann.

Noch eine weitere äussere, beschauliche Gelegenheit gibt es, welche dem Kinde beim Ausmalen von Vorlagen gezeigt werden kann, und welche auf dasselbe Problem der verschiedenartigen Folgen einer Verinnerlichung gegenüber einer Veräusserlichung aufmerksam machen kann: Alle Formen, die nach aussen bauchen und sich damit dem bloss äussern Licht entgegenneigen, wie etwa eine Kugel, eine Vase oder ein Fass oder die nach aussen gebogenen Blütenblätter einer Blume, die verlieren alle ihre eigene Farbe an jener Stelle, welche dem weltlichen Sonnenlicht am nächsten zugeneigt ist: sie werden zu weissen Stellen, wie man das bei so manchen Fotografien gut erkennen kann. Auch darin verbirgt sich eine Entsprechung zum innern, seelischen Leben: Wenn der Grund irgendeines Strebens oder der Ausbildung eines Talentes in der Anerkennung durch die andern – durch die Welt – besteht, so verliert der Mensch eben an jener Stelle, an jener er mit dieser Welt am intensivsten in Berührung kommt, alle seine wahre Eigenheit, alle seine Wesensfarbe – eben weil er sie, des Beifalles wegen, der Welt anpassen will –, wie eine jede nach aussen gebogene Fläche ihre Farbe an jener Stelle verliert, an welcher sie dem Naturlicht der Sonne für unser Auge am nächsten kommt.

Soviel liegt in den Bildern der Natur und soviel können wir einem Kinde zeigen und es aus sich selber erleben lassen, wie alle seine Neigungen geartet sind und wo sie hinführen; sowohl die heftigen, eher sinnlichen als auch die sachteren, eher dem Geiste zugewandten. Damit erziehen wir es weder in die eine noch in die andere Richtung. Wir lassen es alle seine Neigungen erkennen und erleben und zeigen ihm die Nützlichkeit einer jeden für das eine oder andere und erklären ihm anhand äusserer Bilder gleichnisweise wie sich Inneres und Äusseres stets als Gegensätze zueinander verhalten, die einander Feind sind, die aber bei weiser Benutzung auch zwei Endpunkten einer Entwicklung oder eines Weges gleichkommen: Nämlich ganz zu Beginn des irdischen Lebens vom Innern zum Äussern, von der selbstverständlichen Geborgenheit in die vielen verwirrenden Möglichkeiten weltlicher Betätigung und sinnlichen Genusses und später dann – am besten schon möglichst bald – von äussern Erfahrungen bereichert und belehrt, von der unsteten und verlockenden Vielfalt des Äussern in die eigene innere und bleibende Welt.

Allerdings stehen wir dann in der heutigen vor Selbstsucht strotzenden Welt eher alleine da, und nur solche, die ihrerseits ihre Augen zum Auffinden schöner, heller und warmer Farben geübt haben, werden uns finden und sich darüber freuen. Dafür finden oder treffen uns die lichtvoll wärmenden Strahlen einer göttlichen Vorsehung und können auch tief in unser Inneres dringen, weil wir ihnen durch unser Handeln und unsere Eingezogenheit nichts in den Weg legen. Auf eine solche Art haben wir dann bei unseren Bemühungen zum Erziehen für uns selber am meisten gewonnen, weil wir bei dieser Tätigkeit gelernt haben, uns auf alles – auch Unscheinbares – zu achten, und weil wir unsere Zöglinge nie in ein bestimmtes, vorgefasstes Bild oder eine Form pressen wollten, sondern ihre Entfaltung ihnen selber, ihren Bedürfnissen entsprechend überlassen haben, sie einfach fördernd oder manchmal auch etwas hemmend beeinflussten und ihnen stets die Sichtweise für das Ganze, das alleine zur allseitigen Seligkeit verhelfen kann, als oberstes Ziel vor Augen geführt haben und sie das auch erleben lassen haben, und zwar an kleinen und deshalb gut überschaubaren Dingen, wie eben an auszumalenden Bildern und später dann vielleicht auch an eigenen Zeichnungen, dann aber auch bei all ihren gemeinsamen Unternehmungen mit ihren Geschwisterchen zusammen. Dasselbe können wir unsere Kinder aber auch auf andern Tätigkeitsgebieten erleben und erfahren lassen, wie beispielsweise beim musizieren, beim Kochen und Zubereiten von Speisen, bei hausmütterlichen Handarbeiten oder bei knabengerechten Bastelarbeiten – nicht jedoch bei leistungsbezogenen und ehrgeizigen Betätigungsarten.

24. 12. 2007

 nach oben