Vollständige Heilung

Kann eine Heilung je vollständig sein, und was gehört zu dieser Voll-ständigkeit?  Zu ihr gehört nicht nur ein inneres Gleichgewicht, sondern auch ein Gleichgewicht zu allen äusseren Verhältnissen, das in vielen Lebenslagen nicht so leicht hergestellt werden kann. Und doch gibt es einen Weg dazu, der das Innere und das Äussere in idealer Weise verei-nen kann. Zwar ist es nicht so schwer, diesen Weg zu beschreiten, ja er bringt uns sogar tiefes Glück und innern Frieden; aber es ist nicht so leicht, sich dafür zu entschliessen. Gerade darum betreten ihn so wenige und gerade deshalb braucht es so viele Widerwärtigkeiten im Leben, damit uns der Entschluss leichter fällt. Das, und noch vieles Weitere "hören" wir beim Lesen dieser Lektüre einen erfahrenen Heiler einer seiner kritischsten Patientinnen erklären.

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VOLLSTÄNDIGE HEILUNG

Wer weiss es nicht, wie zermürbend das Warten sein kann?! Ist es doch oftmals schon schlimm, eine Antwort auf eine gestellte Frage abzuwarten, bei der vieles auf dem Spiele steht. Noch schlimmer ist es, mit anderen Wartenden zusammengepfercht in einem Wartsaal oder Wartezimmer eines Arztes ausharren zu müssen bis man endlich zu einer äusserst unangenehmen Untersuchung oder Behandlung aufgerufen wird, welche uns dann Antwort auf die Frage über die Möglichkeit einer baldigen und möglichst gänzlichen Gesundung geben sollte. Ist in solchen Fällen nicht die Krankheit selbst schon Geissel genug, die einem durch den Schmerz oft den Schlaf stiehlt oder alle Ruhe und Ausgeglichenheit raubt, wenn sie unsere Nerven befällt; die uns auch Angst macht und uns um unser Leben bangen lässt - manchmal selbst dann, wenn die Krankheit nicht allzu ernsthafter Natur ist. Denn eine Krankheit erleben und empfinden ist oft ein ganz anderes, als über sie etwas zu wissen.

Solche Gedanken und Gefühle und die daraus resultierende Absonderung von den andern – den Normalen und Gesunden –, welche diese Vorgänge im Kranken nicht empfinden und deshalb nur schwer verstehen, kennen bestimmt alle ebenso aus eigener Erfahrung, wie auf der andern Seite auch das Gefühl des Angewiesenseins auf andere. Sei das Zweitgenannte auch nur während den oft äusserst schmerzhaften und peinlichen Untersuchungen oder Behandlungen, wo wir uns dem Gutdünken eines Arztes und seines Hilfspersonales anvertrauen und hingeben müssen, welche einem zwar freundlich, aber ohne Anteilnahme und oft auch ohne Verständnis helfen.

Ebensolche Gefühle und Gedanken hatte auch eine etwa achtzehn-jährige Lehrtochter im Wartezimmer eines Gynäkologen. Sie hatte ihn in letzter Zeit schon mehrmals aufsuchen müssen, da nach Ansicht des Arztes umfangreiche Abklärungen nötig waren, um erstens eine ernsthafte Erkrankung als Grund ihres schon länger dauernden Leidens ausschliessen zu können und zweitens, um den eigentlichen Grund ihres Leidens auffinden zu können. Sie lernte dabei aber zusätzlich auch die Situation einer Patientin kennen, die plötzlich von den Gesunden durch öfteres Fehlen am Arbeitsort etwas distanziert wird –  besonders dann, wenn sie es nicht versteht, den andern ihr Leiden als äusserst interessant darzustellen, welches sogar für die behandelnden Ärzte rätselhaft ist. Dabei wäre ihr Fall ja wirklich rätselhaft genug gewesen. Zuerst hatte man nämlich eine Darmerkrankung vermutet. Deshalb musste sie zweimal eine Darmspiegelung über sich ergehen lassen, bei welcher sie vorerst einmal durch einen künstlich erzeugten Durchfall ihre Gedärme restlos leeren musste. Derart vorpräpariert musste sie sich dann ein oder zwei Tage darauf Kopf abwärts auf eine Vorrichtung legen, sodass ihr dabei alles Blut in den Kopf schoss und die Augen aus ihren Höhlen zu drücken begannen. In dieser Lage führte man nun einen dicken Schlauch in ihren Darm ein, welcher für ihr Gefühl mit grossem Druck in ihren Bauch vorgeschoben wurde und dabei äusserst schmerzhaft Stück um Stück vorwärts drängte. Das alles nur, damit man schlussendlich feststellen konnte, dass ihr Leiden nicht im Darm begründet lag. Daraufhin schickte man sie zum Gynäkologen, der nun auch schon längere Zeit in ihrer Gebärmutter herumsuchte, als wäre sie ein Irrgarten. Dieser aber war immerhin in ihrem eigenen Leibe, der sehr wohl zu fühlen imstande war, wie hilflos und intelligenzlos er selber ist, und dennoch soviel Gefühl haben musste, dass er eine jede neue Frage des Arztes an ihn äusserst schmerzhaft empfinden musste. Ausserdem bestand neben all diesen ohnehin sehr schmerzhaften, langwierigen und in ihren äussern Begebenheiten furchtbar peinlichen Untersuchungen noch ein ganzer, lästiger Mückenschwarm von zusätzlichen Manipulationen, wie Blutentnahmen, Spritzen, Einläufe, aber auch Medikamente mit all ihren grausamen Nebenerscheinungen, welche ein Absetzen erforderten und in zwei Fällen gar nach einem Gegenmittel verlangten, Und zu all dem hinzu gesellte sich vor allem immer ein äusserst langes und aufreibendes Warten – ähnlich demjenigen des Viehs im Vorhofe einer Schlächterei. Auch dieses fühlt ja das Unangenehme, das unweigerlich folgen wird, und kann diesem dennoch nicht entweichen. Nur hat das Vieh damit sein letztes Leiden ausgestanden, während es sich beim Menschen in einer derartigen Situation noch stets steigern kann, und zwar in der Schmerzhaftigkeit, der Peinlichkeit und zunehmenden Hilflosigkeit, sowie im erhöhten Ausgeliefertsein an Menschen, welche bei ihrem Vorgehen nicht wieder einen Menschen vor sich sehen, sondern nur eine Arbeit oder gar einen Verdienst in Geld oder Prestige.

Wenigstens könnte doch das aufreibende Warten auf all die folgen müssenden Behandlungen verkürzt werden, dachte sie. Bis zu einer Stunde dauerte es bestimmt jedes Mal, einmal waren es sogar beinahe zwei. Könnte denn ein verständnisvoller Arzt die Vorladezeiten nicht so ansetzen, dass nur eine minime Wartezeit in Kauf genommen werden musste? Er weiss es ja, wie lange eine Untersuchung oder Behandlung dauern wird.

Allerdings sah das sonst aufgeweckte Mädchen heute seine eigentliche Situation viel klarer und dadurch auch viel dramatischer als sie bis jetzt für einen ohnehin sensiblen Menschen zu erleben war. Denn ein ganz andersartiges Erlebnis war ihr vor einer Woche begegnet, als sie auf Drängen einer Freundin hin bei einem Naturarzt war. Dort musste sie zwar auch gut eine Stunde lang warten. Aber erstens war sie nicht angemeldet oder bestellt gewesen, sondern kam am Tage der allgemeinen Sprechstunde, und zweitens war dort der Arzt vor allem ein Mensch – ein warmherziger, Anteil nehmender Mensch. Sie wusste das allerdings beim Warten im Wartezimmer noch nicht so bestimmt. Aber jedes Mal, wenn der Arzt den nächstfolgenden Patienten in sein Praxiszimmer bat, hatte sie das Gefühl, dass er selber mit dem Patienten zusammen, wie ein Freundespaar hinter der Türe verschwand, welches ein gemeinsames Problem vertraulich und möglichst fruchtbringend zusammen besprechen würde. Dieser Naturarzt hatte gar nichts von einem hohen, inquisitorisch Fragenden an sich, sondern etwas, das ihn wie ein Freund in der Not erscheinen liess. Er schien gewissermassen mitzuleiden mit den Wartenden. Aber auch die Wartenden selbst schienen nicht so bedrückt und so bekümmert zu sein wie hier; eher erwartend erschienen sie ihr damals – so, als würde ihnen etwas Gutes getan werden.

Bei diesen vergleichenden Gedanken empfand die angehende Frau, wie das Warten hier eher dazu diente, den Patienten klein zu kriegen, damit er sich ja allen Begehren des Arztes und allen Anforderungen der Untersuchung möglichst willenlos ergab. Zu Nichts muss der Mensch hier werden, dachte sie, damit er dann sein Nichts auch empfinde, wenn er dann hilflos im Gynäkologenstuhl hängt wie eine halbe Seite eines geschlachteten Kalbes früher in der Metzgerei hing, und alle Manipulationen an seinem Fleische über sich ergehen lassen muss wie das tote Kalb. Ja richtig, das war es, empfand sie – jetzt, nach dem Besuche beim Naturarzt -, alles ging hier um den Körper, das Fleisch, nichts fragte nach dem Menschen, der es zu tragen und zu ertragen hatte. Bei einer Röntgenaufnahme hatte man ihren Leib mit einem Farbstift beschrieben, wie der Fleischbeschauer früher auf ein Stück Fleisch seinen Stempel drückte. Sie sah es damals wohl ein, dass die Bezeichnungen ihres Leibes wohl dazu dienen mussten, die Röntgenkamera besser auf die bezeichneten Stellen richten zu können. – Aber dennoch wurde ihr Fleisch dabei bezeichnet oder gezeichnet wie jenes beim Metzger. Und eigentlich war dabei nur derjenige fatale Unterschied, dass das Kalb nichts mehr davon wissen konnte und auch nichts mehr verspüren, während sie selber noch an diesem Stück Fleisch hing wie eine Gefangene an einer Kette. Und – wie sie tief in ihrem Innern verspürte – dass sie nun in dieser Lage nicht mehr Mensch sei, sondern eine Sache – eine Sache, mit der man Geld verdienen konnte, mit der man sich beschäftigen konnte. Eine schöne Sache vielleicht auch, die man hätte besitzen wollen. Denn das spürt eine Frau, wenn sich jemand für ihren Leib interessiert. Von einer Kollegin wusste sie, dass dieselbe Untersuchung bei demselben Arzte viel weniger lange gedauert hatte. Es mag ja auch medizinische Gründe dafür geben, dachte sie, aber die Art, wie er auf meinen Körper zugeht, verrät mir, dass er nicht nur Mediziner ist. Das spürt eine Frau sofort! "Mensch" aber bin ich dennoch nicht für ihn, sonst könnte er mich nicht so lange im Wartezimmer warten lassen, und noch weniger im Gynäkologenstuhl, wo ich auch nach der Untersuchung oft noch richtiggehend hängen blieb bis er all seine Schreibarbeit erledigt hatte. Bei all dem bin ich nur Fleisch. Denn als Mensch hätte er mich zuerst mich anzuziehen aufgefordert. Ja, das alles empfand sie zwar schon bei der ersten Untersuchung; nun erst aber wurde es ihr bewusst, weil sie inzwischen eine gegenteilige Erfahrung bei einem Naturarzte gemacht hatte, der ihr, ohne es zu wollen, alle ihre Empfindungen bestätigt hatte, dadurch dass er durch seine eigene Handlungsweise ihr Empfinden gegenteilig anzusprechen vermochte. Er besprach sich mit ihr über das Leben und wie es sich gestalte, vor allem aber, wie sie selber es gestalten müsse, wenn sie von ihrem Leiden loskommen wolle. Er zeigte ihr, dass die empfindsame und zum ewigen Leben bestimmte Seele zwischen ihren nur durch sie selbst belebten Leib und ihren ewig lebenden und alles durchdringenden Geist gestellt sei, damit sie durch eigenes Wollen sich von den Genüssen des Leibes abwenden und dem ewig wirkenden, lichtvollen Geist in ihr hingeben könne, durch welchen ihr Seligkeiten und Vollkommenheiten bereitet würden, die ewig weit über die zeitlich sinnlichen Genüsse hinaus gingen. Er zeigte ihr weiter, dass eine solche Wiedergeburt des Geistes in ihre Seele aber einen ununterbrochenen starken Willen und viel Liebe zu den reinen, und lichtvollen Erkenntnissen der Wahrheit verlange, welche erst die Seele frei und stark zu machen imstande seien. Deshalb solle sie zum Beispiel künftig beim Essen vor allem daran denken, dass die Speise eine Gabe Gottes sei zur zeitweiligen Erhaltung ihres leiblichen Lebens, damit ihre Seele zur vollen Reife in diesem Leibe gelangen könne. Sie solle deshalb jede Speise mit andächtiger Dankbarkeit geniessen – als eine Fülle in ihre Leere – und nicht als Genussmittel missbrauchen, das ihre Seele ablenke von ihrem Ziel der Freiwerdung von allem Tode durch den Leib. Noch weniger solle sie sich mit eigentlichen blossen Genussmitteln ernähren, weil diese nicht nur den Leib verstopfen würden – und zwar nicht bloss die Gedärme, sondern durch das überlastete Blut auch alle Drüsen, Nerven und am Ende gar die Muskeln – sondern zugleich auch die Seele stets begieriger stimmen, aus ihrem Leibe so viel als möglich Genüsse zu holen. Denn gerade solche Begierden vereinen die Seele stets mehr mit ihrem sterblichen Leib, sodass sie dessen Sterblichkeit ständig und vermehrt selbst zu spüren bekomme. Solche Genussbegierden des Leibes empfinde sie nach der Einnahme grösserer Mengen von Genussmitteln bald in mancherlei Form, wenn sie sich darauf nur einmal zu achten beginne; z.B. in der Form der Lust, etwas zu erleben, etwas zu unternehmen, das stets nur ihren Leib betrifft. Es sei das eine gewisse Aggressivität, die man in dieser noch schwachen Form als strotzende Gesundheit betrachte, die aber nichts anderes sei als eine Fortsetzung der Beschäftigung mit ihrem Leibe. So sei dann auch der Beischlaf für solche Menschen eine pure Lust des Leibes, anstatt eine notwendige Einrichtung des Schöpfers zur Forterhaltung leiblichen Lebens – oder wenigstens der Ausdruck höchster innerer Zuneigung, welche in einem etwas stürmischen Gemüte nach einer möglichst tief empfundenen Berührung und Vereinigung drängt. Natürlich ist auch diese Einrichtung vom Schöpfer so gestaltet worden, dass sie dem Menschen bei ihrer Benutzung wohl tut, wie jede andere Befriedigung von Leibesbedürfnissen auch.

Aller Missbrauch aber, zur leeren und eitlen Belustigung der Seele durch ihren Leib, kette diese an den Leib und verursache ihr Furcht vor dem Tode und oft unsägliche Schmerzen, eben aus dem Grunde der dadurch erfolgten Verkettung der Seele mit ihrem sterblichen Leibe.

Wenn der Mensch schon einmal seinen durch Genussmittel überreizten Leib durch ein Erlebnis erquicken und beruhigen wolle, so tue er es mit reinem , kalten Wasser, welches reinigt und erfrischt und aller Säfte Fluss anregt, ohne die Säfte selbst zu überladen wie der Frass und die Völlerei, oder sie zu schwächen wie der über-flüssige Beischlaf.

