Mathe

Schon alleine diese Abkürzung des Wortes Mathematik in der ungenierten Anfrage an sämtliche Gewerbebetriebe der umliegenden Gegend offenbart die Haltung, nicht nur der Kinder, sondern auch der erwachsenen Lehrpersonen, welche ihre Zöglinge zu brauchbaren Menschen erziehen sollten, und nicht zu müden Stänkerern und Konsumenten: Man konsumiert, man lässt die andern tätig sein. Wie Recht sie einerseits haben! Es kurbelt eine solch konsumierende Haltung ja die Wirtschaft an. Aber es gibt eine ebenso überzeugende Alternative zu dieser Denkweise. Dass sie von einem Gewerbetreibenden, anstatt von einer dafür bezahlten Lehrperson aufgezeigt wird, lässt das heutige Verhältnis unter den Berufen mehr als deutlich werden. Wäre diese Frage in der vorliegenden Form nicht von einem Berufsmann beantwortet worden, der wirklich auf sich selber gestellt ist, und nicht unbekümmerter Lohnempfänger ist, sie würde fast etwas märchenhaft anmuten, so tief greift sie mit so einfachen Worten.

Gedruckt erhätlich für SFr. 2.50

Den vollständigen Inhalt enthalten die nachfolgenden Seiten:

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BRIEF EINER SCHULKLASSE AN DAS UMLIEGENDE GEWERBE

Soweit der Brief

Es fällt dem aufmerksamen Leser sicher auf, dass sich Kinder – anstatt auf das Lernen zu konzentrieren – bereits unter Billigung, ja wohl unter der Anleitung ihrer Lehrerin damit beschäftigen, mit ihrem Unwillen zum Lernen auch Aussenstehende mit einfältigen Fragen zu belästigen, die ihnen sowohl die dafür angestellte und bezahlte Lehrerin als auch ihr eigener Verstand beantworten könnte. Es gleicht ein solches Benehmen ganz der später aus gleichen Gründen weitergehenden Unart der Verschmierung von Wänden und Fassaden durch Sprayereien. Der Grund dafür ist immer derselbe: Das Auslassen eines zwar verständlichen Unmutes an Unbeteiligten und das large Dulden oder gar das gefallsüchtige Mitmachen der Erziehenden.

So betrachtet ist natürlich die nachfolgende Antwort völlig nutzlos.

Es gibt aber noch eine andere Art der Betrachtungsweise: In einer jeden Gesellschaft, und damit auch in einer Schulklasse, gibt es immer auch stillere und nachdenkende Menschen, die zwar der Unauffälligkeit zuliebe nicht viel über die Resultate ihres Denkens verlauten lassen, die aber in der sie bedrückenden Erkenntnis, wie wenig Geist in einer jeden Gesellschaft wirksam vorhanden ist, froh sind, einmal ganz klar und plastisch dargestellt die ihnen schon längst bekannte Realität von einem andern beleuchtet und bestätigend aufgezeigt zu bekommen. Und alleine aus diesem Grunde wäre es schade gewesen, eine solche Gelegenheit der Aufmunterung ungenutzt zu lassen. Denn nicht so leicht kommen zwei – wenn auch in dieser Sache Gleichgesinnte – zu einem offenen, sie entlastenden Gespräch oder einem eigentlichen Bekenntnis ihrer innersten Ansichten.

Darum die nachfolgende Antwort:



den 24. August 2001

Betrifft die Frage: Weshalb Mathematik?

Liebe Schüler, liebe Lehrerin

Ihr wollt wissen, wann und wie wir Mathematik in unserem Betrieb brauchen. Wir wollen zuerst festhalten, warum wir von Mathematik nicht sehr viel halten: Mathematik – oder "Mathe", wie Ihr sagt – ist absolut klar und lässt sich völlig ohne jedes Gefühl anwenden!

Man braucht sie zum Beispiel, um Atombomben zu bauen. Man kann mit ihrer Hilfe auch ausrechnen, wie viele Menschen auf unserem Globus leben können, ohne Hunger leiden zu müssen. Aber dennoch hungern über die Hälfte aller Menschen. Man kann mit ihr auch den Weg (oder die Entfernung) zur Sonne berechnen, aber die eigene Sonne im Herzen finden wir damit nicht. Wir können mit ihr auch ausrechnen, wie sich das Kapital am schnellsten vermehrt. Aber, was alles darunter leidet, lässt sich nicht berechnen; darum auch gibt es so viele körperlich und seelisch Leidende in dieser Welt – auch in der Schweiz.

