In tiefster Nacht

Vieles, das uns abartig erscheint, hat viel tiefere Gründe, als wir gemeinhin annehmen. Wer die Gründe dafür zu erahnen beginnt oder gar erkennt, beginnt auch zu begreifen, wie es zu so manchem kommen kann, das wir Menschen im Allgemeinen nicht verstehen können. Wie in einem Märchen tun sich ihm dabei Türen und Möglichkeiten auf, zu helfen, die dem gewöhnlichen Menschen unbekannt bleiben müssen. Denn er kennt damit auch Wege, einem in der Nacht und im Gestrüpp seiner Gefühle Verirrten zu begegnen und ihn auf eine wunderbar licht- und verständnisvolle Art aus seiner Not zu befreien – so wie das in dieser Geschichte einem Manne mittleren Alters, wenigstens für den Moment des Zusammenkommens mit einer jungen Dirne, gelungen ist. Wer sich vom Liebe-Ernst seiner Aussagen innerlich ansprechen lässt, für den erschliesst sich ein Licht und ein Trost, wie er ihn bisher nicht kannte.

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IN TIEFSTER NACHT

Es geschah einmal eines Abends in einer Stadt, dass ein Mann, der zu seinem Auto ging, von einer jungen Dirne mit folgenden Worten angesprochen wurde: "Suchst du etwas?" – "Nein, eigentlich suche ich nichts", gab er zurück, "aber ich bin gerade dazu aufgelegt, etwas zu erleben, und ich wäre fähig, dich ganz tüchtig zu bearbeiten. Willst du das?" Der Mann spürte, wie sich etwas in seinem Gegenüber regte, und als er das "Ja" kommen hörte, merkte er, dass es in einer Erregung fast erstickt wäre – dass die Erregung fast die Kraft der Sprache aufgezehrt hätte. Und er sagte darauf: "Du bestimmst den Preis und ich bestimme die Spielregeln, die strikte eingehalten werden müssen; ist es recht so?" Im zweiten "Ja" verspürte er die Erregung einer unsichern Erwartung, und er präzisierte: "Wenn einer von uns beiden die Regeln verletzt, so wird aus allem nichts und wir sind dann wieder getrennt." – "Mhm"; das Nicken des Kopfes zu der unbestimmten Form der erneuten Zusage liess erkennen, dass das junge Mädchen, das dem Manne mittleren Alters gegenüberstand, durch diese merkwürdigen Vorbedingungen etwas verunsichert war, dass es aber dennoch wollte, was es sich anfangs vorgenommen hatte. "Also, nenne den Preis, so können wir gehen." Sie nannte ihm den Preis, den er schon deshalb nicht abzuschätzen vermochte, weil er noch nie zuvor in einer solchen Situation war, aber er sagte entschlossen zu der schönen Dirne: "Angenommen, und wenn du aushältst, so gebe ich dir ein Mehrfaches." Sie nickte ihm zu mit einem äusserst langen, fragenden Blick, und er wandte sich zum Gehen, indem er sagte, dass sie neben ihm her gehen solle, aber nicht voll zur Seite, sondern etwas rückwärts versetzt; dass das bereits zur Regel gehöre. Als sie nach kurzem Wege zum Auto, einem Kleinwagen, kamen, schloss er die hintere Türe auf und liess sie einsteigen, während er sich ans Steuer setzte, sein Auto aus der Parklücke manövrierte und davonfuhr in Richtung Stadtrand. "Wo geht es denn hin?" fragte sie mit einer sichtlich fest klingen sollenden Stimme. "Wir fahren in den nahen Wald an der Ausfallstrasse." Mit dieser Antwort begnügte sich das Mädchen. Es war ihm zwar nicht ganz wohl dabei, aber es fand es besser und weniger anstrengend, zu schweigen, anstatt weiterhin vom hintern Sitz aus nach vorne zu fragen.

Sie fuhren noch eine ganze Weile durch den nahen Wald, sodass die Entfernung von der Stadt dennoch grösser wurde, und kamen mit der Zeit auf einem Waldweg zu einer kleinen Blockhütte, wo sie anhielten und ausstiegen. "Hast du ein Nachtmahl gehabt?" fragte da der Mann seine Begleiterin als sie in der Blockhütte angekommen waren, was diese bejahte; nur habe sie einen rechten Durst bekommen von der Fahrt, meinte sie. "Das macht deine Erregung aus," belehrte sie freundlich der Mann und er fragte sie, ob sie eine Milch trinken wolle, denn er habe den Einkauf für eine halbe Woche im Auto. "Gerne, ja", gab sie ihm zur Antwort. Und etwas verwundert über die Ruhe und die fast väterliche Erklärung über den Ursprung ihres Durstes, blickte sie nach dem ihr noch gänzlich unbekannten Manne und sah nicht nur sein Profil, sondern sogar die Züge seines Gesichtes, welches vom hellen, voll und dennoch weich fallenden Mondlicht erhellt wurde, während er zurück zum Auto schritt. In der Blockhütte selbst hatte es zwei lange Tische mit Bänken beidseits davon. Eigentlich ein recht einfacher, aber im Mondlichte dieser Frühlingsnacht doch fast romantisch wirkender, grosser Raum, in welchem sich die junge Dirne doch etwas fremd vorkam. Und als der Mann mit einer Packung Milch wieder eintrat, da verspürte sie eine gewisse väterliche Wärme von ihm ausgehen und den ganzen Raum erfüllen. Und es erwärmte sich ihr Gemüt sofort wieder und die Leidenschaft wurde wach in ihr und ihr kamen die Worte des Mannes in den Sinn, die er ihr zu Beginn der Begegnung sagte, dass er fähig wäre, sie ganz tüchtig zu bearbeiten.

Er hatte zwar ein äusserst ernstes, aber sonst harmonisches Gesicht, aber sein Benehmen war auffallend weich und irgendwie fast sorgend, sodass sie sich in ihm keine Leidenschaften vorzustellen vermochte. Die Einfachheit und Selbstverständlichkeit, mit der er ihr nun den Milchdrink übergab, mit den Worten: "Setze dich doch einmal", passten so gar nicht zu einem Manne, der vorher einer Dirne zugesagt hatte.