Er wisse jedoch wohl, dass das alles einfacher gesagt, als getan sei, aber eben deshalb habe der Mensch auch durchschnittlich 60 bis 70 Jahre Zeit dafür, und als Mahnung so manche Krankheit des Leibes, die ihm zeige, dass der Missbrauch des Leibes nur Schulden erzeuge, welche die Seele dann durch eine langwierige stete Loslösung vom geliebten Leibe, durch die Insistenz des Schmerzes oder die Behinderung durch irgendeine Krankheit bedingt, wieder zu bezahlen habe.

Sie selber aber müsse nicht denken, dass er, als Arzt, schon alle diese Forderungen lückenlos erfüllen könne, sondern selber auch noch stets auf dem Wege dahin sich befinde, und dass er deshalb wohl fühle und wisse, was damit für eine Aufgabe an den Menschen gestellt werde. Aber er wisse auch sehr gut über die oft vorkommenden Folgen einer Missachtung der göttlichen Gebote Bescheid, eben durch die Beschäftigung mit seinen Patienten, und könne aus dieser Erfahrung nur doppelt nachdrücklich auf alle diese Zusammenhänge verweisen. Wohl erlebe nicht jeder sofort und auch nicht in demselben Masse die Folgen seiner Fehler, aber die Sensiblen, die deshalb mit umso grösserer Heftigkeit sich in die Lust zu stürzen vermögen und sich darin auch viel eher völlig verstricken könnten, müssten durch den gütigen Schöpfer auch am allerschärfsten davor gewarnt werden. Das sei eine Erklärung und ein Trost für alle, die es betreffe. Denn diese könnten durch ihre Sensibilität umgekehrt auch bald die noch so geringen Fortschritte im Geiste viel wohltuender empfinden als andere, weniger empfindsame.

Aus all diesen vielen Worten des Naturarztes erkannte sie – und empfand es auch lebendig, dass er, im Gegensatz zu den üblichen Ärzten, nur den Menschen in seinen Patienten sah und empfand, und auch nur mit ihm alleine sich abgab. Ihr Leib, ihr Fleisch interessierte ihn kaum.

Ganz anders der Gynäkologe, der einmal zu ihr gesagt hatte, als er zu ihr hintrat, wie sie so im Gynäkologenstuhle hing: "Mal sehen, was Schönes sie da mitbringen!" Gewiss, sie hatte es damals als einen etwas missglückten Versuch einer Gesprächsaufnahme gewertet, weil sie nicht gerade das Negativste von einem Menschen zu denken gewillt ist. Und auch heute noch will sie den Sinn dieser Worte nicht anders deuten – aber immerhin, nach allem, was sie schon erlebt hatte, wäre das Missglücken der damaligen Gesprächsaufnahme durch ein zu grosses Eigeninteresse des Arztes an der "Sache" durchaus erklärbar gewesen. Aber auch damals, als sie etwas zweifelnd den Arzt fragte, ob all diese vielen Untersuchungen – einige darunter schon zweimal – denn auch zwingend notwendig wären, hatte er wie von oben herab ihre Zweifel als äusserst verwerflich taxiert, indem der Patient ein Vertrauen zum Arzt haben müsse, und dass er seine Sache wohl besser verstehe als sie – da war es wieder die "Sache", das Fleisch. Sie hatte nun einmal diese Sache, dieses Fleisch, und wenn es sie zeitweise auch noch so peinlich berühren konnte, so war es doch offenbar so, dass sie selber mit dieser Sache – ihrem eigenen Fleisch – nicht fertig werden konnte, denn sie krankte ja offenkundig an ihm und musste es deshalb andern, zur Untersuchung und Reparatur zur Verfügung stellen, ohne dass sie sich dessen in der Zwischenzeit entledigen konnte. Ja, schlimmer noch, der Arzt schien dabei immer mehr zum rechtmässigen Besitzer zu werden, selbst auch dann, wenn er kein persönliches Interesse daran gefunden hätte. Denn derjenige, der über eine Sache verfügt, ist de facto auch Besitzer. "Wenn ich selber aber über mein Fleisch nicht zum Besten verfügen kann", dachte sie weiter, "so ist es dann eben der Arzt. Ob aber dieser Arzt es dann besser macht als ich, das weiss ich nicht. Sicher weiss ich nur, dass ich alles durch Schmerz und Pein selber bezahlen muss, ob ich nun nicht richtig mit meinem Fleische – oder Werkzeug, wie es der Naturarzt einmal bezeichnet hatte – umgegangen bin oder der Arzt. Ein Drittel aller Spitalbetten würden ja von solchen Patienten belegt, die durch eine Behandlung krank geworden sind. Das habe ich doch jüngst in der Zeitung gelesen", erinnerte sie sich. Bei dieser Überlegung stiess sie der Anspruch des Arztes auf Entscheidungen über ihren Leib ab. Sie empfand den Arzt dabei als ungerechten Richter, als Inquisitor, der die peinlichsten und schmerzhaftesten Fragen an das Fleisch zu stellen das Recht für sich in Anspruch nimmt.

Mit Abscheu empfand sie in ihrer Erinnerung wieder die kalte, scheinbar ruhige und hohe, inquisitorische Erscheinung des Arztes neben ihr, während sie im Gynäkologenstuhle hing. Aber zugleich begann sie erstmals auch zu merken, wie sie selber wohl jenem Naturarzte gegenüber sich benommen haben musste, der ihr gegenüber in gar nichts einen Anspruch erhob, sondern willig und eher wie ein Diener auf alle von ihr selbst gestellten, prüfenden Fragen eingegangen war, die sie ihm oft fast in vorwurfsvollem Tone vorgelegt hatte. Zwar verständlich, dass sie das tat, denn sie ging ja eher der Freundin wegen dorthin als aus eigener Überzeugung, wiewohl sie ja allen Grund gehabt hätte, an der Kunst der Schulmedizin zu zweifeln, denn diese hatte sich schon über zwei Jahre lang vergeblich um ihre Gesundheit bemüht. Aber nicht ganz verständlich erschien ihr jetzt die gelassene und teilweise sogar entgegenkommende Art des Naturarztes auf ihre eher schroffen und Ablehnung verratenden Fragen. Schon ihre ersten Worte mussten das ja deutlich gemacht haben. Wie sagte sie doch?

"Ich komme bloss auf Drängen meiner Freundin zu Ihnen und möchte einmal Ihre Meinung hören, aber ich weiss noch nicht so recht, ob ich dann auch ein Vertrauen zu dem von Ihnen Vernommenen fassen kann." – "Dann muss ich eben versuchen, Ihr Vertrauen zu erwerben, denn ich kann mir Ihre Gründe wohl gut vorstellen, die Sie an einem Vertrauen zu meinem Können hindern, und ich respektiere sie auch. Nur – so können wir nichts Fruchtbringendes erreichen, wenn Sie alles und jedes von mir kommende nur anhören, aber nicht in sich aufzunehmen bereit sind. Denn sehen Sie", sagte er weiter, "ich kann und will nicht Ihrem Leibe direkt helfen, in Ordnung zu kommen, sondern kann und will in diesem Fall nur Ihnen selber helfen, damit Sie mit Ihrem Körper, der ja das Werkzeug Ihrer Seele ist, besser fertig werden. Und dazu brauche ich Ihr Vertrauen, damit Sie meine Ratschläge nicht bloss hören und mehr oder weniger kritisch beurteilen, sondern sie auch annehmen und in Ihr Wesen werktätig aufnehmen. Denn nur so können sie auch Früchte tragen. Wenn ich Ihnen beispielsweise als Meister eines Handwerkes die Fertigkeiten Ihrer Hände ausbilden will, so brauche ich doch die bejahende Unterstützung Ihrer ausführenden Tat, denn durchs Hören alleine ist noch keiner ein Meister geworden. Verstehen Sie?"

Sie verstand das wohl, und das umso mehr, als seine Rede so fasslich und klar war und so freundlich und geduldig vorgetragen, dass sie sich trotz ihrer noch erheblichen Zweifel nicht einer gewissen in ihr spürbar werdenden Sympathie erwehren konnte. Aber sie wusste ja noch gar nicht, was denn ein Naturarzt sei, und so wollte sie vorerst noch wissen, ob er denn als Naturarzt einfach Kräuter und Tees verschreibe, oder ob er so ein Geistheiler sei. Worauf er verständnisvoll lachte und ihr erklärte, dass ein Naturarzt mit natürlichen Mitteln auf den Körper eines Menschen einzuwirken versuche. Dass er aber in der Wahl der Mittel grösseren Spielraum habe als der Arzt. Denn es gebe in der Natur Mittel, die den Körper zu Reaktionen zwingen würden, wie etwa das Karlsbader Salz, das durch seine Schärfe die Gedärme zwinge, sich zu entleeren, und das bis zu einem völlig unnatürlichen Leerheits-grad. Dass es aber anderseits dem Naturarzte auch gegeben sei, natürliche Mittel so aufzuschliessen, dass sie eher freundschaftlich aufmunternd den Körper anregen , anstatt zwingen. Es sei etwa so, wie wenn die Eltern eines etwas faulen Kindes diesem einmal aufzuzeigen begännen, wie aus einer gewissen Faulheit stets die Armut sich entwickle – aus einer geistigen die geistige, die man Dummheit oder Stumpfsinn nennen kann, und aus einer natürlichen die natürliche, welche man endlich im Magen zu spüren bekomme, wenn nicht mehr genügend Essbares vorhanden sei. Ist die Faulheit des Kindes nur eine geringere, so genügt dann schon diese einzige Darstellung, damit das Kind sich fasst und zu arbeiten beginnt. "Diese Kur ist also einmalig und muss nicht so schnell wiederholt werden", erklärte er ihr und fuhr dann fort, "ist die Faulheit aber eine stärkere, weil schon zu lange geduldete, so müssen die Eltern zu drastischeren Mitteln greifen und dem Kinde täglich das Essen auf solange vorenthalten bis es die ihm gestellten Aufgaben gemacht hat. Das ist dann Zwang. Dieser verändert das Gemüt des Kindes nicht, und es bleibt in sich selbst faul, und die Erziehungsmethode ist ihm widrig. Erst nach langem Angewöhnen durch die bleibende Bedingung und den Zwang, dass es ohne vollbrachte Arbeit nichts zu Essen gebe, wird das Kind aber nur durch äussere Gewöhnung, und nicht durch Einsicht von innen her fleissiger. Dieser Fall entspricht dann der lange zu praktizierenden Anwendung der zwingenden Form der Naturheilmittel." – "Dann sind Sie also Naturarzt, und nicht Homöopath oder gar Geist-heiler?", wollte sie sich vergewissern.

"Ja, da werfen Sie vieles durcheinander", erklärte ihr der Naturarzt bereitwillig. "Homöopath ist der Naturarzt nämlich eben dann, wenn er die aufmunternde Form der Naturheilmittel verabreicht. Denn: die Homöopathie verwendet im eigentlichen Sinne nicht die Materie der Mittel, sondern nur ihren Gedanken oder ihr Prinzip. Dieses wirkt dann wie im ersten der beiden geschilderten Beispiele. Da muss das Kind nicht wirklich hungern oder Hunger leiden; es genügte, in ihm den Gedanken an den Hunger zu erwecken, und dieser Gedanke alleine wirkt genügend stark, sodass es ihm zufolge sein Wesen ändert und fleissig wird, und damit ein fernerer Zwang unnötig wird." –  "Dann sind Sie also Naturarzt und Homöopath in einem?", vergewisserte sie sich damals dazwischenfahrend und ihn unterbrechend, worauf er sie erstmals etwas prüfender ansah und zu ihr sagte: "Mein Fräulein, Sie scheinen sich vor dem Geistheiler zu fürchten! Was soll ich dabei tun? Sage ich Ihnen nun, dass ich auch Geistheiler sei, so werden Sie erschrecken, weil Sie keine Ahnung davon haben, was das ist; wohl aber haben Sie schon viel Furcht vor dem noch Unbekannten durch das Gerede der Unverständigen. Sage ich Ihnen aber, dass ich kein Geistheiler sei, so müsste ich lügen und verlöre somit alles Anrecht auf Ihr Vertrauen. Was ist wohl bei dieser Sachlage für Sie Nützliches zu tun? Wollen Sie nicht lieber zuerst einmal anhören, was ein Geistheiler ist?" – Zögernd, weil immer noch sehr zweifelnd, aber dennoch stets klarer die Notwendigkeit einsehend, dass erst das Verständnis einer Sache ein Urteil über sie zulasse, bejahte sie in diesem Stadium ihres damaligen, über zweistündigen Gespräches seine Frage, worauf er weiterfuhr: "Dass ein jeder Mensch eine Seele, einen Geist und auch einen Körper hat, das werden Sie ja kaum bezweifeln. Denn: den Körper empfinden Sie ja, und dieser Empfindung wegen sind Sie ja wohl zu mir gekommen. Ihre Seele empfinden Sie ja ebenfalls in den Stimmungen Ihres Gemütes, aber auch in der Furcht, die Sie noch vor mir haben. Und den Geist erkennen Sie doch sicher an Ihrer Fähigkeit, Dinge, Probleme und Sachlagen zu erfassen und sie in Ihrem vorgefassten Sinne zu ändern oder zu beeinflussen, welche Möglichkeit dem Tiere fehlt, da es nur eine Seele und einen Leib hat, nicht aber einen Geist. Wenn nun ein Mensch, der eigentlich deshalb auf Erden weilt und einen Leib hat, damit er mit ihm im Sinne seiner Erkenntnis wirken kann, um sich in der Beurteilung einer Sachlage und in der Einwirkung auf sie zu üben, ohne dass bei seinen anfänglich nicht ausbleiben könnenden Fehlern sogleich seine Seele oder gar sein Geist Schaden leide, sondern vorerst nur sein Körper – wenn nun ein solcher Mensch seine ihm verliehene Freiheit missbraucht und dem göttlichen Plan zuwiderhandelt, so wird er es vorerst in seinem Leibe erfahren, dass sein Tun keine guten Früchte trägt. Einem Unerfahrenen das aufzuzeigen heisst doch nichts anderes, als seinen Geist heilen, indem man ihn auf die göttlichen Gesetze aufmerksam macht, und ihm dadurch weiteres Fehlverhalten erspart.

Es hat zum Beispiel ein Patient die Gewohnheit, schnell zornig zu werden und oft auch Rachegelüste zu empfinden und solchen Gedanken nachzuhängen, und zieht sich durch die dabei erfolgende Überbeanspruchung seiner Leber ein Leiden seines Verdauungstraktes zu, und es gelingt mir, ihm zu zeigen, dass Zorn und Rache dem menschlichen Gemüte und als Folge davon auch seinem Leibe nicht zuträglich ist – vielleicht gar mit dem Bibelwort "Die Rache ist mein, spricht der Herr" –, habe ich damit dann nicht seinen Geist geheilt und ihm ferneres Leibweh erspart? Finden Sie nicht, dass dies die vorzüglichste Heilungsart wäre, dort, wo sie sich noch anwenden lässt – denn das scheint mir bei Ihnen noch der glückliche Fall zu sein?" -

"Ja, wenn das Geistheilung ist, dann schon", musste sie ihm verwundert zugeben. "Aber ich habe doch schon anderes darüber gehört." –  "Ja, sehen Sie, der Geist ist äusserst lebendig, sein Wirken äusserst vielgestaltig, und deshalb auch sind die äussern Formen der Heilung verschieden.

