Der Minderwertigkeitskomplex

Vieles sieht zwar minderwertig aus, ohne dass es in Wirklichkeit minder-wertig ist, aber: noch weit mehr ist minderwertig, das uns eigentlich normal vorkommt: Alle äussere Brillanz und aller gesellschaftliche Schliff zum Beispiel, um welch beide sich fast jedermann so sehr bemüht. Der wahre Wert des Menschen liegt jedoch ausschliesslich in seinem Ziel, nicht in seinem mehr oder weniger geglückten äusseren Tun. Wer das im Vergleich seiner Persönlichkeit mit den andern vergisst und dadurch den Wert seines eigentlichen Ziels etwas vergisst, kommt in seinem Unterbewusstsein leicht zur Vorstellung, dass er im Vergleich mit andern minderwertig sei. Denn der Glanz des Äusseren betört gar leicht die Sinne und verunmöglicht ein nüchternes Urteilen. Denn: minderwertig ist nicht der Fehlerhafte (solange er seine Fehler sucht und bekämpft), sondern nur derjenige, der mit seinen Fehlern zufrieden ist.

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DER MINDERWERTIGKEITSKOMPLEX

Es lebte ein Mann, zwar vielseitig interessiert und tätig, aber dennoch mehr zurückgezogen, der hatte einen Minderwertigkeitskomplex, den er schon bei mehreren Psychologen kurieren lassen wollte, ohne dass es aber je einem gelungen wäre. Im Gegenteil kam es sogar vor, dass er mit dem behandelnden Psychologen uneins wurde und ihn für stur und inkompetent zu erachten begann, und sich hernach dann aber wieder Vorwürfe machen konnte, dass er andere von oben herab sehe, was eigentlich eine Charakterschwäche offenbaren würde, die ihn doch gewisslich nicht als vollwertig, geschweige denn als hochwertig vor sich selber erscheinen lassen konnte.

Diesem Manne wurde einmal während einer Zeit, da die Konjunktur zurückging, im Zuge einer dadurch notwendig gewordenen Restrukturierung des Betriebes mit vielen andern zusammen gekündigt, weil die vorhandenen Aufträge bei weitem nicht mehr alle Arbeiter und Angestellten zu beschäftigen vermochten.

Und da in solchen Zeiten die Stellensuche schwierig, und andererseits für die Arbeitgeber die Auslese ihrer künftigen Mitarbeiter gross ist, so konnte ein Personalchef auch einiges an Forderungen stellen, die in normalen Zeiten wohl kaum erfüllt würden. Und so kam es, dass unser Mann auf eine Offerte hin die Aufforderung erhielt, sich mit andern Mitbewerbern zusammen einem Arbeitstest zu unterziehen, den er in der Werkstätte des Betriebes als eintägiger Arbeitseinsatz zu bestehen hatte. Die Aufgabe bestand in der Konstruktion und Anfertigung einer einfachen Vorrichtung für eine Maschine, welche der Produktionssteigerung einerseits und der Sicherheit am Arbeitsplatz anderseits dienen sollte. Der Arbeitsaufwand wurde entlöhnt. Da stand er also am vereinbarten Morgen mit vier andern Bewerbern zusammen in der Werkstätte und bekam das Problem, das es zu lösen galt, erklärt. Man wollte bei dieser Prüfung einerseits die Spontaneität und den Einfallsreichtum, und anderseits die Arbeitsqualität und -geschwindigkeit überprüfen und vergleichen.

Zwei der insgesamt fünf Bewerber begannen nun die Masse an der Maschine zu nehmen, für welche diese Vorrichtung zu erstellen war. Zwei weitere erkundigten sich bald im Warenlager nach den dort vorhandenen Profilen, sodass bald einmal Bewegung und eine gewisse Dynamik in diese Bewerber kam.

Nur der eine blieb beinahe an Ort und Stelle stehen. Er erkannte dabei, dass er natürlich dergestalt das dümmste Aussehen zur Schau stellte, was ihn sofort verwirrte. Aber er fand auch bald – und wusste es eigentlich schon aus vielen Vorfällen seines bisherigen Lebens –, dass ihn ein kopfloses Messen irgendwelcher Teile nur noch mehr verwirren würde, solange er sich über Sinn und Zweck einer Idee und deren möglichen Begrenzung durch die bereits vorhandene Gestaltung der Dinge nicht völlige Klarheit verschaffen konnte.