Sie setzte sich gleich am Tischende und der Mann nahm ihr gegenüber, etwas seitlich versetzt, Platz. "Willst du dich denn nicht zu mir hinsetzen?" fragte sie ihn verwundert, und er gab ihr zur Antwort, dass das vorderhand nicht sein könne, dass es im Gegenteil fortan zur Spielregel gehöre, dass sie auf diesen Plätzen verharren. "Das sind aber merkwürdige Spielregeln!" meinte das Mädchen", mich nimmt nur wunder, wie du mich derart ganz tüchtig bearbeiten willst?" –

"Warte nur, denn die Nacht währt noch lange. Trinke du nun deine Milch und kühle dich ein wenig damit. Ich sage dir, dieser dein zugewiesener Platz soll dich noch bearbeiten, oder anders gesagt, mein Wille oder die Spielregel, die dich darauf bannt. Denn mir ist es äusserst ernst mit den Spielregeln, und willst du sie nicht beachten, so stehe ich sofort auf und fahre dich wieder in die Stadt. – Ist das klar?" – "Ja, das ist mir jetzt klar", antwortete sie mit nicht geringer Verwunderung; und er präzisierte, dass sie jetzt vielleicht keine grosse Lust empfinden würde, dass es aber dennoch besser wäre, die Spielregeln äusserst genau zu beachten, da sie sonst des Preises verlustig gehe und in dieser Nacht gar nichts gehabt habe. "Aber siehe, ich will dir nun etwas eröffnen, das dich vielleicht – nur vielleicht, sage ich – dennoch spüren lässt, wie dich dieser Platz bearbeiten könnte. Weisst du", fuhr er in seiner Rede fort, "ich habe schon etwas mehr und bessere Empfindungen für dich, als dass ich dich nur einfach – gleich allen meinen Vorgängern bei dir – bloss einmal so recht gebrauchen möchte. Du bist eine gar schöne Blume und hast noch einen köstlichen Duft in deinem Herzen, für den es ewig schade wäre, ihn im Schlamme aller Leidenschaft zu verderben. Ich denke, du bist nicht voll befriedigt von dem Geschäfte, das du betreibst, wie lange tust du's schon?" – "Noch nicht lange, erst seit einigen Wochen." – "Und wie bist du dazu gekommen?" – "Das ist eine längere Geschichte", meinte nachdenklich das Mädchen. – "Gut, erzähle sie mir, wir haben ja Zeit und müssen uns durch sie nicht bedrängen lassen", gab der Mann zur Antwort. – "Weisst du, ich bin in ganz ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen", begann das Mädchen zu erzählen. "In meiner Familie war alles gut und recht und wohlgeordnet; es war alles vernünftig. Aber in dieser Ordnung und in dieser Vernunft war es mir oft unerträglich. Ich hatte viel Wärme und Gefühl, und wenn ich oft voll Dankgefühl für irgend etwas zu meinen Eltern kam, so merkte ich, dass sie selber es mir gar nicht so sehr aus brennender Liebe gegeben oder getan hatten, als vielmehr, weil es ihr Einsehen war, dass es gut sei. So wünschte ich mir als Kind einmal sehnlichst einen roten Pullover, den ich in einem Schaufenster gesehen hatte, aber die Mutter hatte kein Gehör dafür. Über einen Monat später lag er in meinem Kasten. Ich war ganz entzückt davon und mich ergriff deshalb eine tiefe Liebe zur Mutter, weil sie über diese vielen Tage und Wochen hinweg meinen Wunsch nicht vergessen hatte, und es mir schliesslich doch zuliebe tun wollte, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Als ich voll Dankgefühl zu ihr kam, und ihr meine Freude schildern wollte, da merkte ich sofort, dass sie überrascht war und anfangs nicht begriff, worum es ging. Wohl sagte sie nachher, dass es sie freue, wenn es mir eine Freude mache, aber ich spürte ganz genau, dass sie nicht absichtlich, sondern nur zufällig diesen Pullover gekauft hatte, was mir zusätzlich ihre Aussage bestätigte, dass sie ihn dort und dort gekauft habe und nicht in jenem Laden, da ich ihn entdeckt hatte. Hätte sie ihn mir zur Freude gekauft, ja - wäre ihr mein eigen Herz so viel Wert gewesen, dass sie in selbes geschaut hätte, so hätte sie ihn ja dort kaufen müssen, wo er sicher zu kaufen gewesen wäre, und nicht an einem Orte, wo sie nicht wissen konnte, ob es ihn dort gibt. Aber weisst du, was ich bei ihren Worten fühlte, das gab mir mehr Sicherheit über meine Ansicht, als dieser Umstand. – Und so war es stets in meiner Familie: alles war recht und gut, aber nie, weil mich jemand angeschaut hätte und in meinem Herzen gelesen hätte, was ich brauche. – Wenn ich den Eltern half, so war das für sie stets recht und angenehm, aber das, was ich ihnen eigentlich im Überschwang meiner Gefühle geben wollte, meine ganze Liebe, gegenüber der die kleine Arbeit geradezu nichtig war, die nahmen sie nicht wahr; und so blieb ich stets alleine mit aller Glut meiner Liebe; und keinen Menschen gab es, den ich mit ihr erregen und beleben oder erquicken konnte.

Als ich in die Lehre ging, da spürte ich die Härte und das Grau des Alltages. Alles wollte herrschen und Vorteile ziehen, niemand war bereit, etwas zu erbringen, das allen gedient hätte und das dadurch den Alltag – oder gar die ganze Welt – bereichert hätte. Da dachte ich, dass diese Menschen das nur nicht wüssten, wie schön es sein könnte, gäbe jeder nur ein wenig aus Liebe zum Ganzen, und ich beschloss, es ihnen zu zeigen. Ich gab mir alle Mühe und tat stets mehr, als mir aufgetragen ward. Aber da bekam ich den Neid der andern Lehrtöchter zu spüren, die sagten, dass ich nur schmeicheln wolle; dabei half ich ja auch ihnen selbst, wo ich konnte. Die Erwachsenen aber hatten zwar wohl eine Freude, aber sie genossen nur die Vorteile meiner Art und wollten sich nicht anstecken lassen zu einer liebevolleren Lebensweise. Manches Mal dachte ich mir, ich könnte in völliger Armut nackt vor ihnen stehen und ihnen dienen, so wäre das für sie ebenso recht und sie hätten dabei nicht mehr Gefühle und Regungen, als so. – Kurz, ich konnte tun, was ich wollte, ich konnte auf der einen Seite dennoch niemanden für etwas Besseres erregen und anderseits konnte und wollte sich auch niemand mit meinem Herzen befassen und bei mir und meinen Gedanken verweilen um an meiner innern, aber einsamen Gefühlswelt teilzunehmen. Ja, sie sprachen zwar schon zu mir und mit mir, weil ich umgänglich war, und viele auch, weil ich eben nicht un-schön war, aber meinen Kummer über mein vergebliches Bemühen wollten sie nicht mit mir teilen, sondern sich nur freuen an meiner Gestalt. Ich fühlte es wohl, dass auch alle Männer mit mir geschlafen hätten, wenn ich es gewollt hätte, aber ich spürte ebenso, dass sie, ausser dem Erlebnis selbst, nichts dabei berührt hätte – alles wäre nachher, geblieben, wie es vorher war.