Wenn ich nun mit Ihnen rede und Sie dabei die Wohltat eines erweckten und einigermassen ausgebildeten Geistes in einer Seele fühlen und erleben lasse, sodass Sie sich nun schon sichtlich bedeutend besser und wohler fühlen als zuvor – und als schon lange –, so haben Sie doch Ihren Geist durch meine Worte miterregen lassen, sodass er tätiger und dadurch freier geworden ist. Und in dieser Freiheit hat er auch schon begonnen Ihre Seele und Ihr Gemüt zu erleuchten, sodass diese zu erkennen beginnt, wo und wie sie sich möglicherweise gegen den Geist aufgelehnt hatte, sodass er gebunden wurde und dadurch zur Untätigkeit verurteilt war.

Hätten Sie aber weniger Fragen gehabt, so hätten Sie dasselbe in Ihrem Gemüte dennoch zu verspüren vermocht, und zwar als eine gewisse heimatliche Wärme und Ruhe, weil der Mensch aus dem Geiste der Liebe und der Weisheit hervorgegangen ist, und er diesen deshalb stets als Heimat empfindet, wann und wo er ihm auch begegnet. Diese wärmende Ruhe aber ist das Wirken des Geistes - auch in Ihnen. Und diese kräftigt die Seele und erweckt sie zu neuer Hoffnung und zum Willen, diesen wohltuenden Seinszustand zu erhalten." –  "Sie sprechen teilweise so, als meinten Sie mit dem Wort "Geist" Gott. Glauben Sie denn an einen Gott?" mit diesen Worten unterbrach sie wieder den so geduldigen und dienstbereiten Menschen vor ihr. Dieser aber gab ihr zu bedenken: "Wie sollte ich nicht an einen Gott glauben können, wenn doch tagtäglich seine Geschöpfe zu mir kommen und dasjenige suchen, was ihnen von ihrem Schöpfer einst wohl mitgegeben wurde auf ihren Probungsweg durch die Welt, das sie aber inzwischen auf die eine oder andere Art verloren haben. – Oder glauben Sie etwa, dass Sie selbst sich gestaltet haben, oder die stummen Kräfte der Natur? Sie sind doch schon Ihrem Leibe nach unfehlbar das Produkt einer äusserst hohen Intelligenz, welche zum Beispiel nur schon Ihr Auge so genial konzipiert hat, dass heute noch alle Technik der Fotographie, des Fernsehens und der Elektronik dagegen eine barste Lehrlingspfuscherei darstellt, was Ausgestaltung sowie Konstruktion Ihres Auges anbelangt. Und der so viele Sorgfalt auf so Vergängliches legt, wie viel Liebe muss der erst für das Unvergängliche Ihrer Seele und Ihres Geistes haben?

Das Auge und das Licht der Seele aber ist ihr Glaube. Er muss etwas erfassen, und die Seele dann nach der Ordnung des von ihr durch den Glauben erfassten tätig werden, damit der Mensch in dem vom Glauben her Erkannten lebendig werde und damit in sich selbst zum Zeugnisse der Wahrheit – die in seinem Glauben ruht – werden kann. So, wie der Mensch die mit seinen leiblichen Augen erfasste Nahrung ebenfalls auch ergreifen und essen muss, weil er sonst trotz der Sicht auf all die viele Nahrung, die vor ihm liegt, nie satt werden könnte. Und das rate ich nun auch Ihnen, nachdem Sie mich – so glaube ich – wirklich genügend geprüft haben. Wenn Sie also gestatten, so wollen wir einmal zur Diagnose Ihres leiblichen Übels schreiten, damit wir besser erkennen, wodurch Sie sich es zugezogen haben." –  "Müssen Sie dazu eine Augendiagnose machen?" forschte sie weiter nach. – "Ich müsste nicht unbedingt", sagte er darauf. "Denn ich ersehe es auch so, dass Sie wahrscheinlich mit Ihrem Unterleib Schwierigkeiten haben, wie überhaupt mit der ordnungsmässigen Verteilung Ihres Blutes, woher auch die meisten Ihrer Übel herrühren dürften. Aber ich bin Ihnen gegenüber verpflichtet, mir mein Bild über Sie so gewissenhaft als möglich zu machen, um auch kleinere und kleinste Nebenumstände nicht unberücksichtigt zu lassen. Und dazu dient die Augendiagnose, gegen welche Sie ein ebenso grosses Misstrauen zu haben scheinen wie gegenüber einem Naturarzt allgemein. Ich nehme an, Ihre Familie oder Ihr Freundeskreis ist in der Nähe irgendeiner freikirchlichen evangelischen Gemeinde zu suchen oder sonst wie in einer übereifrigen Glaubensgemeinschaft. Stimmt es? – Und was haben Sie gegen die Augendiagnose?"

"Sie ist etwas Okkultes. Sie müssen mir dabei doch in die Augen sehen, nicht wahr?", entschuldigte sie sich etwas unsicher und beklommen. –  "So, das also ist Ihr Kummer!", atmete er auf. "Dagegen lassen sich gleich zwei Dinge einwenden. Erstens sehe ich Ihnen nicht in Ihre Augen, sondern nur darauf; genauer gesagt untersuche ich den farbigen Teil, die Iris. Ein Hypnotiseur hingegen würde Ihnen in die Augen schauen, der Augendiagnostiker aber nicht. Allerdings würde Ihnen auch der Augenarzt in das Auge schauen. Fürchten Sie diesen deshalb auch? – Zum zweiten muss ich Ihnen wohl das Wort "okkult" erklären. "Okkult" heisst verborgen. Ein Okkultist ist demnach einer, der das Verborgene sucht. Wenn aber Ihr leiblicher Zustand in die farbige Iris Ihrer Augen geschrieben ist, so braucht es doch keinen Okkultisten für die Diagnose, meinen Sie nicht auch?" –  "Aber die Handlesekunst beispielsweise ist doch auch okkult und sogar Wahrsagerei, oder nicht?", warf sie damals ein. –  "Ja", bestätigte er, "sofern aus den Linien der Hand versucht wird, auf die Zukunft zu schliessen, aber niemals, wenn daraus auf den Zustand des Leibes geschlossen wird. Zur bessern Erklärung des Sachverhaltes betrachten Sie beispielsweise die Linie des Lippenspaltes eines Mundes. Zieht sich diese Linie auf beiden Seiten leicht aufwärts, zu einem Lächeln, so sagt man, der Mensch sei fröhlich und freundlich, zieht er sich aber abwärts, so sagt man, dieser Mensch sei griesgrämig und verdriesslich. Das gilt sicher für die Zeit, in welcher er den Mund derart verzieht. Aber die meisten Menschen haben während der Ruhe den ihrem Wesen entsprechenden Zug ihrer Lippen ständig sichtbar, und wir erraten daran das Gemüt. Das Gemüt aber verrät den weit verborgeneren Zustand einer Seele, und nicht bloss jenen des vor mir ohnehin ersichtlichen Leibes. – Sie lächeln, – Sie sehen wohl ein, dass diese Lehre über die Mundlinie wohl weit eher als Okkultismus bezeichnet werden muss, weil sie sich wirklich mit dem verborgenen Innern des Menschen beschäftigt, während Sie doch anderseits meine Diagnose ruhig als wissenschaftlich betrachten können, da sie bloss auf der Wissenschaft beruht, dass alle Organe in der Iris eingezeichnet sind, wie sie übrigens auch in Ihr Gesicht gezeichnet sind, aus welchem ich stets sicherer schliesse, dass Krämpfe und wohl auch zeitweise Blutungen in Ihrem Unterleibsbereich der Grund Ihres Besuches bei mir sein dürften. Es sind im Übrigen die Organe des Körpers auch alle ebenso in Ihr Ohr gezeichnet und in Ihre Hände und Füsse, was doch die Erfolge der Reflexzonenmassage und der Akupunktur deutlich belegen, welche beiden ich aber nicht zu meiner Behandlungsmethode erwählt habe.

Bestimmt hat Ihnen ein Doktor auch schon mit einem Gummihammer auf Ihr Knie geklopft, bis Ihr Unterschenkel hochgeschnellt ist. Was anderes hat er da gemacht, als Ihren Reflex geprüft? Bei fast jedem körperlichen Geschehen entstehen Reflexerscheinungen an unzähligen weitern Organen. Wenn also schon die Lehre von den Reflexen okkult wäre, so wäre doch der prüfende Hammer des Arztes eine noch weit okkultere Methode als die Augendiagnose, weil er immerhin in der verborgenen Tiefe Ihres Beines erst einen Reflex erzeugen muss, um aus ihm dann möglicherweise auf den Zustand Ihrer Nerven und Ihres Gehirns schliessen zu können, während doch die Reflexe Ihres Körpergeschehens, die in Ihre Iris gezeichnet sind, völlig offen liegen und jedermann leicht ersichtlich sind. Allerdings verständlich sind sie logischerweise nur demjenigen, der sich damit befasst hat. Da ist eine Uterusuntersuchung, wie Sie sie wohl schon gehabt haben werden, eine weit okkultere Methode, weil dabei alles tief in Ihrem Schosse verborgen liegt. – Was meinen Sie nun, wollen wir es versuchen, oder lieber nicht?"

All die Mühe, die sich der Naturarzt bis jetzt gab, und all die Geduld und die Zeit, die er schon für sie aufgewendet hatte, wurde ihr mit seiner Frage wieder voll bewusst, weil er selbst diese Frage so gestellt hatte, dass sie fest und sicher spüren konnte, dass er nicht danach verlangte, sondern voll bereit war, ihren Entscheid zu akzeptieren, selbst dann, wenn er negativ ausgefallen wäre, sodass er sich völlig vergeblich all die vorhergehende Mühe genommen hätte. Noch nie hatte sie in ihrem bisherigen Leben eine solche Hingabe oder Anteilnahme an ihren Anständen und Nöten erlebt. Selbst ihre eigenen Eltern oder ihre beste Freundin konnten – und wollten wohl auch nicht – derart tief auf alle ihre Probleme eingehen. Gerne hatte sie ihm deshalb damals "ja" gesagt, und zwar frei und aus Überzeugung, dass bei so vieler Rücksichtnahme und so vielem Eingehen doch unmöglich etwas Schlechtes dabei sein könne – und das umso mehr, als er sie eher so behandelte wie ein guter Vater sein Kind und dabei nicht auch nur die kleinste Notiz von ihrem eben zum Aufblühen erwachten Körper zu nehmen schien. Er ging nur auf den Menschen ein und schien seinen Leib gar nicht zu berücksichtigen, ausser als Problem und insoweit, als es die Diagnose erforderte.

Hier aber, in diesem Wartezimmer, wartete sie auf einen, dem sie damals nur aus der Not und Bedrängnis ihres Leidens heraus gestattet hatte, in ihren Körper einzugreifen, und sich nur aus Not bereit finden konnte, allen seinen Anordnungen zu entsprechen und jeder weitern Untersuchung zuzustimmen.

Eigentlich wäre sie am liebsten überhaupt nicht zu dieser neuerlichen Untersuchung gekommen. Aber diese war schon vor dem Besuch beim Naturarzt vereinbart worden. Und sie getraute sich nicht, sie ohne Angabe von Gründen abzusagen. Den wirklichen Grund aber, der in der gewonnenen Erkenntnis aus dem gehabten zweistündigen Gespräch mit dem Naturarzt bestand, glaubte sie ihm unmöglich sagen zu dürfen. Und so kam es, dass sie nun trotz besseren Wissens noch einmal all das Über-flüssige und Peinigende über sich ergehen lassen wollte. Allerdings mit dem festen Vorsatze, die Behandlung mit diesem Male abzuschliessen, was sie sich aber erst zuletzt zu sagen vornahm, weil sie den Doktor nicht ungehalten machen wollte, bevor er sie untersucht oder behandelt hatte.

Sie musterte all die vielen Patientinnen im Wartezimmer und sah ihre Gesichter von Sorge, Schmerz oder banger Erwartung gezeichnet, einige wohl auch von Gleichgültigkeit. Beim Anblick so vieler Gesichtszüge dachte sie unwillkürlich an die Lehre ihres Naturarztes, dass doch die Mundlinien ebenfalls etwas okkultes, weil tief Seelisches verratend, seien, und dass gar eine Uterusuntersuchung sehr okkult sein müsse, indem diese sich tief in ihrem Schosse abspiele. Dabei umspielte ein Lächeln ihre Lippen, weil sie schalkhaft aus dieser Feststellung zu schliessen begann, dass doch der versierte Arzt zumindest zuerst das sofort erkenntliche Übel der Sorge und der bangen Erwartung oder der Verdriesslichkeit – ersichtlich am Mundspalt – beheben könnte, wenn er doch oft in der Tiefe eines Schosses nichts Krankes zu finden vermochte. Wenigstens hätte er dazu seine Wartezeiten drastisch verkürzen können, um dem Einzelnen das Bewusstwerden all des möglichen oder bereits bestandenen Leidens zu verkürzen.

Ganz anders – schien es ihr plötzlich – müsste das Warten bei dem Naturarzte von nun an für sie sein. Da ist doch die Erwartung – ein Warten auf Hilfe und Erleichterung, ein Warten auf die Erklärung, ein Warten auf die stärkenden und einsichtsvollen Worte eines Freundes, so dachte sie sich. Sie wird es ja sehen, wenn sie kommende Woche wieder zu ihm gehen wird. Alles läuft dort auf den ewig lebenden Geist hinaus, während es sich hier nur um den Leib, diese schwerfällige Prüfungs- und Läuterungsmaschine des Menschen handelt, und damit um einen früher oder später von der ewig lebenden Seele abfallenden Teil, der für sich selber nichts gewinnen kann. Wie hatte ihr doch der Naturarzt geantwortet als von der Unsterblichkeit von Seele und Geist die Rede war und sie ihn dabei fragte, an welchen Gott er denn glaube, an den katholischen oder den reformierten, oder gar an einen fremdländischen, vielleicht indischen oder arabischen?

"An den lebendigen glaube ich", hatte er ihr geantwortet und weit ausholend erläutert, dass für ihn der lebendige Gott wohl der christliche sei, aber weder derjenige der einen, noch andern Glaubensrichtung, denn der sei so falsch oder verfälscht wie der arabische oder der indische. Der wahre und lebendige Gott sei die Liebe und sei Geist, wie das Evangelium sage. Die Liebe aber wohne im Herzen, als des Menschen unsterbliche Kraft, die es zu reinigen gilt von allem Eigennutz, weshalb es dann heisse, wer in der Liebe bleibt, der bleibe in Gott, und Gott in ihm (l.Joh.4.16); es heisse nicht, wer in der Auslegung oder in der Schrift selber (hängen) bleibe, bleibe in Gott. Vielmehr heisse es weiter, dass eine Zeit kommen werde, in welcher Gott weder im Tempel, noch auf einem Berge angebetet würde, sondern im Geiste und in der Wahrheit (Joh. 4. 21), und dadurch in aller Tat. Und ferner heisse es, dass sich Jesus den ihn Liebenden offenbaren würde (Joh. 14. 2l), und dass alle von Gott gelehrt sein werden (Jer. 31. 33 & 34), was alles unmöglich heissen kann, dass der Mensch nur aus der Schrift belehrt würde. Denn hiesse es das, wozu ist dann diese Verheissung überhaupt nötig, dass es so werden würde? Denn aus der Schrift seien die Menschen allezeit, seit der Zeit nach Moses gelehrt worden, aber von Gott, dem Vater, der die Liebe ist, leider nie, weshalb Jesus zu seiner Erdenzeit eben dieses Prophetenwort habe wiederholen müssen, indem er dazu seinen Zweiflern gegenüber erklärt habe: "Wer es nun hört vom Vater und lernt es, der kommt zu mir" (Joh.6. 45). Das zeige doch deutlich genug, dass er das Volk nicht aus der Schrift ihn erkennen hiess, sondern aus ihrer Liebe, als dem Vater, der die Menschen ziehe.