Er wusste selber nicht, wie und wo er sich den halben Vormittag da und dort herumdrückte. Aber er ersah nach der Vormittagspause dennoch die fortgeschrittene Arbeit seiner Mitbewerber. Sozusagen mit einem einzigen Blick übersah er – als er sich der Grundzüge einer jeden der vier verschieden gestalteten Vorrichtungen bewusst geworden war – das Gute, aber auch die Mängel der verschiedenen Ideen und – in einem der vier Fälle – sogar die Unvereinbarkeit der Vorrichtung mit dem Ablauf des Arbeitsvorganges. Und in diesem Moment begann er auch unter dem Eindruck der dabei vorkommenden Materialverschwendung zu leiden. Denn das Material war ja in diesem Falle nur dazu da, den Konstrukteuren die Fehler in ihren Konstruktionen zu versinnlichen oder aufzudecken und die Vergeblichkeit ihrer bisherigen Bemühungen vor Augen, zu stellen.

Das empörte ihn, den Sorgfältigen, den Sparsamen und Rücksichtsvollen, in seinem Empfinden derart, dass er erregt wurde und in dieser Erregung dann seine Gedanken zu fliessen begannen. Wieder wusste er zwar nicht, wie und wo er gestanden hatte die ganze zweite Hälfte dieses Morgens. Aber immer klarer wurden in ihm die Bilder, die sich aus den Gegebenheiten einerseits und den Notwendigkeilen anderseits zusammenzufügen begannen, gleichsam wie beim Wachstum der Pflanzen, wo die Wurzel nach unten, im unsichtbaren Bereich der gefühlten Notwendigkeit, sich stets mehr begründet, während die Zweige im oberen, sichtbaren Bereiche der durch das Licht geschaffenen Gegebenheiten sich stets ordentlicher zu entfalten beginnen.

Als er dann nach dem Mittagsmahl und einer weitern Überlegungszeit die vorhandenen Werkstoffe überprüft hatte, da kam er schnell zu greifbaren Resultaten. Denn seine Vorstellungen waren nun so gediegen, weil bis ins Detail begründet, dass sie nebst der zu erstellenden Vorrichtung auch die Arbeitsvorgänge dabei bis ins kleinste Detail festhielten. Und am Ende des Tages hatte auch er, wie seine Mitbewerber, endlich eine Vorrichtung beisammen, von welcher er glaubte, dass sie beiden – der Arbeitsbeschleunigung und der Arbeitssicherheit – im gleichen Masse diene.

Aber der eine seiner Mitbewerber hatte in derselben Zeit gleich zwei fixfertige Vorrichtungen verschiedener Art entwickelt und fertig gestellt gehabt, zwei weitere hatten eine äusserst imposante und kühne, allerdings auch sehr grosse Konstruktion verfertigt, welche man nicht übersehen konnte, und der Vierte hatte sogar in derselben Zeit noch eine Bedienungsanleitung zu seiner Konstruktion geschrieben. Während die Vorrichtung unseres Mannes bloss in zwei kleinen Teilchen bestand, von welchen das erste das Arbeitsgut von selber in die richtige Stellung brachte und so Arbeitszeit einsparte, und das zweite den Zugriff bei laufender Maschine auf einfache Weise und mit der bereits vorhandenen Vorrichtung zusammen verunmöglichte, sodass damit Unfälle ausgeschlossen wurden, was alle seine Mitbewerber mit grossen Schutzhauben zu verhindern suchten.