Da trat ein neuer, noch junger Mitarbeiter in die Firma ein, der schien mir anders zu sein, als alle, die ich bisher kannte. Er war stets sehr bewegt, wenn sich nur unsere Blicke kreuzten und er ging auch auf mich ein. Er sprach oft mit mir und er sagte dann auch einmal zu mir, dass er das brauche, was ich in mir hätte und dass er sich gewaltig bewegen liesse in seinem Innern, wenn ich gewillt wäre, ihm alles zu geben. Anfangs war mir nicht wohl bei diesem Eingeständnis. Ich glaubte, dass ich ihm ja vieles geben könne und er nicht gleich alles brauche und ich stellte ihm das auch verschiedentlich entgegen. Aber da sagte er, erst die wirkliche Armut könne ihn völlig erregen; solange ich noch meine Reinheit herumtrüge, die ich ihm vorenthalte, solange auch sei ich ja nicht arm und könne ihn jederzeit mit einem anderen vertauschen. Erst, wenn ich wirklich arm sei, dann errege ihn diese Armut und er wolle mich dann in seinem Herzen erheben zu seiner Freundin. Dabei geschah es einmal, dass ich ihm im Lagerraum, in welchem niemand zugegen war, gestattete, mein Geheimnis nur ganz wenig zu lüften. Dabei fasste er mich äusserst derb an. Ich erschrak zuerst ein wenig, dann aber verspürte ich eine Lust, indem ich spürte, dass meine Gestalt und meine Hingabe ihn wahrhaft zu erregen schienen. Am Abend darauf hatte er mich so weit, dass ich ihm alles gab. Danach aber hatte ich kein Gefühl mehr für ihn, denn ich spürte, dass er, genau wie alle andern, nicht wirklich und bleibend erregt wurde zum Schönen und Guten, sondern nur, bis er seine Leidenschaft gekühlt hatte. Und so blieb ich wieder alleine und kam mir vor wie ein nützlicher Gegenstand, den jedermann gerne brauchte, von dem – oder von dessen Armut – aber niemand ergriffen wurde. Aber die Kühlung meiner eigenen Leidenschaft des Sich-Hingeben-Wollens hatte mir dennoch wohl getan, sodass ich sie zu suchen begann. Und seit einigen Wochen habe ich sie nun gefunden. Heute an dir. Und nun beginne du und lasse mich nicht als Gegenstand so vis-à-vis und erst noch seitlich verschoben hier sitzen.

Lass mich wenigstens meine Kleider ausziehen, so bin ich dir gegenüber so frei und zu deiner Verfügung, wie ich jedem vor dir zur Verfügung gestanden habe, nur mit dem Unterschied, dass ich's bei dir lieber tue, als bei allen zuvor. Ich weiss es nicht, warum das so ist, aber mich dünkt, wenn ich vor dir nackt stehe, so wäre ich einmal vor einem wirklichen Menschen gestanden, und nicht nur vor einer leeren Menschenform, voll von bloss tierischem Trieb, aber jedes tieferen Gefühles bar. – Lass mich doch! – Ja?" –

"Bleibe vorerst sitzen wo und wie du bist", gab der Mann zur Antwort, "denn zwei Dinge müssen zuvor noch geklärt sein: Wenn du dich nun auszögest und ich dich mächtig ergriffe und dir tun würde, was dein ganzes Wesen verlangt, sage mir – und überlege dir zuvor –, ob dann nicht auch du von mir dasjenige nähmest mit jener Gleichgültigkeit, wie die andern bis jetzt von dir genommen haben. Wohl würdest du sehr erregt – und bist es jetzt schon zur Genüge sogar –, aber nach der Erregung wäre ich ein von dir ebenso benutztes Objekt, wie du selbst es bis jetzt für alle andern warst. Willst du nun nicht eher an mein Herz denken, das ja dem deinen immerhin ähnlich sein könnte, und das sehr leiden könnte, wenn es sähe, wie du mit dieser billigen Erregung zufrieden wärest, wo doch eine innere, viel tiefere Erregung dich auf ganz andere Bahnen bringen könnte, auf denen du wahrhaft glücklich würdest und eine tiefe Dankbarkeit in dir Platz griffe, anstelle deiner jetzigen Erregungshascherei?" Mit sehr verwunderten Augen sah nun das Mädchen sein Gegenüber an und schwieg eine sehr lange Zeit. Es betrachtete den etwas erregten Mann, der vor sich hin blickte, als wäre es nicht da, und dessen Erregung nicht derselben Art sein konnte, wie die seine. – "Ja", sagte nach längerer Zeit das Mädchen mit niedergeschlagenem Blick, "ich bin wohl schon geworden, wie alle anderen Menschen sind. Einzig dieses eine Feuer in mir brennt mächtig, sonst aber habe ich schon bald keine Wünsche mehr. – Komme doch, und lösche es, ich brauche keinen Preis dafür; auch wenn du mich nicht so kräftig bearbeiten wirst, so wird es löschen, denn deine Art und dein ganzes Wesen besänftigt es auf merkwürdige Weise, und ich kann auch kaum glauben, dass du mich wirklich bearbeiten könntest." – "Das scheint dir nun wohl so", gab ihm der Mann zu Bedenken, "aber, was meinst du, weshalb wir so sitzen, wie ich es wollte? Ich möchte, dass dein Feuer länger brennt, als nur für so kurze Zeit, damit es eine Gelegenheit bekommen kann, in deinem Herzen wieder einen bleibenden Herd zu finden, wo es nicht zum Erlöschen sein Dasein fristet, wie es in deinem Leibe nun stets geschieht." –

"Willst du mich unnötig quälen?" fragte das Mädchen zurück. – "Wurde dein Blick nicht leuchtend und deine Wangen rot, als ich dir versprach, dich tüchtig zu bearbeiten? Ist es nicht recht, wenn ich es jetzt tue auf meine Art?" fragte der Mann. "Meinst du übrigens, dass nur du Qualen ausstehest? Du wolltest dich doch ausziehen vor mir. Sage mir aber, bist du nicht mehr als ausgezogen und stehest nackt vor mir, wenn ich aus deiner Geschichte sehe, wie dein Inneres um allen Reichtum deiner Liebe gekommen ist, bis hinunter zur puren Lust des Fleisches.