Auch habe Jesus gesagt, dass man daran seine Jünger erkennen werde, dass sie Liebe untereinander haben werden (Joh. 13. 35). "Ist das aber Liebe, wenn sich seine heutigen Jünger, wie sie in Form der so genannten "Geistlichen" bestehen, für ihre geringe äusserliche Mühe bezahlen lassen?", so fragte er sie damals und fügte hinzu "Vielmehr ist das nichts anderes als ein den Jüngern widerratenes Sorgen um den nächsten Tag (Matth. 6. 31/33). Dabei wurde den Jüngern ausdrücklich noch hinzu geboten, weder Gold, Silber noch Erz mitzuführen auf ihren Reisen und keine Taschen zur Weg-Fahrt zu haben (Matth. 10. 10), und damit nicht zu sorgen für den Leib, sondern stets nur für das Reich Gottes, weil ihnen dann das zu ihrem irdischen Leben Notwendige ohnehin zufallen werde. Sehen Sie, diese alle sind also nicht von Gott gelehrt, sondern von den Menschen (auf der Universität); und wenn sie beten für ihre Gläubigen, so wird es nicht besser mit ihnen, und würden sie einem die Hand auflegen, so würde er nicht gesund. Darum braucht es doch so viele Ärzte in heutiger Zeit, weil die selbsternannten Jünger und so genannte Nachfolger Christi den rechten Lebenswandel der uneigennützigen Liebe weder kennen, noch ihren Zuhörern vorleben, und sie sie deshalb nicht von den krankmachenden Gedanken und daraus resultierenden verkehrten Tätigkeiten abzuhalten vermögen. Und noch viel weniger besitzen sie die durch den von Jesus gebotenen Lebenswandel in ihnen erstarkte Kraft des Geistes Gottes zur Heilung anderer. Auch ermahnen sie aus dem Grund ihre Schar nicht zu sehr, wenn sie vom rechten Wege abweicht, weil sie sonst dadurch alle ihre Anhänger nach und nach verlieren würden, und es mit ihrem grossen irdischen Zahltag dabei bald ein Ende hätte. Ich aber ermahne meine Patienten eindringlich, vermehrt dem Geiste der Liebe und der Wahrheit zu dienen, und zeige ihnen auch wie, und ich habe auch Sie dazu ermahnt in meinen vorigen Worten. Ob Sie das Angeratene auch tun, oder mich deshalb in der Folge meiden werden, ist mir gleichgültig, denn ich empfange meinen Lohn nicht von Ihnen.

Wohl müssen Sie mir der Ordnung halber eine Taxe zahlen, aber rechnen Sie selber aus, wie weit diese reichen würde, würde ich bei einem jeden so viele Zeit verwenden – was bei Ihnen diesmal, während der allgemeinen Sprechstunde, auch nur möglich war, weil Sie die Letzte in der Reihe waren. Sehen Sie, es gab eine Zeit, da nahm ich es mir vor, für meine Hilfe gar niemandem etwas zu verlangen. Was mir aber aus Anerkennung und aus Liebe gegeben würde, würde ich dankbar annehmen. Ein ganzes Jahr lang hielt ich mich an diesen Vorsatz, und ich hatte am Ende des Jahres sogar etwas mehr übrig als die Jahre zuvor. Aber mich ärgerte, dass dabei die Grossen oft knickerig waren, während die Kleinen mir in ihrer Liebe und Dankbarkeit oft zu viel geben wollten. Und weil ich denn doch meinem irdischen Berufe nach Arzt bin, und nicht Verkündiger des Reiches Gottes, so kam ich zum Schlusse, dass es besser ist, ich verlange für die Tätigkeit in meinem Beruf all jenen ein bescheidenes Honorar, die nichts Gutes über ihre leibliche Sphäre hinaus suchen oder wünschen. Den Armen und Bedrängten im Geiste aber gebe ich, was ich habe, umsonst, wie ich selber es auch umsonst empfangen habe. Und glauben Sie mir, den Armen und in irgendeiner Not lebenden helfe ich lieber, denn diese lassen sich eher und vollständiger helfen und begeben sich dankbar auf den ihnen gezeigten Weg der Liebe und des geistigen Fortschrittes, im Gegensatz zu den andern, die stets die weltlichen Vorteile im Auge behalten wollen und sich aus dieser materiellen Orientierung heraus auch eher vom Menschen Hilfe erhoffen, anstatt vom göttlichen Liebegeist. Ich selber aber brauche in der Welt nur weniges, sodass ich mir nicht jede Stunde bezahlen lassen muss."

Bei den Gedanken an diesen Teil des Gespräches wurde es der Tochter wieder so ausserordentlich wohl wie damals, als sie die Worte frisch vernommen hatte, und sie fühlte sich erstmals völlig frei in diesem elenden Wartezimmer. Sie achtete weder auf die Neuankommenden, noch auf die zur Behandlung Gerufenen, sondern war ganz mit der beseligenden Erfahrung der Gottesnähe beschäftigt, so wie sie sie seit jenem Gespräch schon mehrere Male erfahren hatte, wenn sie jeweils jeden Morgen sich – nach dem Rate des Naturarztes – in einem liebe- und hingebungsvollen innern Gespräch mit Gott vereinte, indem sie versuchte, alles ihr Aufgetragene geduldig anzunehmen, und aus kindlicher Liebe, Zuversicht und dem heissesten Wunsche, den Vater im Himmel einmal zu verspüren – wie ihr der Naturarzt damals angeraten hatte – darum bat, dass ihr Gott doch einmal nur für drei Tage die Schmerzen abnehmen möge, damit sie daraus ersehen könne, dass und wie er – der grosse Gott – auch in einer so kleinen Tochter – und doch schon Sünderin – mächtig und wirksam sein könne. – Sie bat aber ganz bewusst nur für drei Tage, denn bäte sie um mehr, wo bliebe da ihr Wille, alles ihr Auferlegte zu tragen? Sie wollte ja nur Gottes Kraft und Nähe einmal erfahren, wenn sie sich schon entschieden hatte, alle Hoffnung auf ihn zu setzen, und wollte nicht um irdisches Wohlergehen bitten.

Kein Leiden sei zwar von Gott gewollt, aber von ihm zugelassen um der Härte und der Gleichgültigkeit der Menschen willen, hatte ihr der Naturarzt gesagt; und in dem Masse, wie sie sich um Gott und seinen Willen kümmere und auch bereit sei, notfalls das schwere Kreuz Christi mitzutragen, in dem Masse würde ihr Leiden ohnehin verschwinden, erklärte er weiter. Dann auch habe sie eine Geistheilung erlangt.

Wohl gelang ihr das öfters; und sogar eine ganze Woche lang, anstatt nur drei Tage, blieben die Schmerzen auch aus. Aber als sie wieder kamen, da wurde sie etwas vertrauensschwach. Einmal aber dachte sie während eines Schmerzanfalles an Christi Leiden am Kreuze, das ja ein freiwilliges war und für uns Menschen dargebracht wurde. Und in einer Art Liebeswallung litt sie gerne mit ihm, im Wunsche, dieses hätte seinen damaligen Schmerz lindern mögen. Dabei hörte aber augenblicklich aller Schmerz auf, und ihre Liebe zu Gott wuchs so stark, dass sie in der Arbeit innehielt, sodass ihr Lehrmeister sie darob gefragt hatte, was sie denn habe. "Es ist mir so merkwürdig geworden", hatte sie ihm ausweichend zur Antwort gegeben, und der Meister meinte, dass sie aber doch gar gesund und eher wie erfreut aussehe, worauf sie ihn mit den Worten zu beschwichtigen suchte, dass ja nun auch alles schon wieder vorbei sei.

Sicher hatte sie also inzwischen zu erkennen vermocht, dass die Hinwendung zu Gott nicht ohne Einfluss auf das Leibesgeschehen sei und dass auch einfache und nicht gerade allzu reine Menschen bei Gott Gehör finden, wenn sie ihm nur in ihren Herzen einen rechten Platz gewähren wollten. Bisher hatte sie eines Teiles stets geglaubt, ihre Anliegen und Nöte seien Gott zu gering, um sich darum zu kümmern, und andern Teiles fühlte sie sich zu unwürdig, um um Gottes Hilfe zu bitten. Aber der Naturarzt hat ihr beides nicht gelten lassen. Zum einen sagte er, dass Gott seine Sonne und den Regen auch den Feldern derjenigen zukommen lasse, die seiner vergessen haben und dass er – wie die Sonne selber – in allen wirksam werde, die sich ihm hingäben, gleich wie auch die Sonne jeden erwärme, der sich in ihr Licht stelle. Und zum andern sagte er, dass Gott in Jesus eben deshalb in der Nacht und aller Niedrigkeit zur Welt gekommen sei, um dem Menschen dadurch anzuzeigen, dass er ein Gott der Hilfe sei in aller Not, ein Licht der Welt und jener Menschen, die arm an Irdischem und ohne Licht der Weisheit seien, wenn sie nur Liebe hätten, ihn anzunehmen, und ihn nicht von der Türe weisen würden, wenn er – wie damals schon, bei seiner irdischen Ankunft – während ihrer behaglichen Ruhezeit, des Abends, an ihre Türen klopfe, um Ein-lass zu finden.

"Damals, bei seiner Geburt aber gaben die damaligen Menschen vor, keinen Platz mehr für ihn, resp. für seine Eltern zu haben. Und heute haben sie keine Zeit und keine Lust", sagte er weiter und fuhr dann fort, "Ein Stall alleine ist ihm also übrig geblieben und als erste Herberge zur Verfügung gestanden! Und dennoch ist er zu uns Menschen gekommen und hat also in einem Stalle sein Wirken in dieser Welt begonnen. Das bedeutet doch offensichtlich, dass er in der Welt mit denjenigen Herzen der Menschen vorlieb nimmt, welche zwar noch viele tierische Eigenheiten haben, wenn sie im Übrigen nur noch einen Rest Liebe besitzen. Denn nur die Liebe ist fähig, wieder die grosse Liebe Gottes zu erfassen." –  Und als sie dem Naturarzte im spätern Verlauf des Gespräches in ihrem immer grösser werdenden Vertrauen einmal eingestand, dass sie auch im sinnlichen Bereiche eine Sünderin an sich selbst sei, da nahm er dieses Thema nochmals auf und sagte: "Wenn Sie wüssten, was die Sinnlichkeit bedeutet, solange die Liebe des Menschen noch über ihr steht oder in ihr steckt, so würden Sie das Gleichnis noch besser erfassen, welches im erzählten Geschehnis der Geburt Jesu enthalten ist:

Der Stall, als eine Wohnstätte für Tiere, in welchem das Jesuskindlein zur Welt gekommen ist, entspricht bei der persönlichen Ankunft Jesu in eines jeden Menschen Herzen eben diesem menschlichen Herzen in seiner noch ungereinigten Natürlichkeit. Denn auch in ihm hausen bis zu diesem Zeitpunkt nur Tiere oder entsprechend eben tierische Triebe der Sinnlichkeit. Und der Atem der Tiere, welcher die Stallluft in der kühlen Winterszeit etwas erwärmt, entspricht sodann dem der Sinnlichkeit innewohnenden Liebeleben der noch ungereinigten Seele, sofern sie noch nicht zu sehr in die Sünde sich begeben hat, weil sie dabei ihrer Liebe verlustig geworden wäre. Diese Liebe alleine also ist es, die den im Menschen – zufolge der Respektierung seines freien Willens – anfänglich noch ohnmächtigen Gott zuerst erwärmen muss, denn es findet sich ja im bloss natürlichen Menschen noch keine gereinigte Liebe vor. Diese noch ungereinigte und sinnliche Liebe ergreift dabei aber die göttliche Liebe und Ordnung, wenn sie diese als gut und ihr wohltuend erkannt hat, dadurch, dass sie sich nach ihren Forderungen richtet, und reinigt sich dadurch selbst von allem Eigennutz, dient am Ende nur ihr alleine und reift so die Kraft und Macht Gottes im Menschen aus, weil durch ihre Hingabe der göttlichen Weisheit in ihrem wirkenden Handeln keine Schranken mehr gesetzt sind, da ja ihr eigener Wille mit dem göttlichen Willen Eines geworden ist. Dann erst wird sie unbeschadet ihrer innersten Freiheit Wunder des göttlichen Wirkens zu schauen imstande sein und diese auch erleben, wie das Judenvolk es zu Jesu Erdenzeit erleben konnte.

Ein Beispiel dafür, dass eine zu Beginn noch ungereinigte Liebe Gott zu erkennen vermag und sehr wohl Gottes Liebe ergreifen darf, wenn es aus reiner Verehrung Gottes geschieht, ist uns in der Begebenheit der Salbung Jesu durch die Sünderin Maria Magdalena gegeben, die in grosser Ergriffenheit ihrer Liebe Jesu Füsse mit ihren Tränen benetzte, mit ihren Haaren trocknete und hernach salbte. – Der gebildete Weltverstand der studierten Pharisäer hingegen vermochte die Liebe Gottes in der Ankunft seines Sohnes nicht zu erkennen." –  Und eben dem Beispiele dieser Maria-Magdalena wollte sie nun folgen. Und die Erlebnisse schon des bisherigen, kurzen Versuches haben ihr eines gezeigt: Dass sie nämlich bei dieser Verbindung mit Gott, ihrem Ursprung und Vater, nie mehr ganz so alleine stand wie vorher. Wohl hatte sie vorher mit vielen Kontakt und konnte sich auch ausgezeichnet unterhalten, aber innerlich hatte sie stets das Gefühl der Leere bei allen scheinbar noch so tiefen Gesprächen. Irgendwie war keine Wahrheit zu finden bei ihren Gesprächspartnern, ohne dass sie anzugeben vermocht hätte, was denn eigentlich die Wahrheit sei. Bis zu jenem Gespräch mit dem Naturarzt, dem sie doch anfangs noch so kritisch begegnet war, der aber alle Kritik anerkannte und versucht hatte, diese durch das Aufzeigen der wahren Sachlage zu entkräften.

Nun sass sie wieder im Wartezimmer der Welt, ein Wartezimmer, da schon mancher lange, aber immer vergeblich gewartet hat. Denn selbst wenn einer dabei dem Leibe nach gesund würde, so bleibt er aber dennoch alleine und in seiner Seele unerfüllt, ohne geistigen Trost und Beistand, und weiss nie, wann die nächste Krankheit über ihn kommen wird und ob und wie diese dann zu heilen sein wird und ob allenfalls derselbe Arzt noch praktizieren wird, der ihm das erste mal so gut geholfen hat. Das ist ein Warten auf Besserung, aber auch ein Erwarten der nächsten Verschlechterung.