Hätte man diese Konstruktion nach dem Gewicht beurteilt, so wäre die seine ca. 30-mal ungewichtiger gewesen als die leichteste seiner Mitkonkurrenten. Hätte man sie aber nach dem Ausmasse gemessen, so hätte sie sogar l50 mal weniger Raum für sich beansprucht als die geringste seiner Mitkonkurrenten. Das bekam er auch zu spüren, als nach Feierabend die Arbeiter der Fabrik zu sehen kamen, was da konstruiert worden sei. Denn sie sahen mit einer gewissen Achtung auf die grossen Vorrichtungen und äusserten sich über deren gutes Aussehen, betätigten sogar die eine oder andere, während sie die seine höchstens flüchtig und unverständig oder gar kopfschüttelnd ansahen. Aber er war sich das ja gewohnt! Er schaute sogar selber voll Bewunderung auf die gekonnte Form der Vorrichtung einer seiner Mitbewerber. Obwohl er sich ihrer Mängel voll bewusst war, so faszinierte ihn doch die gelungene Form, und er erkannte sein Unvermögen, etwas Überzeugendes herzustellen. Er fand darin seine Minderwertigkeit bestätigt, sodass er diesen Abend nicht mit andern Gefühlen nach Hause ging, als an jedem früheren Arbeitstag auch.

Der Meister und der Personalchef aber hatten diesen Abend noch viel zu diskutieren. Der Personalchef meinte, dass einer der Fünf wohl unbedenklich ausgeschieden werden könne.  –  "Welcher?", fragte ihn der Meister und erhielt die Antwort: "jener, der geschlagene fünf Morgenstunden herumgestanden ist". – "Wie beurteilst du denn die Übrigen?", wollte der Meister vom Personalchef wissen. –  "Ja, das ist eben deine Sache", befand dieser und fügte bei: "das kannst du besser beurteilen". — "Also fangen wir bei demjenigen an, dessen Ideenreichtum uns gleich zwei Vorrichtungen bescherte", meinte der Meister in seinem Fache und fuhr fort: "Die eine der beiden führt wohl zu kürzerer Bearbeitungszeit, aber sie kompliziert die Bestückung und verlängert diese Zeit, welche ohnehin die grössere von beiden Zeiten ist. Damit wächst aber erst noch die Unfallgefahr, welche er mit einer Vorrichtung zu bannen sucht, die nochmals zur Komplizierung der Bestückung beiträgt. Deshalb seine zweite Vorrichtung, welche die Handhabung des Schutzes zwar vereinfacht, aber dafür die Bearbeitungszeitverkürzung fast gar aufhebt.

Die Konstruktionen der nächsten beiden Bewerber sind viel zu voluminös! Alleine, sie zu warten und nach jeder Betätigung vom anfallenden Bearbeitungsrückstand zu säubern, braucht schon so viel Zeit wie die Reinigung der ganzen Maschine. Zudem behindern sie die Sicht und versperren den Platz für die gefertigten Teile. – Und jene mit der Bedienungsanleitung ist so kompliziert und braucht so viele zusätzliche Zugriffe des Arbeiters, dass am Ende nur eine kleine Zeitersparnis herausschaut, aber dafür eine desto grössere Ermüdung des Arbeiters. Zudem ist der Schutz nur garantiert, wenn er in der der Bedienungsanleitung konformen Reihenfolge betätigt wird. Ein solcher Schutz aber, der nicht selbsttätig schützt, ist kein wirklicher Schutz. Da kannst du ebenso gut als Schutz, die Verordnung machen, dass der Arbeiter bei laufender Maschine seine Hände weg halten soll".  –  "Ja, dann musst du eben wie bis anhin alle deine Vorrichtungen wieder selber konstruieren und gestalten und wir stellen bloss eine Hilfskraft zur Ausführung ein", meinte stirnrunzelnd der Personalchef. –  "Oder wir begutachten vorher auch noch die Konstruktion des Herumstehers", wandte der Meister ein.

Und diese ergab dann, dass sie mit einer Materialersparnis von 150% gegenüber den andern Vorrichtungen die sicherste und am meisten rationalisierende war, die kein "wenn und aber" hatte oder brauchte.