Hast du das Gefühl, dass deines Leibes Nacktheit eine andere sei, als jene irgendeines beliebigen anderen Mädchens? Oh, denke doch, wie blind du urteilst! – Ihr seid doch alle gleich, wenngleich ich noch nicht so viele gesehen habe, wie du dir nun denken könntest. Aber die Menschen gleichen sich dem Leibe nach noch mehr als ihrer Seele nach; und das Los aller Leiber ist, dass sie einmal – nach der Scheidung von Seele und Leib – von den Würmern gefressen werden. Was "Rares" willst du mir da enthüllen? Und zudem ist ja alle Leibesgestaltung nicht vom Träger aus geschehen, sondern ist Natur oder Werk Gottes – wie du es nehmen willst. Dein Inneres, dein Herz aber hat eine Gestaltung ganz eigener Art, vom Inneren eines jeden anderen Menschen verschieden; und das liegt nun offen, nackt und noch blutend vor mir. Verletzt von den vielen kopf- und herzlosen Menschen und nun zuletzt auch noch von der begehrenden Natur deines Leibes. Mich jammert dein Schicksal, und der Verlust deines kindlichen Reichtums schmerzt mich stark, und gerne würde ich dir alles ersetzen, wenn ich es nur könnte; aber mit der gewissen Löschung deines Brandes ist dir nicht geholfen.

Ich möchte dein blutendes Herz gerne zur Ruhe und Sammlung bringen und seine Wunde schliessen, wenn es mir nur gelänge! Dann würde ich dir gerne einen neuen Samen der Hoffnung in dein mir so teures Herz legen, damit er keime, wachsen und reifen kann, gerade so, wie dein kindlicher Hoffnungssame einst in dir gereift wurde, ehe die sich gestaltende Pflanze dann von jenem jungen Mitarbeiter brutal aus deinem Herzen gerissen wurde, das seither verödete, weil das Gewächs auf deinem Fleische zu wuchern begann. Du hast die Armut nun, die mich erregt, in deinem Herzen, in Form der Leere – und dabei war es so köstlich voll. – –

Glaubst du wirklich, dass es mich nun glücklich machen könnte, sähe ich dich nun nackten Leibes vor mir, wenn ich bedenken möchte, dass dieser Leib einst den Würmern zum Frasse wird und du in deiner grenzenlosen Armut deines Herzens mit einem völligen Nichts dastündest und ich dir nichts geben könnte, nur, weil dein Herz nicht fähig wäre, es zu behalten da es verletzt wurde und alle seine Wärme ausgeflossen ist, die den geschenkten Samen zum Keimen hätte bringen mögen."

Bei diesen Worten entwanden sich einige Tränen den feucht gewordenen Augen des Mädchens und es blickte fragend zu jenem Manne, von dem es zu fühlen und zu denken begann, dass es der erste wirkliche Mann sei, der ihm in seinem ganzen, zwar kurzen, aber kummervollen Leben begegnet sei. Und ihm fiel der Abstand zwischen ihm selber und dem Manne auf. Und es begann zu ahnen, dass es der seelische Abstand sei, der die Spielregeln so gestaltete, dass sie sich nie näher kommen könnten. Und trotz seiner nun gefühlten, grenzenlosen Armut begann es sich zu freuen, wenigstens einmal in seinem Leben – in diesem Manne nun – dasjenige noch intakt und sogar wirksam zu sehen, was es selbst in sich seit seiner Jugend auch verwirklichen wollte. Der Reichtum dieses Mannes tat ihm gut und tröstete ein wenig in seiner Situation, die nun doch einen schrecklicheren Anblick hatte, als es ihm sonst bis jetzt vorgekommen war. – "Du hast Recht, dass du einen Abstand zu mir wahrst!" sprach es in einer Art Selbstbeschuldigung. – "Ja, das habe ich mir auch wohl überlegt", gab der Mann zu bedenken, "wenn auch aus anderem Grunde, als du glaubst: Wir sind nämlich nicht so weit von einander entfernt, im seelischen Teile, wie du nun meinst. Wohl aber sind wir uns eher zu nahe, als dass nicht ein Abstand zwischen uns angebracht wäre. Wie gerne nähme ich dich, du Verlassene von aller Jugendhoffnung, in meine Arme, um dich besser fühlen zu lassen, wie leid du mir tust und wie gerne ich dir hülfe. Aber siehe, ich bin verheiratet und kann dir unmöglich das sein, als was du mich mit der Zeit vielleicht sehr gerne annehmen würdest. Daher darf ich dir nur mit Worten helfen, die dir bleiben können, wenn du mich auch nie mehr sehen wirst. Diese werden, wenn du sie gerne und mit Freude annimmst, ganz dein werden und dich beseligend berühren, aber eine leibliche Berührung kann dich nach einer Trennung nicht beseligen, sondern muss dir zum Schmerze werden und könnte dich ein zweites Mal in eine solche Situation bringen, wie dich die Berührung des jungen Mitarbeiters nun gebracht hat. Denn in ihrer Wirkung wäre sie gleich mächtig wie jene. Du würdest jede leibliche Berührung irgend eines Mannes an die Stelle der meinen, die dir in der Folge versagt bleibt, nehmen, und so Berührung um Berührung suchen und dabei in die gleiche Sucht verfallen, die du heute schon erleidest, ohne dass dich irgendeine solche Berührung trösten, stärken oder gar heilen könnte. Alleine die Berührung meiner Rede nur kann dich stärken, und du läufst nicht so schnell Gefahr, irgend anderswo eine solche zu finden, als in deinem Herzen nur; wie auch ich in meinem Herzen berührt wurde, als du mich zum ersten Mal angesprochen hattest. Diese Berührung rührt vom Guten, vom Göttlichen im Menschen her und beseligt und stärkt." –

"Aber – werde ich dann nicht einfach wieder gleich einsam sein wie früher, gesetzt den Fall, ich könnte an deinen Worten wieder genesen; und werde ich dich nicht noch mehr vermissen, als früher irgend etwas in meinem Leben, weil du nebst dem Ersten auch der Einzige bleiben könntest, der mich wirklich berührt hat?" –

"Wenn ich selber dich berührt hätte, dann schon", gab der Mann zur Antwort, "aber ich selber wurde ja zuerst berührt und du erst durch mich; und diese Berührung kommt von der Hand eines gütigen Vaters, der über uns allen wacht, gleichgültig, ob wir ihn kennen und an ihn glauben oder nicht. Wer aber diese Berührung einmal empfunden hat, wird sie nicht vergessen. Er wird sie stets überall suchen und nicht rasten noch ruhen, bis er sie wieder findet und wird in der zahllosfachen Wiederfindung eine Bestätigung der Wahrheit haben und so erkennen, dass es einen Vater im Himmel gibt.