Sie aber brauchte ja nun jetzt in Wirklichkeit nicht mehr zu warten auf irgendeine Besserung oder irgendeinen Erfolg, sondern nur noch auf die Beendigung dieses unseligen Verhältnisses mit ihrem Gynäkologen. Denn sie hat ja schon Hilfe gefunden – wirksame Hilfe – in der Erkenntnis der Möglichkeit der Hinwendung zu Gott, ihrem Vater. Wohl war das Leiden noch nicht verschwunden, aber es liess sich mit dieser für sie neuen Hilfe mindern und daneben erst noch ihr Gemüt, das zuvor zwar nicht eben gedrückt war, erheblich aufhellen, sodass für sie die Sonne auch dann zu scheinen begann, wenn es draussen regnete. Und wer das einmal erlebt hat, der braucht die Nacht nicht mehr zu fürchten – und sie war ja nun draussen und in der Nacht! Draussen in der Welt und deren Nacht des Geistes. Dort, wo die eigentlich zum Sehen und fürs Licht Geschaffenen finster in der okkulten Nacht einer Gebärmutter tasten müssen, weil sie dort zu finden glauben, was niemals dort begründet liegen kann. Bei solchen Gedanken wurde es ihr stets lichter, und sie empfand die innere Nacht des Wartezimmers als Gegensatz zu ihrer innern Sicht aufkeimender Hoffnung und beginnender Liebe; welcher Gegensatz aber das Empfinden ihres Lichtes nur stetig zu verstärken begann, sodass die sonst noch so lange und leere Zeit des Wartens sich plötzlich zu füllen begann und damit zugleich verkürzte auf einen ungemein lebhaft empfundenen Augenblick der innern Sammlung und des Ordnens all ihrer Lebenskraft.

Sie empfand denn auch bei der Untersuchung nicht mehr vor allem ihr totes Fleisch, das sie mit dem Arzte dabei teilen musste, sondern nur in ständig vermehrtem Masse ihr aufkeimendes Licht, im Gegensatz zur Finsternis der Materialität von Gedanken und Gefühlen des manipulierenden Arztes.

Einzig, als sie ihm nach der Untersuchung und Behandlung erklärte, dass sie mit dieser Visite zum letzten Male seinen Rat in Anspruch genommen habe und künftig auf eine andere Weise versuchen wolle, von ihrem Leiden frei zu werden, da donnerten in Form von Warnungen und allerschlechtesten Prognosen noch einmal die Weltansichten – durch den Mund des Arztes – in so starkem Masse auf sie nieder, dass sie innerlich einen Moment lang ins Wanken geriet und die üblichen Bedenken der lauen Menschheit von neuem zu übernehmen versucht war. Als aber dann auch die Praxisgehilfin begann, den Arzt als grossen Mann darzustellen, der nur das Beste für seine Patienten wolle, wurde diese "Grösse" vor den Augen ihres Geistes so grotesk beleuchtet, dass ihr unwillkürlich das Bibelwort einfiel, dass alles, was gross ist vor der Welt, vor Gott ein Gräuel sei, und sie konnte sich äusserst leicht endgültig von dieser grossen Welt trennen, den Trost in ihrer Brust spürend, dass der kleine, sich vor ihr zuerst verteidigen müssende David von einem Naturarzte dennoch mit seiner Schleuder die Ziele des Geistes besser zu treffen vermochte, als der grosse Goliath mit seinem mächtigen Speer.

Nun war sie frei, aber – wie sie oftmals spürte – noch lange nicht am Ziele, sondern erst am Anfang aller Anfänge. Da aber bei einer schönen Wanderstrecke das Wandern zur Lust wird, so war dieser Anfang für sie ja nur die Garantie einer möglichst langen Seligkeit des Wanderns. Und welche Wanderstrecke ist nicht schön, wenn man dabei einen liebevollen Kameraden hat, auf welchen Verlass ist und der imstande ist, einem auch bei scheinbar unangenehmen Erlebnissen das Schöne und Wertvolle darin so plastisch aufzuzeigen, dass man als Folge davon unwillkürlich wieder durch Schönes wandert, wie unwirsch es dem äussern Auge anfangs auch erscheinen mochte. Und dieser Kamerad war in äusserer Form vorderhand wohl noch der Naturarzt. Aber die stets lebendiger fühlende Tochter war bereits so hellsichtig in ihrem eben erst erweckten Geiste, dass sie als wirklichen Kameraden auf ihrer Wanderung zu ihrer Vollendung hin Gott, ihren Vater in der Gestalt Jesu sehr wohl zu erkennen vermochte.

Und eingedenk der vom Naturarzt enthüllten Entsprechung war sie bemüht, den Tieren im Stalle Bethlehems gleich, ihren Odem fleissig, über das in der lieblosen Welt frierende Jesuskindlein auszuhauchen um es zum Wachsen und ferneren Wirken in ihrer Brust anzuregen, damit dann der in ihr ausgewachsene Jesus einmal aufstehe und den Tempel ihres Herzens endgültig von allem Mist und all den Tieren zu reinigen beginne; denn so viel verstand sie nun wohl, dass der Tempel – in der biblischen Geschichte der Tempelreinigung – nichts anderem als ihrem liebenden Herzen entsprechen könne, das bestimmt ist, Gott in sich zu fassen – wenn es doch schon heisst, wer in der Liebe – wohl gereinigten Liebe – bleibe, in Gott bleibe, und vor allem Gott in ihm.

Aber eben, die Liebe zu reinigen ist kein kleines Ding! Dass die Feinde zu lieben nicht eine Aufgabe von heute bis morgen ist, sondern eine für das ganze Leben, das war ihr schon lange klar gewesen, da sie als ein Kind streng gläubiger Eltern mit diesen Forderungen der Bibel schon lange vertraut war. Aber wie schwierig die Liebe, selbst bei dem Liebsten, das man kennt, zu festen und von allem Eigennutz zu reinigen ist, das wusste sie noch lange nicht, ja sie konnte es nicht einmal erahnen, bis sie von ihrem Naturarzte darauf aufmerksam gemacht wurde.

Das war bei ihrem zweiten Besuch bei ihm, eine Woche nach der Beendigung der Behandlung beim Gynäkologen, als sie ihm die für sie unverständliche Erfahrung erzählte, dass sie oft mit gutem Erfolge ihren Vater im Himmel bei ihren Krämpfen um Milderung des Leidens bitte und dieses dann zumeist ein bis zwei Minuten danach nachlasse, dass es aber sehr oft vorkomme, dass sie nach bereits zehn Minuten wieder dieselben Krämpfe überfielen und sie von neuem beten müsse, was dann auch zumeist ein erneutes Nachlassen zur Folge habe. Aber sie könne sich unter solcher Erscheinung keinen so richtig gütigen und vernünftigen Vater vorstellen. Denn es erscheine ihr entweder so, als sei er vergesslich und würde schon zehn Minuten nach der Bitte vergessen, um was sie ihn gebeten habe oder aber, es habe den Anschein, dass er nicht voll und ganz auf ihre Leiden und Probleme eingehe. Darauf antwortete ihr der Naturarzt:

"Es sieht in Ihren noch unerfahrenen Augen schon so aus, als würde der Vater nicht richtig auf Ihre Bitte eingehen. In Wirklichkeit aber ist es gerade umgekehrt. Denn er liebt Sie endlos mehr, als Sie sich das vorstellen können. Und in dieser Liebe spürt er als Ihr ewiger Vater wohl, dass Sie ihm nur darum im Gebete begegnen, weil Sie etwas für sich selber wollen, und nicht etwa deshalb, damit Sie vor allem bei ihm, dem liebe- und sorgevollst auf Sie Wartenden seien. Es freut ihn dabei wohl recht sehr, dass Sie sich in Ihrer Hilflosigkeit zumindest gerade an ihn, den Kräftigsten und Hilfsbereitesten wenden, und nicht an einen selbstsüchtigen Menschen, und dass Sie auch auf ihn hoffen und an seinen guten Willen glauben. Aber es schmerzt ihn ein wenig, dass Sie nicht seinetwegen, sondern bloss ihretwegen zu ihm kommen. Kämen Sie nämlich seinetwegen, anstatt ihretwegen, so würde er in Ihnen frei und könnte Ihnen in solcher Freiheit auf einmal unendlich Vieles geben, worunter die Milderung der Schmerzen und völlige Gesundheit das Kleinste wäre. Denn das werden Sie ja schon aus den natürlichen Erscheinungen wissen, dass der Mensch in grosser Freude alle Schmerzen vergisst und dadurch verliert. Das zeigt sich doch schon an einer glücklichen Mutter, welche ihr eben geborenes Kind freudig in ihre Arme aufnimmt und dabei plötzlich keine Schmerzen mehr fühlt, die aber nach Legung der Freude wohl wiederkommen, während sie aber bei Gottes freiem Wirken in Ihnen, ob Ihrer grossen Freude an ihm selbst, nicht mehr wiederkehren würden, weil in Gott die Vollendung liegt und er deshalb alles wieder vollendet, wenn er so richtig frei tätig sein kann und darf. Würde er aber das bei Ihnen schon bewirken, wenn Sie ihn noch nicht alleine seiner selbst wegen suchen, sondern bloss seiner Hilfe wegen, so würden Sie ihn bald nach der Hilfeleistung wieder aus den Augen Ihres Gemütes verlieren, weil ja nicht er selbst, sondern bloss seine Hilfe der Grund Ihrer Hinwendung zu ihm war. Und all die Seligkeit, die sich zwischen zwei sich Liebenden entfalten könnte, bliebe aus. Und gerade das ist es ja, was er in seiner grossen Liebe und Weisheit verhindern möchte. Es bleibt ihm deshalb vorderhand nicht viel anderes übrig, als Ihnen Ihren Wunsch und Ihre Bitte nach Milderung der Schmerzen eine kurze Zeit zu erfüllen, nach welch kurzer Zeit er Ihnen aber eine erneute Gelegenheit verschaffen möchte, wieder erneut Ihr Gesicht ihm zuzuwenden mit der erneuten Bitte um Linderung. Dabei hat er dann sein Möglichstes zu Ihrer Vereinigung mit ihm selbst getan. Das Weitere liegt in der Stärkung Ihrer Geduld und Ergebung und in der Vertiefung Ihrer Liebe zu ihm, die frei aus Ihnen selber kommen muss, denn er ist die Liebe selbst, also Liebender, der niemals einen Geliebten zu etwas zwingt, sondern ihn nur einlädt, lockt und auf ihn wartet bis zur Zeit der Reife seiner Liebe zur völligen Einigung.

Zum Überfluss meiner Erklärungen können Sie sich auch folgende Situation möglichst bildlich-sinnlich vorstellen: Sie hätten bereits ein Kind, welches sich gut entwickelt hat, dessen einziger Grund, sich an Sie zu wenden aber bloss bei Tische bestünde, wenn es nach noch mehr Speise verlangete. Es freut Sie zwar der Appetit des Kindes und auch der Umstand dass ihm die Speisen schmecken, aber es stimmte Sie dennoch traurig, dass es dabei gar nie Ihre Liebe und Zuwendung empfindet, die all die Speisen für das hungrige Kind so herrlich zubereitet hat. Es isst zwar stets wohlgemut und behaglich, so, als gäbe es nichts Schöneres und Köstlicheres, als sich in aller Gemütlichkeit den Magen zu füllen. – Aber Sie haben sich doch bestimmt nicht darum ein Kind gewünscht, damit Sie jemanden haben, der die von Ihnen gekochten Speisen verzehrt, sondern darum wohl nur, damit Sie in Ihrem Kinde vor allem einen Acker haben, in welchen Sie die Früchte Ihrer Erkenntnis und all Ihres Erlebens säen könnten. Ein Kind, das Ihnen dann alle Ihre auf es verwendete Liebe ab- und in sich aufnähme und Ihnen mit der Fülle der aufgenommenen Liebe, die sich in ihm selbst neu ordnen würde, wieder entgegenkäme, sodass Sie in dieser von Ihrem eigenen Wesen verschiedenen Ordnung eine Bereicherung erfahren, weil diese neue Ordnung sich durch das Band der Liebe verbinden und mitteilen will, und weil in diesem Austausch, der fernerhin stattfindet, die Beseligung beider Herzen liegt.

Wohl besteht bei diesem Wunsche von Ihnen vorerst die Notwendigkeit, dem auch leiblich noch unfertigen und schwachen Kinde vor allem die äussere Nahrung für seinen Leib zu reichen. Aber dieser Leib ist nur eine äussere Notwendigkeit. Denn Sie möchten Ihr Kind ja vor allem in seinem innern Erleben und Erkennen beglücken durch den Ihnen selbst gewordenen Reichtum. Nun aber will das Kind gerade von ihm keine Notiz nehmen, sondern eben nur davon, was zwar – als Nahrung – ebenfalls notwendig ist, aber eben nur als Vorbedingung zu der eigentlichen Erfüllung seiner und Ihrer Seligkeit. Was können Sie da einstweilen tun, wenn Sie nicht strafend oder richtend gegen Ihr eigenes Kind auftreten wollten, da es ja nichts Böses begehrt, sondern nur den wahren Sinn des Menschseins verkennt, der doch im Geiste der Liebe des gegenseitigen Gebens und Nehmens besteht, sowie in der Vervollkommnung, die daraus resultiert?

Sie können da wohl auch nicht viel anderes tun, als die jeweilig gewünschten Gaben nur ganz knapp bemessen und dabei hoffen, dass das Kind irgend bei einer Bitte Sie selber einmal anblicken wird und dabei erkennt, wie liebevoll besorgt Sie stets auf es warten, und es in Ihrer grossen Liebe und Hinwendung dann Ihren mächtig wirkenden innern Reichtum zu ahnen beginnt, aus dessen grosser Fülle Sie ihm mehr zu geben bereit wären, als es sich in seiner noch kindlichen Beschränktheit schon vorzustellen imstande ist. Es begänne dabei dann endlich seine innere Armut zu empfinden und die ihm bis jetzt noch fremd gebliebene Fülle ebenso als gut zu erkennen wie Ihren steten Willen, zu geben. Es empfände, wenn es sich in diesen Unterschied zwischen euch beiden dann vertiefen würde, dass Sie ihm alles, es Ihnen aber nichts tun könnte, und erkennete dabei zugleich seine zweite, aus der ersten resultierende Armut, die in der Unfähigkeit, innerlich wahrhaft annehmen zu können, besteht. Und darin erblickte es eines Tages dann, wenn seine Liebe zu der Fülle etwas mehr gediehen und gestärkt worden ist, auch eine Armut bei Ihnen. Jene Armut nämlich, dass Sie von ihm, zufolge Ihrer in seinen Augen über-grossen Fülle, nie etwas empfangen können. Und es sucht dann, im Stärkerwerden der Liebe, nach Möglichkeiten, Ihnen Ihre Armut ihm gegenüber zu bereichern. Im stets grösseren Kummer über seine Unfähigkeit, Ihnen etwas tun zu können, findet es endlich die blosse Möglichkeit des Dankes, der im übergrossen Wunsche besteht, Ihnen etwas geben zu können, um Sie zu bereichern. Dieser Dank ist dann aber auch erst der allergrösste Reichtum, den Ihnen Ihr Kind je geben kann. Denn er ist dann das willige und geduldige Annehmen-Können all Ihrer Gaben, im alleinigen Bestreben, Ihnen dadurch den Gewinn der Erleichterung von Ihrer Überlast zu verschaffen. Ist also die Befähigung, nicht mehr um seiner eigenen Bereicherung willen anzunehmen – oder gar zu fordern –, sondern um Ihrer Liebe und Hingabe willen von Ihnen anzunehmen, damit Ihr Liebesdrang entlastet werde und Ihre Seligkeit sich erhöhen möge durch die Vereinigung, die beim himmlisch richtigen Geben und Nehmen geschieht. Ein so weit entwickeltes Kind wäre dann in der weitern Entwicklung seiner himmlischen Richtung mit der Zeit sogar bereit, mehr von Ihnen anzunehmen, als es zu verkraften fähig wäre – wenn es Sie damit nur glücklich zu machen wähnte.