Und so kam es, dass eine Woche darauf der minderwertigkeitsbewusste Arbeiter im Büro des Meisters stand und diesen verwundert fragte, weshalb gerade er berücksichtigt worden sei.  "Auf Grund ihrer Arbeit natürlich", meinte dieser, worauf sich ein längeres Gespräch entspann, während dessen Verlauf der neue Arbeiter stets unruhiger wurde, weil er glaubte, nun endlich arbeiten zu müssen. Aber der Meister, der das wohl verspürte, beruhigte ihn stets wieder von neuem und sagte zu ihm schlussendlich einmal: "Sehen Sie, Ordnung macht übersichtlich, und Übersicht erleichtert die Arbeit. Und diese Erleichterung macht den Ernstwilligen dankbar und willig, noch mehr zu tun. Und das ist Grund genug, dass wir uns nun zuerst ein wenig ordnend über Ihre Probleme unterhalten wollen. – Sie haben mir im Verlaufe des bisherigen Gespräches erzählt, unter was für einem Komplex Sie leiden und wie bis jetzt keiner, all der bereits konsultierten Psychologen fähig war, Sie davon zu befreien. Soll ich Ihnen nun aber auch einmal erklären, weshalb das so war, so ist und auch so bleiben wird? – Das bleibt deshalb so, weil wir Menschen alle auch wirklich in einem gewissen Sinne minderwertig sind! Sie, mein neuer Freund, sehen doch bestimmt auf einen einzigen Blick all die vielen tausend Fehler, die wir trotz besserem Wissen täglich begehen. Und sähen Sie diese nicht, so hätten Sie Ihren Komplex los. Aber Sie wären dann dafür auch ebenso blind und dumm wie alle andern, denen dieser so genannte Komplex fehlt, der in Tat und Wahrheit nichts anderes, als eine Wahrheitserkenntnis ist.

Gegenüber dem richtigen Bilde, das Sie in Ihrer Vorstellung von den Dingen und auch von einem richtigen Menschen in sich tragen, ist Ihr Handeln nichts anderes als minderwertig, genau gleich wie mein Handeln gegenüber meinem Bilde der Vollendung minderwertig ist, welches Bild dem Ihren sehr ähnlich, wenn am Ende nicht fast völlig gleich sehen könnte. Also darin, glaube ich, sind wir uns völlig einig! Und ich für meinen Teil möchte diese Eigenheit, das auch wirklich und gefühlstief einsehen zu können – was die anderen eben "Komplex" nennen – nicht los werden. Denn würde ich das verlieren, wie könnte ich mich dann vervollkommnen?

Es fragt sich dabei bloss, wie wir damit gegenüber den Ansichten und der Wesensart der Andern mit grösserer innerlicher Ruhe bestehen können. Und dabei sollten wir uns zuerst einmal mit dem Wesen der andern, auseinandersetzen, damit deren Verkehrtheit keine wirksame Unordnung in unseren eigenen Gefühlen und Vorstellungen mehr bewirken kann:

Sehen Sie, fast jeder, der für eine von ihm verlangte und getane Arbeit den Lohn empfängt, hat das Gefühl, dieser Lohn stehe ihm zu. Verlange ich nun von einem eine Vorrichtung, und er konstruiert sie so, wie er glaubt, dass ich sie wolle, so hat er seiner Meinung nach Anrecht auf den Lohn. Das Vergewissern, ob er mich richtig verstanden hat und ob meine eigene Vorstellung mir schlussendlich dienlich ist, das kümmert ihn nicht – dafür empfängt er keinen Lohn, sondern nur für seiner Hände Arbeit. Ja, gleicht ein Arbeiter bei einer solcher Haltung in seinem Gemüte nicht all jenen vielen Pfaffen der verschiedensten Glaubensrichtungen, die auch nicht dafür den Lohn empfangen, dass sie ihre Glaubenskinder in den Himmel bringen, sondern dafür nur, dass sie ihnen eine Sicherheit geben, dass siemit ihrer Hilfe in den Himmel kommen – ob das dann auch wirklich einmal zutreffen mag, oder vielleicht doch eher nicht. Und dieses Sicherheitsgefühl wird bei den blinden, trägen und dummen Menschen auch bloss nur mit den äussern Mitteln des Scheines erwirkt. Aber damit ist in der Wirklichkeit niemandem gedient, ausser den Pfaffen selbst – durch den Lohn, den sie für ihre schlechte und nur dem Scheine dienende Arbeit für sich beanspruchen. Denn genau gleich, wie ich bei einer Vorrichtung zum Schutze des Arbeiters diese gar nicht zu sehen brauche, sondern nur darüber die Einsicht zu haben brauche, dass und wie sie wirkt, so bedarf der Mensch auch keiner sichtbaren Zusicherung, dass er in den Himmel komme, sondern nur die Einsicht, wie der Himmel beschaffen ist, und wie er selbst – infolge solcher Himmelsbeschaffenheit – gestaltet sein muss, damit er dieser notwendigen Beschaffenheit in seinem Wesen nicht widerspricht, weil Sich-Widersprechendes sich nicht vereinen lässt, sodass er selber unter Umständen dadurch vom Himmel getrennt bleiben kann, dass er innerlich seinen Prinzipien entgegengesetzt gestaltet ist. Denn der Himmel ist ein Zustand – und keine Örtlichkeit, sonst könnte er nicht inwendig sein, wie die Bibel sagt.