Siehe, alle deine Hingabe an die Menschen – bei deiner Arbeit sowie auch die erste leibliche Hingabe – waren an sich aus deiner Liebe gekommen und deshalb an und für sich gut, so schlecht auch ihre Wirkung war. Das Schlechte der Wirkung war nur im falschen Gegenstand begründet, an welchen du dich hingeben wolltest.

Gibst du dich dem Wasser hin, so wird es dich ertränken und fortführen ins Meer der Vergessenheit. Gibst du dich dem Abgrund hin, wird er dich verschlingen, als wärest du nie zuvor gewesen; wie du's nun erlebt hast an dir selbst, wo deine edle Liebesglut sich verlor im Brande der Leidenschaft deines Leibes. Gibst du dich aber der Wärme und dem Lichte hin, so wird dich die Wärme beleben und das Licht erhellen, sodass du im vollen Lebensmittage alle Dinge richtig erkennen und beurteilen kannst und dich nicht mehr stossest an ihnen.

Wie du nun von mir alle Gewalttätigkeiten zu erdulden gewillt gewesen bist, die dir nichts gebracht hätten als die Löschung des Brandes bis zu einem baldigen neuen Brande, so solltest du alle Führung und Fügung erdulden, um dadurch schöner und geschmeidiger zu werden in deinem Herzen, bis es endlich jene Schönheit und Reinheit von Eigennutz erreicht hat, bei welcher dann eine erneute Berührung von deinem ewigen, himmlischen Vater selber stattfindet. Du kennst Ihn jetzt nur noch nicht und weisst auch noch nicht um seine übermächtige Liebe zu dir, sonst würdest du dich sogar von mir abwenden und geraden Weges Ihm selbst anhangen. Aber, damit du es besser verstehst, so denke dir, dass nun alle meine Worte nur ein Abglanz von Seinen ewig wahren Worten sind und dass die Liebe, die du allenfalls darin verspürst, nur die durch mich zustande gekommene Dämpfung Seiner Liebe ist, die Er zu uns beiden, wie zu allen Menschen, hat."

Bei diesen Worten verliess das Mädchen jede leibliche Lust und es bemächtigte sich seiner ein äusserst klares Bewusstsein und in ihm erwuchs der Wunsch, so sein zu können, wie es ihm der Mann so fasslich dargestellt hatte.

Der Mondschein fiel auf sein fein geschnittenes, eher blasses Gesicht, das von leicht gewelltem, braunem Haar umgeben war, und eine gewisse Andacht lag in seinem Blick, während sich seine Wangen ganz leicht zu röten begannen. Es war wie ein Märchen, und das Mädchen empfand es auch so, und eine tiefe Zufriedenheit verbreitete sich in seinem Gemüt; das Gefühl einer Geborgenheit, die es vorher nicht gekannt hatte, beruhigte und kräftigte seinen unruhigen Geist und in seiner voll werdenden Hoffnung empfand es einen kleinen, aufkommenden Hunger.

Als ob der Mann so etwas gefühlt hätte, fragte er unvermittelt in die Stille der unberührten Nacht, aber in die bewegte Welt des Mädchens hinein, ob sie etwas miteinander essen wollten. Weil die Frage das Mädchen in seinem erst erwachten Gefühle des Hungers so genau getroffen hatte, erregte es sich in der Liebe und bejahte ganz ungezwungen die Frage, aber sofort danach empfand es den Abstand zwischen sich und dem ihm so liebgewordenen, fremden Manne und es konnte sich ein gemeinsames Mahl nicht vorstellen. Als ob der Mann seine Gefühle und Gedanken an seinem etwas fragenden Blick abgelesen hätte, sagte er zu ihm: "Glaubst du nicht, dass wir ein ganz gemütliches Mahl miteinander nehmen können? Sieh, das geht viel leichter, als du denkst. In allen unsern Gedanken sind wir ja nun vorderhand zusammen einig und der Hunger nach einer Welt, in der Liebe der Grund einer jeden Tat sein sollte, ist uns beiden ja auch ebenso gemeinsam wie der Hunger des Leibes, der sich nicht nur durch die Arbeit unserer Gedanken, sondern auch durch die noch etwas frische Frühlingsnachtluft bedingt, eingestellt hat. Wo und wie unsere Leiber dabei sitzen, spielt keine Rolle. Denn umgekehrt spielt es bei den Menschen ebenso keine Rolle, wo ihre Leiber sich befinden, sie suchen dennoch immer-während bei ihren Nächsten das, was sie selber nicht haben und was ihnen auch nicht gehört. Also können wir doch in voller Eintracht aller unserer Gedanken ein gemeinsames, stärkendes Mahl halten, ohne dass uns dabei der Ort unseres Leibes stören soll. Nicht wahr?" – Freudig nickte das Mädchen und der Mann holte in seinem Auto denjenigen Proviant, der sich zum Verzehr in ungekochtem Zustand eignete, sowie auch etwas zum Trinken.

Als sie nun so sassen und wohlgemut assen und auch sparsam tranken, der Kühle der Getränke wegen, da dachte das Mädchen plötzlich daran, dass der Mann ihm schräg gegenüber ja verheiratet war. Und im Zwiespalt der Gefühle fragte es etwas beklommen, ob ihn seine Frau zu Hause nicht vermisse, und was sie wohl dächte, könnte sie ihn nun sehen, wie er mit ihr eine gemeinsame Mahlzeit halte in dieser einsamen Waldesstille. – "Meine Frau vermisst mich deshalb nicht", nahm er das Gespräch wieder auf, "weil sie ausgerechnet jetzt für zwei Tage bei ihrem Bruder weilt, weshalb ich auch den Proviant selber einkaufte und im Auto habe. Sie ist ein lieber Mensch und voller Vertrauen in mich. Könnte sie nun zugegen sein, so wäre sie glücklich, denn sie hätte ja sicher keinen Grund, mit mir unzufrieden zu sein. Wüsste sie es nur von mir erzählt, so würde sie mir glauben, denn sie vertraut mir ganz. Wäre das öfters der Fall, so würde sie wohl schon etwas beunruhigt, denn immerhin sind wir noch immer Menschen, die ganz leicht fehlen können. Aber sie liesse sich beschwichtigen – ich glaube nicht, dass sie deswegen grosse Auftritte machen würde; aber die Ruhe wäre wohl schon etwas dahin. Und sie müsste sich dann, so wie du nun, mit meinen Worten vertrösten lassen. Aber diese Unruhe würde sie ebenso beleben, wie diese später vielleicht stets wachsende Unruhe deinen Geist in dir beleben wird, sofern du nicht mehr fallen wirst, indem du dich wieder dem Falschen anstatt dem Richtigen hingäbest. Aber fallen würde meine Frau nicht so leicht." –

"Wieso denn nicht?" –

Weil sie sich nie so vehement irgendetwas hingibt wie du das tatest und wie auch ich selber es stets immer wieder tun könnte." –

"Ist dir denn dann meine Nähe nicht eine Gefahr, wenn du dich auch so schnell und vehement etwas hingeben kannst?"