Und nun sehen Sie, Sie haben mir doch unter anderem vorhin auch noch diejenige Begebenheit erzählt, da Sie mit dem am Kreuze Leidenden mitleiden wollten, wenn dadurch möglicherweise nur sein eigenes Leiden verringert worden wäre. Und damals verliess Sie der Schmerz ganz. Sehen Sie, da hatten Sie sich ganz ihm alleine zugewendet um seiner Liebe und möglichen Seligkeit willen. Was meinen Sie, haben Sie sein Leiden damit auch wohl wirklich verringert? Ja, gewiss! Denn sein Leiden war – und ist heute noch – die Gleichgültigkeit der Menschen seiner höchsten Vaterliebe gegenüber, die erst die Menschen so schlecht werden lässt, dass sie ihren eigenen Erlöser als Vater im Sohne an das harte Kreuz zu schlagen imstande sind."

Das war eine äusserst tiefe und ihr ganzes Wesen ergreifende Belehrung über die Liebe und ihr Wesen – sofern sie rein ist –, die sehr lange und nachhaltig in ihr fortwirkte. Aber dennoch musste mit der Zeit dann wieder ein Anstoss zu noch vermehrter Reinigung und Festigung der Liebe erfolgen – bei ihr ebenso, wie bei einem jeden Menschen, der zur Vollendung gelangen will. Bei ihr war das bei einem viel später erfolgten Besuch einmal der Fall. Sie besuchte nämlich ihren Naturarzt schon über längere Zeit alle 14 Tage einmal und konnte dabei oft mehrere Stunden mit ihm sprechen, ohne dass er ihr dafür jeweils eine Taxe verlangte, da er sagte, es wäre doch ein merkwürdiges Ding, wenn ein Kind eines Vaters einem seiner Geschwisterchen eine Taxe verlangen würde, wenn sie zusammen sich über die Güte und Liebe ihres Vaters besprechen wollten.

Diese Uneigennützigkeit war es denn auch, die sie dem Naturarzte stets geneigter machte, während hingegen seine Worte sie nur ihrem Vater im Himmel geneigter machten. Sie sagte damals zu ihm: "Sie haben mich letztes Mal den Wert der ausgesprochenen Wahrheit an vielen Beispielen so richtig erkennen gelehrt. Und ich habe nun als Folge davon eine Bürde mitgebracht, die ich gerne loswerden möchte. Aber ich fürchte, das ungeschickt zu tun". –  "Nun, so versuchen Sie es", hatte er ihr geantwortet, "denn Sie wissen ja, dass ich alles nach der Absicht, und nicht nach der mehr oder weniger geglückten oder missglückten Form beurteile; und so kann Ihnen ja nichts fehl gehen". –  "Ich liebe Sie nämlich", fuhr sie ungeschickt dazwischen. Und einen Moment lang trat eine Ruhe ein. Der Naturarzt musterte dabei ruhig, aber mit grosser Konzentration seine Patientin, bevor er ihr antwortete: "Es ist gut, dass Sie mir das gesagt haben: Das gibt mir nämlich Gelegenheit, Ihnen den Unterschied von Liebe und Sympathie oder Neigung zu erklären. Denn obwohl aus Sympathie und Neigung sich eine Liebe entwickeln kann, so sind doch die ersten beiden noch lange keine Liebe. Sie schätzen an mir bestimmt die Zeit, die ich mir nehme, um Sie weiter zu bringen auf dem Wege der Erweckung Ihres Geistes. Aber Sie schätzen dennoch das, was ich Ihnen gebe, bereits viel höher ein als mich selbst. – Sie müssen mir dazu nichts erklären wollen –, denn es ist das auch richtig so. Denn wer Gott nicht mehr liebt als alles in der Welt, der ist seiner nicht wert. Sie haben nun noch die Gelegenheit, in der Liebe zum Vater im Himmel so stark zu werden, sodass diese dereinst einmal auch höher als die Liebe zu einem zukünftigen Gemahl zu stehen kommen kann – denn wie ich es fühle, so haben Sie bis jetzt noch keinen dazu auserlesen. Aber Ihre kräftige Liebe, im Verband mit Ihrer noch ungebrochenen Sinnlichkeit wird schon irgend einmal einen finden, den sie dannzumal noch merkwürdig mächtig ergreifen wird, so dass Sie die Schwierigkeiten erst noch kennen lernen werden, die sich in einem Menschen ergeben, wenn die voll entbrannte Liebe zur Leidenschaft wird, die in ihrer Unrast kaum abzuwägen fähig sein wird, was der Grund solcher Liebe sein kann und wie sie nach dem Erkenntnislicht des Geistes wieder in die rechte Ordnung gebracht werden kann.

Wenn Sie mich wirklich lieben würden, so wäre Ihr Gesicht bei Ihrem an mich gerichteten Wort unglücklich gewesen und in Ihren Augen wäre Schmerz zu lesen gewesen. Denn die wahre Liebe ist, wenn sie heftig ist, bei allem Glücke über das Geliebte stets auch unglücklich über die Beschränktheit des Ausdruckes ihrer Kraft und über die nie mögliche Vergabe ihrer Kraft in dem von ihr gewünschten Masse. Erst dieser zwar süsse, aber äusserst heftige Schmerz ist es, der dann die eventuell äussern Schmerzen zunichte machen kann, was Sie ja damals erfahren hatten, als Sie Jesum seiner Liebe willen so stark liebten, dass Ihnen sogar der äussere Schmerz als Ausdrucksmittel der grossen Innigkeit Ihrer Liebe nur gerade eben recht kam. Und siehe da, der Schmerz der Unerfüllbarkeit der Hingabe in dem von Ihrer Liebe gewünschten Masse hatte Ihren leiblichen Schmerz aufgehoben. Das alles werden Sie erst von neuem erkennen, wenn sich die Liebe wieder einmal steigert. Diese Liebe ist es, wenn sie auf den Vater im Himmel konzentriert ist, die alle Sünden durch das Mass ihrer Hingabe tilgt, weil sich dabei der Mensch völlig aufgibt und übergibt, mit welcher Aufgabe natürlich auch alle Sünden aufgegeben sind, und mit der Hingabe an Gott endlich die höchstmögliche Gottähnlichkeit erlangt wird. Denn was hingegeben ist an ihn, das muss ihm auch ähnlich werden.

Verstehen Sie nun den Unterschied zwischen Sympathie und Neigung einerseits und der wahren Liebe anderseits?" Sie bejahte das und fügte dann aber eher unsicher bei, dass sie gerade erst nun beginne, wirklich unglücklich zu werden, da sie ein solches Feuer in ihm zu fühlen beginne, das sich in ihr aber doch noch nicht zu einer ebenso kräftigen Wiedergabe sammeln konnte, sodass seine Gabe an sie für ihn selbst eigentlich verloren sei. – "Das ist wohl ein Anfang einer Liebe, jawohl. Aber dieser ist passiv entstanden durch das innere Nacherleben des von mir soeben geschilderten. Aber Sie müssen sich um mich ohnehin keine Sorgen machen, denn meine Sammlung, oder die Sammlung meiner Liebe liegt in Gott. Und ihm, als neugeborenes Jesuskindlein in Ihrem Gemüte, brachte ich alle Zeit und alle Glut meiner Liebe zum Opfer, wenn ich mit Ihnen jeweils gesprochen habe. Soweit ich aber noch meiner Schwäche wegen etwa selber einen Menschen als einen sichtbaren Sammelpunkt meiner Liebe brauche, habe ich diesen ja in meiner Gemahlin. Und so geht mir nichts ab, und wir können ungehindert miteinander weiterverkehren, wie wir das bis anhin getan haben."

Es wurde deshalb auch diese Unterredung, als eine weitere zu den bereits vielen, schon früher gehabten, für sie zu einer fruchtbaren Ernte zur Sättigung ihres Geistes. Und es wäre allenfalls noch nachzutragen, dass sich binnen weniger Wochen seit der ersten Kontaktnahme mit dem Naturarzte fast alle ihre Beschwerden verflüchtigt hatten, ohne dass sie ein Mittel dafür genommen hätte. Denn sie hatte sich dazu entschlossen gehabt, vor allem ihrem Geiste zur völligen Wiedergeburt in ihre Seele zu verhelfen, damit diese dann – als durch und durch erleuchtet – richtig mit dem Prüfungswerkzeuge "Leib" umzugehen wisse, ohne ihn zu beschädigen. Einige kleine Übelchen blieben zwar etwas länger, waren aber bis zu jener Unterredung schon längst auch alle verschwunden. Nur geschah es dann und wann, dass die heranreifende Tochter plötzlich durch eine neue Erscheinlichkeit in ihrem leiblichen Bereiche aufgeschreckt wurde; wohl um ihr Vertrauen und ihre Unerschütterlichkeit, auf dem einmal eingeschlagenen Wege zu bleiben, zu prüfen – wie der Naturarzt jeweils dazu meinte. Was insofern auch stimmen mochte, als auch die manchmal noch so bösartig oder kompliziert und heftig erscheinenden Vorkommnisse in ihrem leiblichen Bereiche stets bald, leicht und endgültig – und auf alle Fälle ohne Medizin – sich verloren. Die kleineren, eher alltäglichen Übelchen aber empfahl ihr der Naturarzt ohnehin als Liebewinke des Vaters im Himmel anzusehen, der sie damit wieder vermehrt an seine Brust zu drücken gedenke.

Solche Erklärungen über den Grund geringfügiger täglicher Widerwärtigkeiten vermochten dann manchmal zu Zeiten ihre Liebe wieder derart zu beleben, dass sie sich – in ihrer Freude und Dankbarkeit über so viele Hilfe von oben – oft kaum zu helfen wusste. Auf diese Weise entwickelte sich ihr Geist über ein oder zwei Jahre hinweg so stark, dass sie selber schon andern bei mehr geringfügigen Übelchen auf dieselbe geistige Art und durchs Gebet behilflich sein konnte.

Nur ein Verhältnis machte ihr über sehr lange Zeit noch zu schaffen. Und das war jenes, das sich aus ihrer Glaubensherkunft ergab. Nicht, dass sie selber die geringste Mühe gehabt hätte, den Darlegungen ihres Naturarztes zu folgen, denn sonst hätte sie nicht so leicht und so vollständig zum lebendigen Gotte gefunden, und es hätten ihre Gebete nicht solche Wirkungen gezeitigt – auch dann, wenn sie sie manches mal im Geheimen für das leibliche Wohl anderer verrichtet hatte. Mit den Gefühlen und ihrem ganzen Leben, dessen Ausdruck ja eben die Gefühle des Gemütes sind, war sie also im reinen und brauchte da zum Weiterkommen vorab nur das Verständnis ihrer gereinigten und in Gott, dem Herrn gefesteten Liebe. Aber in ihrem Verstande war sie in ihrer Jugend durch eine orthodoxe und fanatische Auslegung vernagelt worden. Die Glaubensbegriffe aus jener Zeit standen so stereotyp leblos in ihrem Verstande und ragten stellenweise auch kreuz und quer in ihre Gemütslandschaft hinein, sodass sie diesen Teil ihrer Persönlichkeit bei ihrer Fortentwicklung zunächst einfach unbeachtet liess, während an der fortschreitenden Front ihrer Liebe alle diese starren Begriffe von selbst in der Glut ihrer Liebe zusammengeschmolzen waren und neu zu geschmeidigen und lebendigen Werkzeugen ihres Fortschrittes erstanden sind. Deshalb konnte sie auch bald mit allen Andersglaubenden oder bloss nur Interessierten ein Gespräch aufnehmen und viele von ihnen zu einem lebendigen, tat- und wirkungsvollen Glauben ermuntern, ja sie richtiggehend dazu anzueifern. Aber das Gespräch mit ihren Eltern und Geschwistern konnte sie noch stets in ihrem Verstande so verwirren, sodass sie ihnen das Falsche ihrer Ansicht nicht aufzuzeigen vermochte, wiewohl sie in allen ihren Lebensfibern dabei verspürte, wie falsch und todbringend diese orthodoxe Auslegung an vielen Orten für ihre Familienangehörigen war. Denn sobald diese einen Begriff des Glaubens in den Mund nahmen, so sah sie selbst ihn auch wieder in derjenigen starren Auslegung, in welcher er von den ihren immer noch angewendet wurde und in welcher auch sie selbst ihn einstmals gesehen hatte, bevor sie den lebendigen Gott in ihr kennen lernte.

Dabei musste ihr also der Naturarzt noch über längere Zeit helfen. Und er tat es, indem er ihr an vielen Beispielen zeigte, wie relativ auch die eindeutigste Wahrheit ist, sodass auch bei zwei sich äusserlich widersprechenden Wahrheiten dennoch beide Aussagen ihre Richtigkeit haben können. Und er erklärte ihr weiter, dass nur der durch das Verständnis der Situation des Andern vervollkommnete Begriff einer äussern Wahrheit den Menschen fähig mache, alle Widersprüche aufzulösen und einzuordnen in die grosse Wahrheit des himmlischen Lebens. Er zeigte ihr beispielsweise, wie schon die Kinder Mühe haben können mit der Erfassung einer noch so gut erklärten Wahrheit, und sagte dazu: "Wenn sie lernen, wo links und wo rechts ist, so sind sie sehr oft darüber frustriert, dass bei ihrem Gegenüber rechts auf ihrer linken Seite ist, und umgekehrt links auf ihrer rechten Seite, sodass sich beim Händedruck der Begrüssung ihre Arme über ihre Brust kreuzen müssen. Wenn nun der gute, aber in dem Wesen der Wahrheit selbst noch nicht sattelsichere Elternteil dem Kinde erklärt, dass eben bei andern links und rechts immer auf der jeweils falschen Seite sei, so wird das Kind von neuem verwirrt, wenn es, hinter dem Rücken eines andern stehend, betrachtet, wie derselbe just mit jener Hand einen andern begrüsst, die auch es selber dazu verwendet hätte, eben mit der rechten. Denn die Eltern haben ihm ja erklärt, dass bei den andern immer alles auf der verkehrten Seite sich befinde - und bei diesem vor ihm Stehenden scheint das doch wieder nicht der Fall zu sein. Hätten die Eltern statt dem Worte der "Andere" das Wort der "Gegenüberstehende" gebraucht, dann wäre an sich wohl alles klar gewesen, wenn das Kind nur den Begriff "gegenüberstehend" schon verstanden hätte. Wie aber müsste die ganze Wahrheit einem Kinde wohl unmissverständlich erklärt und ergänzt werden? Etwa so: 'Links ist stets jene Seite, auf welcher du dein Herzlein pochen fühlst. Wenn du aber nun so stehst, dass die Sonne gerade deine linke Herzseite bescheint und sie erwärmt, und du drehst dich dann um, so scheint dieselbe Sonne nachher auf deine rechte Seite wo dein Herzlein nicht ist. Also hast du mit dem Umdrehen deine linke und besonnt gewesene Seite auf die andere Seite, die Schattenseite gekehrt.' – Stellen Sie sich vor, wie schön und erlebnisreich es für ein aufnahmefähiges Kind sein muss, wenn zugleich mit dieser Erklärung, auch gerade das wirkliche Erlebnis folgen könnte, vielleicht sogar in der Morgensonne eines noch taufrischen Tages! Es erführe dabei nicht nur die ganze Wahrheit über das Links-Rechts-Verhältnis, sondern machte darüber hinaus auch gerade die Erfahrung der wohltuenden Erwärmung seiner dem Lichte zugekehrten Brust. Soviel als Erziehungswink nur nebenbei – Sie würden dabei Natürliches, Irdisches mit Ewigem verknüpfen. –

Weiter wäre dem Kinde noch zu erklären: Aus diesem Grunde haben nur all jene, die mit dir in gleicher Richtung gehen oder stehen, das Herz auf derselben Seite wie du. Alle aber, die gegen dich gehen, haben es für deine Ansicht auf der andern Seite. Für sich selbst aber haben sie es wohl auch auf derselben Seite wie du, denn auch bei dir selber bleibt es auf derselben Seite, wenn du dich kehrst. Für alle andern nur – und auch für die Sonne –wechselt es dann auf die andere Seite. Also bist nur du selbst schuld, wenn die Sonne nicht mehr die Seite deines Herzleins bescheinen kann."