Begehre ich aber eine solche Einsicht, so ist mir mit blossen Zusicherungen, nicht gedient, und ich bin auch nicht bereit, für solche einen Lohn zu bezahlen – weder als gläubiger Mensch den Pfaffen, noch als Meister dem Arbeiter, der mir eine noch so grosse Vorrichtung vor Augen stellt, als Zusicherung, dass damit wohl nichts passieren sollte.

Die meisten Menschen aber glauben ja nur, was sie sehen und hören. Sieht einer einen solchen Schutz, so fühlt er sich so sicher wie einer, der eine Zusicherung erhält. Ein Urteil darüber zu schöpfen, ob das äussere Bild auch der innern Notwendigkeit entspricht und ihre Forderung erfüllt, sind solche Menschen nicht fähig. Sie dienen also bloss dem Äussern und damit sich selbst um des Lohnes willen – und nicht dem andern, und noch weniger der Wahrheit, die das Wohl aller beinhalten muss. Sie nehmen also Lohn für eine Arbeit, die sie nicht wirklich tun, sondern nur zu tun scheinen. Darum können solche Menschen auch Ihr Herumstehen beim Entwurf einer Vorrichtung nicht verstehen und sind auch nicht bereit, es zu bezahlen. Sie bezahlen viel lieber den Schein, besonders wenn er gross ist und ein gediegenes Aussehen hat. Diese alle haben also nicht einmal einen Hochschein über ihre eigene, völlige Minderwertigkeit in diesem ihrem ahnungslosen Zustande – minderwertig sowohl gegenüber dem Ideal, als auch gegenüber ihrem Nächsten, den sie durch ihre Leerheit fortwährend betrügen, ohne dies zu wissen oder zu gar zu wollen. Deshalb können sie auch so leicht Entschlüsse fassen und dann auch an die Richtigkeit ihrer Entscheidungen glauben, so, wie sie den Worten anderer glauben, weil sie in keiner Art und Weise fähig sind, zu empfinden und einzusehen, wie unvollkommen das ihre und des Andern Urteil ist.

Solchen Menschen gegenüber müssen Sie und ich, müssen wir beide uns ja schwerfällig vorkommen. Und das eben erscheint dann als eine Bestätigung unserer Minderwertigkeit und wirkt sich so zu einem Komplex aus, sofern wir diese Abläufe nicht wohl erkennend ordnen – für den aber bei richtiger und umfassender Betrachtungsweise absolut kein Grund besteht, wie ich Ihnen soeben dargetan habe.

Denn: sind wir wohl minderwertig gegenüber dem Ideal – gegenüber der Vollkommenheit oder gegenüber Gott, wenn nicht seine Liebe zu unserer Schwachheit bestünde, die uns erst in dieser Schwachheit seine Stärke zukommen lassen will, damit wir uns unserer Stärke wegen nicht überheben, so sind wir aber dennoch nicht minderwertig gegenüber den Andern, sondern sind ihnen überlegen dadurch, dass wir Dinge sehen und erfassen, und zu beurteilen suchen, die jene nicht einmal zu erahnen fähig sind. Weil wir aber in zwei Dimensionen zugleich – der äussern und der innern – tätig sind, und auch sein müssen, um beides in einer übereinstimmenden Ordnung zu halten, so sind wir notgedrungen auch langsamer in unserer Arbeit – aber nur dem Erscheinen nach. Denn was Andere dann erst am ersichtlichen Objekte prüfen und erproben müssen, das haben wir schon lange vorher im Stillen in uns selbst erprobt, korrigiert und vollendet, während die andern, welche die sichtbare Arbeit schneller verrichtet haben, das alles im Äussern noch nachholen müssen, was wir vorher in uns selbst abgeklärt haben. Über diese bei ihnen ebenfalls notwendige Abklärung hinaus aber brauchen solche eine erneute äussere Tätigkeit zur Verbesserung und Korrektion der im ersten Produkt enthaltenen Mängel. Aber für äussere Augen sind sie dennoch tätiger als wir beide, verbrauchen aber dabei auch viel mehr – und vor allem nutzlos – Material, das ihre Auftraggeber dann nebst dem Lohn noch zu bezahlen haben, und das schluss-endlich sogar der Schöpfer alles Materials dadurch zu bezahlen hat, dass er durch die entstehende grosse Unordnung – die durch die Materialanhäufungen solch materieller Menschen geschieht – genötigt wird, Wege zu finden, diese Unordnung wieder in eine neue Ordnung auszugleichen.