Da lächelte der Mann und sagte dennoch sehr ernst: "Doch, sie ist es! Und sie wächst noch, je schöner du in deinem Herzen wirst. Denn auch ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen, das sich so leicht trösten lässt und so leicht wieder zurecht zubringen ist, selbst dann, wenn es weiss und fühlt, wie schwer die spätern, erneuten Entbehrungen sich gestalten könnten.

Das ist der zweite Hauptgrund meiner Spielregeln. Und gerade nun muss ich sie erneut erwähnen; sobald du dich nicht mehr an sie halten würdest, müssten wir abbrechen. Deinen Preis würde ich dir bezahlen, denn was ich heute Nacht mit dir erlebt habe, ist über jeden Preis erhaben, aber das Ende und die Heimfahrt wären sicher! – Dessen ungeachtet möchte ich aber, dass nicht eine einzige unnötige Berührung die Wärme, das Licht und die Sonne, die sich in dir zu regen beginnt, gefährden könnte. Wenn du einmal in weiter Zeitenferne dieser Begegnung gedenkst, so soll keine noch so leichte Sinnlichkeit deine Erinnerung trüben, sondern nur die Worte und die Wahrheit alleine sollen dir bleiben, damit du an ihnen wachsen und zunehmen kannst, ohne an etwas Sinnlichem zu hängen, das du in dieser Form nicht haben kannst und das dich nur behindern würde." –

"Wenn du aber so redest, machst du mich gerade sinnlich", unter-brach ihn das Mädchen. "Meinst du denn, ich könnte meine Hingabefreudigkeit im Zaume halten, wenn ich dich so reden höre? Wer hätte mich je so geliebt wie du, dass er sich noch für die fernsten Zeiten für mich sorgen möchte, dass mir ja nichts, als Gutes nur, geschehe. Wenn ich dir nicht bald ein gleiches tun kann, in irgendeiner Form – meiner Dummheit wegen nur in sinnlicher Weise –, so kenne ich mein Temperament nicht mehr, auch wenn es das Ende dieser schönen Unterredung bedeuten würde. Binde mich in meinem Eifer und meiner Leidenschaft mit einem Seile fest, sonst ist das Ende dieser Begegnung da, wenn ich es auch noch so bereuen würde, ehe es geschieht! Vielleicht wird mir wohler, wenn du selbst mir diese Begrenzung antust, anstatt du es von mir verlangst. Wenigstens hätte ich mich dann deinem Ernst hingegeben, wenn ich es deiner Liebe nicht tun darf!" – Das Mädchen weinte vor Verzweiflung und wand sich hin und her. Der Mann sah mit bedenklicher Mine zu der Dirne und sagte dann kurz entschlossen: "Gut, ich tue es dir, wenn es dich beruhigt; aber wenn du dich bewegst dabei und zu mir dich neigst, so breche ich sofort ab, einverstanden?" – "Ja, so tue es nur geschwinde, bitte, tue es, bevor es zu spät ist!"

Darauf ging der Mann zu seinem Auto und holte ein kleineres Seil, kam wieder zurück, blieb vor der Dirne stehen und wiederholte seine Bedingung: "Eine Bewegung, und ich breche ab!" – "Ja", sagte sie, und er ging zu ihr und band ihre Hände und sie selbst auf die Bank fest, aber nur in lockerer Weise, sodass sie zu ihm sagte: "Bist du aber ein sanfter Plagegeist!" – "Eine Plage muss sanft sein, aber stetig, wenn sie gute Früchte tragen soll ", gab er ihr zu bedenken, indem er schnell den letzten Knoten schnürte und dann wieder seinen alten Platz einnahm.

Nun sassen sie eine Weile schweigend da und die Dirne kam sich etwas lächerlich vor: mit einem so schweren Seil so locker gebunden, dass sie sich ihm sicherlich hätte entwinden können, wenn sie ernstlich gewollt hätte. Sie schämte sich vor ihm, aber ihre Liebe zu ihm wuchs. Sie sah, wie nützlich alle seine Liebe war und wie unnütz und lächerlich die ihre. Verschämt blickte sie ihn an. "Ich finde dich nicht so lächerlich, wie du dir vielleicht vorkommen magst", nahm er das Wort wieder auf. "Siehe, du leidest schwer und doppelt. Zuerst nun an deiner Natur und dann in der Einengung deines Geistes. Mich erfüllt ein tiefes Mitleid, wenn ich dich so sehe", sagte er weiter, "denn ich spüre, wie du nun das Gute tun möchtest und wie stets das Schlechte dabei herauskommt. Aber dir sei zum Troste gesagt, dass auch ein Apostel des Herrn dieselbe Erkenntnis haben musste, sodass er einmal sagte: 'Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Schlechte, das ich nicht will, das tue ich (Römer 7.19)'. – Begreifst du nun, wie tief das Leben greift, aber auch, wie hoch es hinaus kann? Nun bist du noch gefesselt vor mir, gefesselt mit deiner Leidenschaft, aber du wirst sie sicher stets mehr erkennen in ihrer nichtigen Lächerlichkeit und wirst sie ablegen und einmal frei auf dem Felde unseres gemeinsamen Vaters im Himmel arbeiten mit mir zusammen – ohne dass wir uns freilich dabei zu sehen brauchen; aber drüben, über dem Grabe, wo nicht mehr der Leib unsere Blicke begrenzt, werden wir uns wiedersehen und du wirst erkennen, dass nur der Vater, der im Menschen zu wirken beginnt, sobald dieser sich Ihm alleine hingibt, diese Worte – wenn auch durch meinen Mund – gesprochen hat. Denn Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm, so heisst es in der Schrift. Nur ist natürlich Bedingung, dass du nur Ihn erfassest mit deiner Liebe und dich auch nur Ihm hingibst und nicht mir oder einem andern. – Deine Liebe zu mir nimmt nun schon wieder zu, aber damit du nicht wieder in deine Leidenschaft verfällst, so denke dir, dass alles, was du dir auch nur ausdenken möchtest, was du meiner dich nun so beseligenden Liebe entgegen tun könntest, nur verschwindend klein ist neben dem Vielen, das mir der Vater im Himmel täglich antut. Danke im grossen Drucke deiner Liebe Ihm dafür, dass Er selber das an deiner statt mir täglich tut, so wirst du Erleichterung darin finden und deine Liebe zu Ihm wird zunehmen und wird deinen Schöpfer und Vater in dir gross werden lassen." Auf diese Rede schwiegen beide eine längere Zeit. Das Mädchen war wie aufgelöst in der Wärme der letzten Worte und es fand etwas Ruhe in seinem Gemüte. Beinahe schlief es ein, als es, durch eine Bewegung der Hand, seiner Fesseln wieder gewahr wurde. Da gedachte es seines vorherigen Brandes und Tränen fielen auf das dicke Seil; es litt unter seiner innern Fessel sehr, die ihm wie eine grosse Dummheit vorkam. "Was kann ich je Gutes tun?" seufzte es leise vor sich hin. – "Dem Vater dafür danken, dass er alles an deiner statt tut, sowohl an mir, wie auch an dir", gab sanft der Mann zur Antwort. – Wieder herrschte eine tiefe Ruhe in beiden und es war still zwischen den zweien. –