An diese anschauliche Erklärung für ein Kind knüpfte er sodann noch eine weiter gefasste Erklärung für die ihm gespannt folgende Tochter an: "Und sehen Sie, dasselbe gilt beim Glauben auch! Kehren Sie das Herz zu Gott, so wird er Ihr Herz erwecken, kehren Sie aber Ihren Verstand zu Gott, so wird er auch Ihren Verstand erwecken. Erweckt Gott aber Ihren Verstand alleine, so wird dieser leicht verwirrt werden, weil nämlich Gott die pure Liebe ist und deshalb wieder nur mit der Liebe voll erfasst werden kann. Ihre Liebe aber steht in diesem Falle von Gott entfernt, wenn Sie bloss Ihren Verstand von ihm bescheinen lassen. Also wird Ihre Liebe erkalten, und so zum Gegenteil der göttlichen Liebe werden, sodass dann Ihr Verstand die Wünsche Ihrer verkehrten Liebe nicht mehr mit den göttlichen Wünschen in Einklang bringen kann und als Folge davon zwischen den beiden elendiglich zugrunde gehen muss.

Bei Menschen, die beides, also ihr gesamtes Wesen von Gott abkehren, ihm also den Rücken zukehren, bleibt Verstand und Liebe als Einheit zwar wohl erhalten, aber die Liebe erkaltet und der Verstand erstarrt – der fehlenden Wärme wegen.

Aber auch die Liebe für sich alleine kann sehr wohl auf Abwege gelangen, wenn sie ganz einseitig und nur zum eigenen Nutzen erwärmt wird, sodass sie am Ende von Gott zu begehren beginnt, wo sie sich ihm hingeben und ihm dienen sollte, sodass sie mit der Zeit aus einer Art Enttäuschung ebenfalls von Gott sich zu wenden beginnt und mit der Zeit von ihm ganz abfällt.

Deshalb soll der Mensch sein volles Wesen, also sein ganzes Gesicht der göttlichen Liebesonne zuwenden, damit Herz und Verstand zugleich erwärmt und erleuchtet werden, wo dann der zuerst beleuchtete und erleuchtete Verstand die sich langsam erwärmende Liebe vorsichtig in ihrer Entwicklung leitet, bis diese dann – selber zu einem reinen Vollbrande geworden – den Verstand seinerseits stets noch mehr läutert und veredelt, bis er endlich sich mit der Wärme des Liebefeuers zum rechten Weisheitslicht der Liebe wandelt und dergestalt völlig in ihr aufgeht.

Es verhält sich zwischen Liebe und Verstand etwa gleich, wie wenn zwei Menschen Seite an Seite miteinander wandern. Dabei gewinnen beide zwar wohl immer neue Eindrücke für sich selbst, aber vertiefen können sie diese nur, wenn sie das Weiterschreiten unterbrechen und dann – sich gegenüberstehend – einander die innern Folgen dieser Eindrücke mitteilen. Wo dann die Liebe durch den neu gewonnenen Reichtum zu neuen Taten gedrängt wird, während der Verstand diese neu gewonnenen Eindrücke zum gediegeneren Neuordnen der bisher eher vorläufig geordneten, bisher erlebten Erscheinungen und Eindrücke verwendet. Dabei stärkt die hoffnungsvoll wärmende Kraft der Liebe den Verstand, sodass dieser nicht nur pedantisch beim Ordnen bleibt, sondern aus dieser Ordnung auch fähig wird, auf Neues zu schliessen und dadurch die eher drängende Liebe innerhalb der für sie gedeihlichen Grenzen zu führen. Das richtige Verhältnis zwischen Liebe und Verstand zeigt uns dann gleichzeitig auch das richtige Verhältnis zwischen Ehepartnern. Denn erst wo Gegensätze sich unterstützen – anstatt sich bloss zu widerstreben – kommt es zu einer wahrhaft himmlischen Vereinigung, welcher das Wort Jesu gilt, dass er dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, mitten unter ihnen ist (Matth. 18. 20). –  Liegt oder befindet sich allerdings zwischen zwei Ehepartnern nur der kleinste Rest einer Ich-Bezogenheit, so wird diese dann zum dunkeln Fleck in den Beziehungen, der entweder das Herz oder den Verstand des einen oder andern bindet, sodass er dem andern widersteht, anstatt ihm zu dienen, damit beide im Guten eins würden.

Das sage ich Ihnen damit Sie in einem spätern ehelichen Verhältnis den Grund zu Unstimmigkeiten, die sich nicht so leicht ausräumen lassen, leichter erkennen. Wäre ein solch dunkler Fleck beispielsweise nur die Freude, durch das göttliche Licht selbst leuchtend geworden zu sein, so wäre das dennoch eine Freude an sich selbst, die das aufgenommene Licht dem andern vorzuenthalten begänne dadurch, dass es zur Erhöhung des eigenen selbst genutzt würde, anstatt zur Bereicherung des andern. –

Um aber noch einmal auf die Relativität einer ausgesprochenen Wahrheit zurückzukommen, vergleiche ich die vorige "Verkehrtheit" der Seiten beim Menschen mit einem andern Verhältnis: Das verhält sich nämlich gleich, wie wenn ein Nordländer auf eines Berges hohe Spitze steigt, und zu gleicher Zeit auch ein Südländer denselben Berg, der zwischen den beiden Himmelsrichtungen liegt, besteigt, und die beiden sich dort oben treffen. So kann dann der eine behaupten, des Berges Spitze liege im Süden, während der andere behauptet, sie liege im Norden. Alle aber, die etwa auch mit ihnen gezogen sind, behaupten dasselbe und nützen ihnen dadurch wenig und nichts in ihrer weiter schreitenden Erkenntnis, sondern verhärten nur ihre Rechthabelust. – Lassen sich aber beide Parteien von der jeweilig gegenseitigen Ansicht befruchten, weil ihre Herzen auf Einigung drängten und ihr Verstand auf Widerspruchslosigkeit, kämen sie bald und leicht überein, dass des Berges Spitze weder südlich, noch nördlich liege, sondern ganz einfach in der Höhe. Der Berg (der Schwierigkeiten) aber sei zwischen ihnen gewesen, nun aber unter ihnen, da sie ihn überwunden haben durch gegenseitiges Verständnis und beidseitiger Liebe zur Wahrheit. Denn es sei ja gar nicht ihr ursprünglicher Wille gewesen, nach Süden oder Norden zu gehen, sondern ihr gemeinschaftlicher Wunsch sei gewesen, in die Höhe zu kommen, um einen freien und wahrheitsvollen Überblick zu gewinnen. Und dazu habe der Eine nach Süden, und der Andere nach Norden gehen müssen. Der Berg selber sei aber wohl weder im Süden noch im Norden gewesen, sondern in der Mitte ihrer gemeinsamen Natur, und seine Spitze hoch über ihnen. Nun aber, da sie schon mit der Spitze eines geworden sind, seien sie auch gerade unter sich selber einig geworden, dass der Berg und seine Spitze gerade ihre Mitte sei. Der Berg entspreche dabei ihrer eigenen Natur, und seine Spitze der höchsten Vergeistigung eben dieser Natur durch das über allen stehende Wort Gottes. – Die Menschen aber, diese arm- und mühseligen Wanderer der Erde bleiben zumeist in ihren angestammten Landen oder Glaubensrichtungen sitzen und streiten sich lieber um die richtige Richtung des Berges ihres Unverstandes bei der Auslegung, anstatt sie den Weg unter die Füsse nehmen und an Ort und Stelle sich einig werden – in der freien Höhe des Geistes, wo lichtvolle Weisheit und Liebe vereint sind.

Der eine behauptet dabei, die Wiederkunft Christi sei persönlich, der andere sagt, sie sei geistig; aber das merken beide nicht, dass sie wahrscheinlich beide zusammen die allgemeine Wiederkunft wohl kaum erleben werden, und sich deshalb statt um diese, viel eher auf die ihnen persönlich verheissene konzentrieren würden, die in den Sätzen der Bibel angezeigt wird, dass bei demjenigen, der in der Liebe bleibt, auch Gott in ihm bleibe (l. Joh. 4. 16) und sich Jesus demjenigen offenbart (also im Geiste zu ihm kommt), der ihn liebe dadurch, dass er seine Gebote – eben der Liebe – halte (Joh. 14.. 21 & 26)".

"Sehen Sie", sagte er ein anderes Mal zu demselben Thema der Relativität der Wahrheit, "ich bin Naturarzt und Geistheiler. Das sind zwei Gegensätze! Denn, wenn die Natur selber heilen würde und könnte, für was brauchte es einen Geistheiler? Denn leider ist der Mensch seiner Natur wesentlich näher und liegt ihm auch mehr am Herzen als der Geist! Die Natur heilt aber bestimmt nichts, sondern zerstört sich in allem ihrem Wesen fortwährend selbst. Das zeigt schon die Wut der Raubtiere, die am Ende, wenn nichts mehr übrig bleibt, sich selber anfallen. Das zeigt auch die Vorherrschaft eines Bockes in der Herde über die andern, der damit das Vermögen der andern fortwährend in seiner Wirkungsmöglichkeit zerstört. Der Strauch erstickt das Gras unter ihm, während er selber vom Baume über ihm erstickt wird. Jener aber wird wieder von Schling- und Schmarotzerpflanzen erwürgt, und so weiter und so fort. Dasjenige, das allenfalls in den Naturheilmitteln heilt, ist die genaue Abstimmung ihrer Kraft auf die jeweiligen Bedürfnisse eines leidenden Körpers. Das aber ist der Geist, der das erstens so gestaltet hat, und der es zweitens im Menschen auch wieder gezeigt bekommt, dass das alles so gestaltet ist. Und dennoch ist es auch eine Heilung der Natur, wenn ein Stück Natur ein anderes Stück Natur – eben den Menschen – ergänzt.

Als Sie das erste Mal zu mir kamen, da waren Gott und die Natur zwei Dinge in ihrem Leben. Der Geist war Ihnen noch okkult, weil er in Ihnen noch gar nicht geweckt war – trotz, ja gerade wegen der Glaubenssätze Ihrer Gemeinschaft. Die Natur hingegen liessen Sie gelten, und ich hätte Sie dem blossen Anscheine nach auch darüber zu heilen vermögen, allerdings nur mit der Zulassung von oben her. Aber damit wäre dann eben nur Ihre Natur, nicht aber Ihr Geist, der in toten Glaubenssätzen sich verfangen hatte, geheilt gewesen. Darum habe ich mir auch die Zeit genommen, Ihnen die Wirkungsweise der Natur zu erklären, um Ihnen damit auf dem Ihnen vertrauten Boden zu begegnen. Und ich habe so Ihr Vertrauen gewonnen, sodass ich Ihnen mit der Zeit auch aufzuzeigen vermochte, dass die Natur nicht ein Eigenes, sondern ein aus dem Geiste notwendig Hervorgegangenes ist. Die Natur steht zwar zum Geistigen gegensätzlich, weil ihre Grundlage die Ruhe ist, während des Geistes Grundlage das Leben ist. Hätten Sie Ruhe vor Ihrem Leiden gehabt, ehe Sie den Herrn des Lebens (Gott) in seiner Wesensart erkannt hätten, so wären Sie für ihn in Ihrer Ruhe verloren gewesen, wie ich Ihnen einmal erklärt hatte, dass Ihr Kind für Ihre Liebe verloren wäre, solange es in der Ruhe der leiblichen Sättigung verbleibt. Und darin bestätigt sich auch der Satz der Bibel, dass niemand zwei Herren dienen kann (Matth. 6. 24).

Solange ich bloss als Naturarzt tätig bin, verlege ich dem Patienten also den Weg zu seinem Geiste und damit auch zur völligen Gesundung und ich bin damit ein Widerspruch zum Geistheiler. Da war ja der Arzt der Schulmedizin ein viel wirkungsvollerer Geistheiler, indem er Ihre Natur so stark überbewertet hatte, dass sich dadurch Ihr innerer Geist zu regen begann und mir dann gerne in das Reich des Lebens folgte, als er einmal seine Furcht vor sich selber verloren hatte. Wer hat Sie nun also auf diesen so beseligenden Weg gebracht? Der Arzt oder der Geistheiler? Wohl beide zusammen. Der Arzt durch seine Verkehrtheit und der Geistheiler durch seine Bestätigung der Richtigkeit Ihrer Gefühle und Empfindungen bei der verkehrten Behandlungsweise. Was ist nun wahr? Was recht? Alles – wenn es aus der Liebe geschieht, und nichts, das aus Eigennutz geschieht.

Böse Erfahrungen sind zwar oft eine Hilfe zur Auffindung des Guten, sofern der Erfahrende gutwillig ist. In dieser Hinsicht sind also für ihn die bösen Erfahrungen wohl gut. Für sich selber aber bleiben sie böse und können in ihrer Bosheit ebenso Zorn und Rache erzeugen, wie sie beim Guten eine Abwendung von ihm hervorrufen und eine Zuwendung zum Guten bewirken.

Darum ist es oft so schrecklich, der Wahrheit unverhofft zu begegnen, wenn man sich nicht nach ihr zu richten gewillt ist, und es ist anderseits so wohltuend, sie zu erkennen, wenn man sie sehnlichst sucht! Verstehen Sie nun die "Wahrheit? Sie ist das Leben!" –  "Ja, ich verstehe immer mehr, dass man sie nur mit dem Herzen erfassen kann, weil ja die äussere Form, die sich meinem Verstande darstellt, einen ganz andern Inhalt haben kann, als die äussere Form vermuten lässt", liess sie sich vernehmen und fuhr dann fort, "denn auch Ihre eigene Erscheinung war mir ja anfangs okkult vorgekommen, obwohl ich nun schon lange so klar erkenne, dass mir niemand die Dinge und Verhältnisse so plastisch, einleuchtend und widerspruchslos erklären kann wie Sie – vielleicht eben deshalb, weil Sie die Widersprüche annehmen, anstatt sie verbannen, wie meine Eltern und ihre Glaubensfreunde es tun, indem sie stets beweisen wollen, dass die Bibel keine Widersprüche habe, wo sie doch von Widersprüchen strotzt – und noch mehr strotzt der Widerspruch einer Auslegung zu einer andern.