Aus diesem Grunde brauchen meine Frau und ich Mathematik auch in unserem Betrieb nur mit Vorsicht und nur, wo es unumgänglich notwendig ist. Wir zählen mit ihrer Hilfe die Pflanzen, die wir verkaufen, und multiplizieren ihre Anzahl mit dem dazugehörigen Preis. Was aber die Pflanzen brauchen und wann sie sich wohl fühlen, das finden wir nicht mit "Mathe" heraus.

Überhaupt lässt sich nur berechnen, was tote Materie ist! Das Leben kann man niemals berechnen. So bestimmt die Mathematik beispielsweise, dass 1+1=2 sind. Also müssten dieser Rechnung zufolge 2 Menschen das Doppelte leisten können von dem, was einer allein leistet. Bei wie vielen Ehepaaren ist es aber so, dass – ihrer ständigen Zwietracht wegen – jedes für sich kaum mehr die Hälfte leisten kann, weil sie die Kraft in gegenseitigen Attacken vergeuden. Wohingegen es – wenn auch nur selten – der Fall sein kann, dass zwei sich Liebende sich innerlich gegenseitig derart unterstützen, dass sie soviel Gutes leisten, wie sonst kaum drei oder vier Personen zusammen zu leisten imstande sind.

Darum versagt die "Mathe" im Leben, und diejenigen, die sich zu stark auf sie verlassen, glauben nicht mehr an das Leben. Sie berechnen zwar alles und gehen dennoch am Leben vorbei; merken nicht, was sie wirklich bereichert. Sie entwickeln eine grosse Technik und glauben, sie könnten mit ihr alles erreichen. Heute aber, wo fast jeder durch ein Handy jederzeit erreichbar ist, merken sie, dass sie damit niemanden wirklich erreichen. Es sind nämlich alle, die sie erreichen wollen, am Rechnen und Studieren, was sie noch bräuchten. Keiner, der am Leben der andern wirklichen, innern Anteil nimmt und durch die Erfahrung anderer deshalb reicher werden könnte. Keiner, der mit den Augen anderer zu sehen versucht und daher die Dinge in so mannigfaltiger Wirkung sehen kann, dass er schon mit den kleinsten Erfahrungen die grösstmöglichsten Aussichten hätte, zum Wohle aller zu handeln.

Ihr seid noch jung und darum auch noch etwas lebenshungrig und fühlet darum vielleicht noch besser als die Erwachsenen, dass "Mathe" den Menschen nicht erfüllt. Und mit dieser Feststellung habt Ihr völlig recht! Man braucht sie zwar zum Leben auf dieser Erde, etwa so, wie einen Löffel zum Essen. Aber sich dieser Notwendigkeit wegen in einen Löffel förmlich zu verbeissen, wäre mehr als dumm. Es genügt, dass wir die köstliche Speise mit unseren Lippen von ihm weg in unseren Mund streichen. Schon ein kurzes darauf beissen wäre unnütz und den Zähnen ebenso schädlich, wie das Rechnen dem lebendigen Verständnis schadet, wenn es mehr als unbedingt notwendig angewendet wird. Prüfet darum in Eurer Jugend ernsthaft, ob Ihr nicht doch ein richtiges Gefühl habt. Aber dann bildet auch Euer tieferes Gefühl durch ein wahrhaftiges Leben entsprechend seinen Wahrnehmungen stetig weiter aus, damit Ihr dann einmal – wie wir bei unseren Pflanzen – vieles sehen und erkennen könnt, von dem Ihr kaum angeben könnt, wie Ihr dazu gekommen seid. Dann ist Euer Leben erfüllt, so erfüllt, dass es keine so grosse Zahl gibt, die Eure Fülle auszudrücken vermöchte.

Das wünsche ich Euch allen von Herzen – wohl wissend, dass das am Ende fast noch schwerer ist, als "Mathe" zu lernen.

Mit einem aufmunternden, herzlichen Gruss

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