"Wie hast du das gemeint, vorhin, als du sagtest, dass eine Plage sanft sein müsse, wenn sie Früchte tragen solle?" unterbrach das Mädchen erneut die Stille. –

"Ich will dir ein Beispiel dafür geben", gab er ihr zur Antwort, "und dieses liegt um deine Hände und um deinen Leib gelegt. Es ist das locker gebundene Seil. Hätte ich dir das verweigert, so wäre unsere ganze, schöne Arbeit beendet gewesen, weil du dich nicht hättest halten können, was dir später ungemein stark leid getan hätte, sodass du über deine eigene Schuld – wie du es wohl betrachtet hättest – nicht leichtlich hinweggekommen wärest, und deine fernere Entwicklung und Zunahme im göttlich Guten der Liebe wäre dadurch blockiert gewesen. Diese schwere Plage – der so schnellen Beendigung – also hättest du kaum oder nur sehr schwer ertragen; sie hätte dir also keine guten Früchte gebracht. Hätte ich das Seil hingegen so straff gebunden, wie du es dir wohl gewünscht und auch vorgestellt hast, so wäre deine Leidenschaft vorerst gedämpft gewesen, und das Seil wäre alles andere, als eine wirkliche Plage gewesen. Aber so locker, wie ich es band, war es keine Befriedigung der Leidenschaft, und dennoch verhinderte es, dass du durch eine Unvorsichtigkeit der Unterredung ein zu frühes Ende gesetzt hast. Und nun geniert es dich ordentlich, aber du ersiehst als Grund dafür deine Leidenschaft. Sie hat dich in diese unangenehme Lage gebracht. Und dergestalt gemahnt es dich stets an sie, und das ist die gute Frucht der sanften Plage, dass sie dich an diese deine Grundplage stets erinnert und sie dich, mit ihr zusammen, als lächerlich erscheinen lässt, sodass du dich – sie bald überall erkennend – von ihr leichter trennen kannst." –

"Wie gut mir deine Worte tun!" sagte das Mädchen und atmete tief auf und ein. "Aber es ist trotzdem besser, ich behalte diese Plage, damit ich nüchterner bleibe." – "Das sei deinem Willen überlassen", meinte da der Mann; nur setzte er die Bedingung hinzu, dass am Ende ihres Beisammenseins das Seil wieder ihm gehöre, damit es gar nichts – ausser seinen Worten – behalten kann, weil alles andere – ausser diesen – seinen Fortschritt hindern könnte.

Mit einem süssen Blick betrachtete das Mädchen das dicke Seil und wollte es küssen. Aber der tiefernste Blick des Mannes, der auf ihm ruhte, hinderte es einen kleinen Moment daran, und dieser genügte zu seiner Ernüchterung, in welcher es erkannte, dass das wohl etwas Dummes gewesen wäre, in der Gegenwart desjenigen, dem sein innigster Kuss gegolten hätte, das schmutzige Seil zu küssen.

"Ich kann es nicht begreifen", nahm das Mädchen das Wort wieder auf, "wie deine Frau deine Liebe aushalten kann, ohne leidenschaftlich zu werden. Mich kann sie nicht ruhen lassen." – "Zum ersten ist sie sie gewohnt", begann er seine Antwort, "und zum andern frage auch ich mich manchmal, wie sie nicht etwas erregter werden kann, wenn mein Eifer mit ihr beschäftigt ist. – Nicht alle Menschen sind deiner und meiner Natur. Siehe, wir beide klebten wohl bald so sehr aneinander, dass Gott, unser beider Vater, nicht mehr Platz hätte zwischen uns, wären wir Mann und Frau. Dann wären wir aber auch beide verloren. Erst, wenn wir einmal vollendet sein werden, können wir eine so grosse und innige Nähe ertragen, weil dann unsere Liebe zum Vater stets um ein Vielfaches grösser sein wird, als die noch so grosse Liebe zu einem andern Menschen. Dann aber brauchen wir zwei einander kaum mehr, weil wir beide den Vater im Himmel, den Allerfeurigsten, haben werden. Aber wohl brauchen uns vielleicht noch unsere dannmaligen Ehepartner, die in der Liebe zwar etwas von uns aufnehmen können, aber vielleicht in der Geduld etwas abzugeben hätten, besonders dann, wenn wir aus einem Grunde den Vater nicht stets vor uns erblicken können, und darob leicht ungeduldig würden." –

"Wie kann ich aber nur meinen Vater im Himmel stets mehr lieben, wenn ich Ihn nicht kenne?" erkundigte sich sorgenvoll das Mädchen.