Ich fasse das nun wohl und begreife auch, wie und wodurch mich der Gynäkologe auf diesen beseligenden Weg gebracht hat. Aber darüber begreife ich dann wieder nicht, wie Sie denn Naturarzt, als einem Gegensatz zum Geistheiler, sein können. Sie müssten eigentlich vielmehr Arzt der Schulmedizin und Geistheiler sein. Dann könnten Sie einen Patienten zuerst als Arzt motivieren, einen bessern Weg zu suchen und ihm diesen dann auch aufzeigen, sobald er ihn zu suchen beginnt". –

Er gab ihr darauf folgende Antwort: "Das wäre etwa dasselbe, wie wenn die um das Gemüt ihres Kindes besorgte Mutter diesem Steine zu essen gäbe, wenn es nach Nahrung verlangte, und das nur deshalb, weil sie sich das Kind ja nicht bloss der äussern Ernährung wegen gewünscht hatte.

Besser wäre es da schon, ihm die Nahrung einmal ernstlich vorzuenthalten, wenn es durchaus nichts anderes als diese im Kopfe hat, damit es sich wenigstens einmal Rechenschaft geben kann, wer ihm seine Nahrung gibt. Aber sehen Sie, so etwas obliegt nur der Mutter des Kindes oder in anderer Hinsicht wohl auch – und vor allem – dem Vater, hingegen nicht deren Knechten oder gar Mägden und ebenso wenig den Geschwistern eines solchen Kindes. Aus diesem Grunde gebe ich jeweils als Naturarzt auch eine Speise in Form der einen oder andern Medizin, würze sie aber gleichzeitig mit einem Hinweis, dass die Natur als solches blind sei, und nur der Geist aus ihr und mit ihr zusammen eine Heilung zuwege bringe. Nehmen meine Patienten diese Würze mit der Medizin zusammen, so wird es auch besser. Nehmen sie sie aber nicht in sich auf, so ist der Erfolg dann oft auch nur vorläufig und teilweise, oder er bleibt in einigen Fällen auch ganz aus. Das entspricht dann aber eben der kleinen Menge Nahrung oder gar einem Fasten, welches alleine Gott, der Vater im Himmel in einem seiner Kinder so und in einem andern wieder anders  gestaltet. Als sein Knecht will und muss ich aber jedem Patienten die Nahrung reichen; wie weit sie ihn sättigt, ist dann das Werk des Vaters in seinen Kindern.

Jene aber, die im Falschen verstrickt sind, wird der Vater eben durch das Falsche selbst wieder zurückbringen auf den Boden der Wahrheit, indem er es den Verstrickten fühlen lässt, dass, wo und wie er gebunden ist und ihm in irgend einer Art auch eine Hilfe schickt, davon los zu kommen, wie das bei Ihnen ja durch Ihre Freundin geschehen war, die Sie zu mir schickte." –

Wieder ein anderes Mal erklärte er ihr die Relativität einer ausgesprochenen Wahrheit so.:
"Es gibt nun Gläubige, die bleiben starr bei der so genannten Heiligen Schrift stehen, die sie Gottes Wort nennen. Ich verstehe sie wohl und gut und lobe ihren Grundsatz angesichts der himmelschreienden Verfehlungen der früheren katholischen Kirche, die Unschuldige auf dem Scheiterhaufen verbrannte und anderseits mit ihren Heiligenbildern und ihrer ganzen Zeremonie Abgötterei trieb. Aber ich billige auf der andern Seite ihre Unduldsamkeit und Starrheit keineswegs. Denn wo wären wir stehen geblieben, wenn diese Haltung stets und konsequent gehandhabt worden wäre? Hätte die sog. Heilige Schrift nicht mit Moses beginnen und zu-gleich auch enden sollen, wenn diese Starrsinnigen auch schon zu Moses Zeiten der Meinung gewesen wären, die Bibel sei das ganze und vollständige Wort Gottes – so, wie sie es heute behaupten? Denn sie hätten damals schon sagen können – und haben es mit der Verfolgung eines so manchen Propheten auch getan: Wenn Gottes Wort durch Moses zu uns gekommen ist, wofür soll dann noch ein neues und anderes hinzukommen?

Konnte aber Gott trotz dieser starrsinnigen Gläubigen der frühern Zeit mit noch vielen weitern Propheten reden und am Ende sogar selber zu uns Menschen – als selbst Mensch – kommen, obwohl es doch schon im Buche Mose (2.Mose 33. 20) deutlich heisst, dass Gott niemand sehen kann und leben zugleich. Wieso soll und darf er dann nun, in heutiger Zeit – seit Christi Tod – nicht mehr mit Menschen reden und sie zu Propheten machen? Hat die Menschheit diese Heimsuchung denn weniger nötig als in früherer Zeit, und ist nicht Paulus ebenfalls erst nach Christi Tod von ihm in seinen Dienst genommen worden?

Woher nehmen diese Zeloten also das Recht, Gott ein weiteres Wirken zu verbieten und jene als vom Teufel inspiriert zu bezeichnen, die vorgeben – und durch den Inhalt ihrer Aussagen und der darin enthaltenen tiefen Weisheit auch belegen –, dass sie das göttliche Wort neu empfangen haben, wie etwa ein Böhme, Swedenborg oder Lorber?

Wenn es doch ausdrücklich heisst, dass noch vieles geschehen sei, das aufzuzeichnen die Menschheit nicht fassen würde (Joh. 21. 25), wenn ferner Jesus zu seinen Jüngern sagt, er hätte ihnen noch vieles zu sagen, aber sie würden das jetzt noch nicht fassen (Joh. l6. 12), er ihnen aber andernorts verspricht, dass er sich auch künftig denjenigen, die ihn durch die Haltung seiner Gebote lieben, offenbaren würde und sie an all das erinnern würde, was gesagt wurde (Joh. 14. 21 und 26) – wenn des weitern von Paulus gefordert wurde: den Geist dämpfet nicht (l.Thess. 5. 19), was meinen dann alle diese Zeloten erst zu den vielen Stellen der Schrift, in denen direkt gesagt ist, dass erstens diese Schrift nicht vollständig ist und zweitens verheissen wird, sie durch weitere Offenbarung an die Gott Liebenden zu vervollständigen? Wissen denn sie, diese Starrsinnigen, die jeden als vom Teufel inspiriert bezeichnen, der nicht sein Herz vor der Einsprache Jesu, des Lebendigen, verschliesst, aus dem Grunde, weil er die Bibel als das endgültige und vollständige Wort Gottes zu betrachten hat – wissen also ausgerechnet die – besser als Gott selbst – wann der Mensch das Weitere, das Jesus noch zu sagen gehabt hätte, ertragen wird können, sodass er es dann erst mit ihrer Erlaubnis einem ihn heiss Liebenden offenbaren darf?

Diese Armseligen begründen ihre Starrheit – und das nur im Verstohlenen – vor allem auf zwei Stellen in der Schrift, welche aber ganz etwas anderes aussagen. Die eine steht in der Offenbarung (Off. Joh.  22. 18) und verbietet lediglich, eben dieser Offenbarung etwas hinzuzufügen oder von ihr wegzunehmen, die ja bei ihrer Entstehung noch gar nicht zur Schrift gehört haben konnte, sodass sich das Verbot mehr als klar ersichtlich nur auf die Offenbarung des Johannes bezieht. Die andere Stelle (in l. Kor. 13. 8) wird von ihnen zu einfältig ausgelegt, als dass sie eine extra Erwiderung nötig machen würde. Denn sie ist eine Lob- und Preisrede für die Liebe und stellt diese nicht nur zu Recht über alle Erkenntnis und Weissagung, sondern sogar über die Sprache! Denn sie ist ja erst der Grund zu alledem und bleibt dadurch auch der einzige Grund zu jeder Art von Offenbarung.

Denn da kommt noch ein ganz anderer, bedeutender Schrifttext hinzu:
Es heisst doch schon in den ersten drei Versen des Johannesevangeliums: 'Im Anfange (d.h. im Grunde) war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfange bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist'. Also sind doch diesem sicher wichtigsten Worte zufolge bestimmt alle Wesen – und im Besonderen alle Menschen – Worte Gottes.

Wie könnte bei einem solchen Umstand die Bibel das vollständige Wort Gottes sein? Das wäre ja ein Widerspruch zu den grundlegenden Worten des Johannesevangeliums. Vielmehr lässt sich dabei fragen: Welches sind nun die schwerwiegenderen Worte: jene im Gemüte jener Menschen, die ihre Herzen zu Tempeln Gottes geweiht haben, damit er selbst, als das Wort, bei ihnen wohne, oder die bloss äussere Schrift mit ihren Aussagen anderer, die uns erst zu diesem innern Worte führen sollen, die aber überdies noch von Vielen in manchen Kirchenversammlungen zerpflückt worden sind nach dem Gutdünken der damaligen Zeit?

Ich sage damit aber gar nichts gegen jene Schriftstücke oder den Inhalt der Bibel, nur gegen diejenigen, die sich anmassen, sie besser als andere zu verstehen und sie alleine richtig auslegen zu können, oder die sie zu heiligen Reliquien und toten Götzen machen, welche in ihrer Wirkung stärker sein sollen als der lebendige Gott, der jederzeit sich dem ihn Liebenden offenbaren kann und will, gemäss der Verheissung Jesu an seine Nachfolger.

Oh diese Narren! Sind solche nicht Kinder und Nachkommen der seinerzeitigen Pharisäer, die damals auch verstanden hatten, den Lebendigen zu kreuzigen und dafür die unverstandene und für sie darum tote Schrift nach ihrer einfältigen Auslegung als gültig, wahr und wirkend zu erklären? Damals aber – zu jener Pharisäer Zeiten – war den Juden wenigstens durch viele Stellen in manchen Propheten ihrer Schrift ein König, ein Held, der ein Reich gründen wird, verheissen – – aber zur Welt kam dann bloss ein Zimmermannsknabe, in einem Stalle noch dazu, sodass die fatale seinerzeitige Auffassung der Schrift noch eher begreiflich war, im Gegensatz zu heute, wo alle Stellen der Schrift für ein lebendiges und direktes Verhältnis zwischen Gott und jedem Einzelnen sprechen.

Allerdings, wer damals sein Herz für die Armen, Waisen und Witwen offen gehalten hatte – nach der vielfachen Aufforderung Gottes durch die Propheten –, der hat dann ja Jesus auch bald bei den Armen finden können – vor allem durch ein rein erhaltenes Herz, das wohl wahrzunehmen imstande ist, wenn es seinem ewigen Vater gegenübersteht. Die Reichen hingegen schauten nach dem durch die Propheten angekündigten König aus, verpassten diesen Helden und Gründer eines geistigen Reiches aber nicht nur für sich selbst, sondern verdammten all jene, die ihn gefunden hatten und wollten ihnen diesen durch die Kreuzigung entreissen.

Das alles ist mehr als nur ein Gleichnis für das Verhalten der jetzigen Glaubenszeloten; es wird ihnen einst zur Anklage, wenn sie vor dem Lebendigen zu bestehen haben. Denn aus diesen und ähnlichen Stellen der bloss äussern Schrift (also der Bibel) hätten sie lernen können, wie schnell und wie leicht man sich irrt, und wie ganz anders der Sinn der Gottesworte sein kann als die sich noch so aufdrängende Auslegung durch den Weltverstand.

Wie heisst es doch: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet (Matth. 7. 1) Sie aber richten die Liebhaber des Lebendigen und nennen sie Abtrünnige und vom Satan inspirierte und richten damit über sich selbst. Wenn dann nämlich einst – einem Gleichnisse Jesu gemäss – der Bräutigam, also Jesus selbst, in der Nacht ihres Geistes ankommen wird, dann wird er jene, die das Liebelicht ihrer Lampe von ihrem Richtgeist schon längst ersticken liessen, (weil dieser den Vorrat des Öles des Verständnisses und der Verständigung aus dem Grunde der Liebe mehr verzehrt als die Flamme selbst,) schon auch als Abtrünnige bezeichnen, wenn er sagen wird: Ich, der Lebendige, kenne euch Buchstabenreiter nicht!

Nun, verstehen Sie mich aber ja nicht falsch", relativierte der Naturarzt seine scharfen Worte. "Wer sich nur nicht getraut, etwas anderes anzunehmen, als die Auslegungen seiner Eltern oder den falsch verstandenen Buchstabensinn der Schrift, der ist noch lange kein starrsinniger Zelot und noch weniger ein Richtender und hat darum auch jederzeit die Möglichkeit, den Lebendigen zu finden – wie Sie selbst ihn ja auch gefunden haben. Findet er ihn auch nicht schon hier, auf dieser Welt, so doch sicher einmal jenseits, denn er hat ihn ja nie verbannt, sondern ihm nur nie voll vertrauen können; und ich respektiere darum seine Entscheidungen auch und achte sie als aus der Liebesorge seines Herzens kommend.

Jene aber, die andersartiges und darunter auch das neue und lebendige Wort in der Brust eines gottergebenen Menschen – oft, ohne es genauer zu kennen – verdammen und als vom Teufel inspiriert betrachten, die müssen sich bewusst bleiben, dass sie damit möglicherweise auch Gott und sein Kommen verdammt haben, wie es die Zeloten zu Jesu Zeiten bei und mit der Kreuzigung getan haben. Damit töten sie aber Gott in sich selbst, wo alleine er sie beseligen könnte, weil das Gottesreich ein Inwendiges ist."

Das war denn auch eine gar mächtige Lektion über die Sache der Wahrheit, welche durch die von ihr hervorgerufene Erschütterung die starren Begriffe aus der Jugendzeit in der Seele der herangereiften Tochter endlich ganz zu Fall bringen konnte, sodass sie ihre Liebe fortan auch wieder ihren Familienangehörigen entgegenbringen konnte, ohne dabei durch deren Begriffe und Vorstellungen von Gott in ihrem eigenen Herzen verletzt zu werden oder in ihrem Verstande verwirrt zu werden und dadurch verhindert zu sein, deren Unordnung in ihre eigene, wohl erworbene und beseligend kräftigende Ordnung zu verkehren und ihnen durch diese dann möglicherweise behilflich zu sein, den in ihnen wirkenden und sie blockierenden Richter aus ihnen zu entfernen. Und das umso mehr, als sie von ihrer über zweijährigen Krankheit ohne Medizin gesund zu werden vermochte und deshalb aus Erfahrung wusste, dass und wie Gott den Seinen beisteht, die sich ihm in ihren Herzen ganz alleine hingeben, ohne sich durch den toten Buchstaben beirren zu lassen.

Wie schön und erfüllend zugleich ist doch ein solches Leben, und warum kommt es nur so selten vor!? Es liegt an der Stärke der von aussen auf uns einstürmenden Vorkommnissen, denen wir uns nur allzu oft lieber hingeben als der stärkenden Zwiesprache mit Gott, unserm Vater und unserem eigentlichen Grund. Wollen wir damit zuwarten, bis Krankheit und Elend uns dazu zwingen, zu welchem Zeitpunkt wir nicht so leicht mehr auf dem Wege hingebungsvoller Liebe zum inneren Worte Gottes und damit zu innerem Frieden gelangen können, weil die Not uns diese Freiheit nicht mehr lässt?

12.9.1991

Aus der Reihe: "Wenn wir christlich leben würden"

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