Zu diesem Material und zu dieser Unordnung gehört aber auch alles von aussen erlernte Wissen eines Menschen, das ihn nur hindern kann, aus seiner ursprünglichen innern Ordnung seiner Liebe heraus tätig zu werden. Und wäre es nicht so, so hätten all die verschiedenen, von Ihnen bezahlten Psychologen Ihr Problem ordnen können, anstatt zu versuchen, das in Ihnen allerordentlichste Bild zu zerstören, das ihrer bloss äusserlich erlernten Ansicht nach falsch ist, um Ihnen – ihrer verkehrten Ansicht nach – helfen zu können. Dabei hätte es genügt, wenn sie das ohnehin völlig Intakte in Ihnen bloss in die richtigen Relationen gesetzt hätten – so, wie wir das nun zusammen gemacht haben. Ihnen, als Patient, wäre damit ebenso gedient gewesen wie den Psychologen selbst, die dadurch wenigstens zur Einsicht ihrer vielen eigenen Mankos hätten kommen müssen.

Nun aber birgt diese Erkenntnis auch eine Gefahr in sich – nämlich diese, dass wir uns infolge der positiven Bilanz unsern Mitmenschen gegenüber zu überheben beginnen, wenn vielleicht auch nur innerlich. Deshalb dürfen wir eben – nach der Aussage des Evangeliums – nur vor unserer eigenen Türe kehren und müssen auch mit dem grossen Apostel Paulus zusammen bekennen: 'Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, aber das Schlechte, das ich nicht will, das tue ich'. (in seinem Brief an die Römer 7, 19)

Wenn Sie nun so sichtbar aufatmen, dass ich es nicht nur sehe, sondern sogar höre, wie sehr Ihr Komplex durch diese Erkenntnisse zerteilt und zu einer neu- und wohlgeordneten Ansicht wurde, so gibt mir das Gelegenheit, Ihnen – als mögliche Hilfe gegenüber einer allfällig sich aufdrängenden Gefahr der Überheblichkeit – zu zeigen, dass Sie mit all Ihrer innern und äussern Tätigkeit nicht von selber vermocht haben, Ihren Sie drückenden Knoten zu lösen. Vielmehr musste das von aussen her, in diesem Falle – rein äusserlich gesehen – durch mich, geschehen, wie es auch bei mir selbst von aussen her hatte kommen müssen durch das Wort eines andern, der in meinem Herzen sich zuerst Gehör verschaffen musste.

Dieser Vorgang soll uns mahnend zeigen und verdeutlichen, dass, wenn wir auch alles getan hätten, wir bekennen müssten, dass wir dennoch allzeit faule und unnütze Knechte waren, wie es auch in der Schrift steht, dass wir das aus tiefstem Herzen und lebendig in uns fühlend bekennen sollen. Und nun glaube ich, so wohlgeordnet können wir auch wohlgemut und voller Hoffnung auf die Kraft des Guten in uns – die nicht von uns selbst kommt, sondern von dem, der uns erschaffen hat, und der uns diese mitgab –, dass wir also voll Hoffnung auf diese Kraft unser Tagewerk beginnen können."

29. 4. 1992

Aus der Reihe: "Wenn wir christlich leben würden"

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