"Zum einen ist Er der Vollkommenste in seinem ganzen Universum und zum andern ist Er uns Menschen gleich, da Er in Jesus unter uns wohnte; du kannst Ihn also als vollkommenen Menschen lieben und verehren. Alles das, was dir an mir gefallen hat, ist von Ihm, und das, was du als Schwäche an mir erblickt hast, ist nicht von Ihm, sondern von mir selbst. Trachte danach, so vollkommen zu werden, wie der Vater im Himmel ist. Alles aber, was Er von uns Menschen, als seinen Kindern, zu unserem eigenen Vorteil will, ist, dass wir in unserer Liebe zu Ihm, und auch zu unserem Nächsten, der ebenfalls sein Kind und darum ein Bruder oder eine Schwester zu uns ist, stetig zunehmen, bis wir Ihn endlich über alles andere hinaus lieben können und darum dann auch unsere Nächsten wie uns selbst. Denn diese Liebe ist es, die sich dann stets mit Ihm beschäftigt, sich gleichsam ständig mit Ihm bespricht, sodass wir am Ende alles – auch unsere Liebetätigkeit zum Nutzen unserer Nächsten – nur nach Seinem Wohlgefallen gestalten und durch unsern steten Aufblick zu Ihm ein festes Verhältnis zu Ihm haben, gleich wie ein Kind zu seinen Eltern oder gar ein liebes Weib zu seinem treuen Manne. Alles weitere hat Er in der Bibel niederschreiben lassen, und für die, welche mehr von Ihm möchten, für die gab Er die Verheissung, dass Er ihnen alles in ihr liebend Herz und ihren Sinn offenbaren werde, worum Ihn seine Kinder bitten.

Wenn du also bereit bist, notfalls auf alles andere, weltlich Angenehme zu verzichten, wenn du dir damit nur die stets grössere Nähe zu Ihm erwirken kannst, dann auch wird es dir zu Zeiten solch grosser Liebebereitschaft immer wieder einmal geschehen, dass du dich Ihm so nahe fühlest, wie du dich Ihm nun nahe fühlest, während wir zusammen reden, sodass du alles andere darüber nicht mehr gross beachten wirst und du spürest – dannzumal ohne äussern, ersichtlichen Grund –, dass du wahrhaft aufgehoben bist in seinen allmächtigen Armen. In solchen Momenten kannst du sogar plötzlich frei werden von allen äussern Bedrängnissen, ja oft sogar von leiblichem Schmerz und Krankheit, aber auch von allen innern, dich bedrängenden Gedanken und Gefühlen, so wie nun, da du ein erstes Mal, auf Grund meiner Rede zu dir, dich mit deinem ganzen Liebewillen vorsichtig auf den Weg zu Ihm hin begeben hast. Wenn du Ihn in solchen Momenten – aber auch in der übrigen Zeit, in welcher du seine Nähe weniger stark spürst – darum bittest, dass Er dir himmlische Gedanken zukommen lassen möchte, die dich frei machen, indem sie deine wahre Situation beleuchten und dir deine Schwächen zeigen, und dir Kraft geben, durch die Liebe zu Ihm noch mehr nur seine Nähe zu erreichen, so wirst du immer öfters solch helle Gedanken erhalten und durch Befolgen ihrer Inhalte bald einmal spüren, dass sie in dir eine neue Wirklichkeit schaffen. Natürlich wirst du damit noch lange nicht so schnell völlig frei, aber die Stürme der Welt in deinem Gemüte legen sich immer öfters – wie nun, in dieser Nacht – und eine innere Helligkeit wird dich all deine noch irdischen Fesseln vergessen machen. Denn auch diesmal hast du ja – wenn auch erst auf Grund meiner Worte zu dir – freiwillig alles bleiben lassen zu Gunsten eines höheren Willens, der uns beide hat zusammenkommen lassen. Ich sage dir: alles liegt in dir selbst, so wie du es nun auch an mir verspüren kannst, dass meine Liebe zu dir gereinigt und gesegnet wurde, damit wir beide frei würden, unser Herz nur noch Ihm alleine zu weihen. Binde dich darum fest an Ihn – denn kein Band ist zu stark dafür, eher noch zu schwach –, damit dich keine Leidenschaft und kein Trug der Welt mehr von Ihm trennen kann. Dann wird deine grosse und heftige Liebe zu Ihm Ihn ganz erfassen und alle Erfüllung nur von Ihm alleine erwarten. Und dieses liebevolle Vertrauen zu Ihm wird dich in jeder Lage deines Lebens einen Weg finden lassen, der deine Liebe neu erfüllt, sofern sie nur nach mehr Freiheit für seinen Willen in deinem Herzen strebt.

Das Wahrnehmen dieser Verbindung wird dann zu deinem ersten wahren Tag, zu einem hellen Licht in dieser Welt; aber es werden dennoch auch wieder unzählige trübe und traurige Tage folgen und noch längere Nächte, in welchen du eher den Mangel an Zuwendung von der Welt her verspüren wirst als das liebe-innige Warten deines himmlischen Vaters auf deine erneute Hinwendung zu Ihm und seinen innern Gaben. Das wird immer wieder dann sein, wenn du Annehmlichkeiten der vergänglichen Welt mehr zu suchen beginnst als die Nähe zu Ihm. Das passiert uns allen immer wieder einmal, weil der Glanz der Nacht oft stärker auf uns einwirkt als das sanft wärmende Licht seiner Nähe.

Aber dann denke an diese Nacht und denke, dass dir gerade in einer tiefen Nacht der Vater durch meine Worte begegnet ist, und dass das kleine Jesuskind ebenfalls in einer sehr kalten Nacht zu uns Menschen herabgekommen ist, um in uns den wahren Tag anzuzünden, und sei versichert, dass dir immer wieder eine solch gesegnete Nacht werden kann und auch werden wird, und zwar deutlich spürbar in deinem Gemüte, wenn du nur inständig genug darum bittest. Dann spürst du wieder aufs Neue, dass und wo du wirklich zu Hause bist." –

Mit verklärtem Blick und voller Andacht lauschte sie ihm und war völlig entrückt in ihrem Geiste. Da nahm er ihr schnell die Fesseln ab und sagte: "Nun bist du wahrhaft frei! Komme nun schnell, ich will dich zurückfahren, dahin wo du wohnst, damit das so hell aufgegangene Licht in deinem Herzen nicht durch den schalen Schein des bald anbrechenden Tages dieser Welt getrübt wird. Bleibe heute zu Hause in deinem Zimmer, und gehe nicht aus – es ist ohnehin ein Sonntag –, sondern verweile bei deinem Vater, so wie du jetzt noch in deinem Herzen bei Ihm bist." – Er steckte, von ihr unbemerkt, den zehnfachen Preis in ihre Tasche und fuhr sie schnell nach Hause, ehe die ersten Leute den neuen Tag zu begrüssen begannen.

25. 11. 1988

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