Übergänge ins Jenseits

Wie nahe uns das Jenseits sein kann, erfahren wir in unseren Träumen, wenn sie heftig sind, sodass sie uns in den Tag hinein verfolgen können. Wir erfahren es aber auch an vielen andern Erscheinungen in unserem alltäglichen Leben. Wenn wir das bewusster zu betrachten beginnen, werden wir unvermerkt immer unsicherer, ob es nicht sehr wohl doch ein Jenseits gibt. Und wenn wir einmal dahin gelangt sind, so nehmen wir Ahnungen, aber auch uns ungewollt zufliessende Gedanken ganz anders wahr und schenken ihnen mehr Gewicht und kommen so ganz behutsam zu einer innern Unabhängigkeit, nicht nur von den Mode- und Gedankenströmungen der Zeit, sondern auch von einem allzu materialistisch drückenden Weltverständnis. Und das ist dann schon eine innere, jenseitige Wirklichkeit, die wir zu spüren beginnen.

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ÜBERGÄNGE INS JENSEITS

Einmal begab es sich, dass ein früherer Freund ganz unerwartet im kleinen Spezialgeschäft seines ehemaligen Freundes auftauchte und mit ihm in der von früher gewohnten Weise zu plaudern begann. Zuerst natürlich über die Sache, die er von ihm erwerben wollte, später dann aber auch über so manches gemeinsame Erlebnis aus früheren Zeiten, die sie oft miteinander verbracht hatten. Dabei erwog der Besuchte auch all die Umstände, die schuld sein könnten, dass sie sich so lange nicht mehr gesehen hatten. Denn der früher so heitere und stets zu Spässen Aufgelegte wirkte beim heutigen Besuch so ganz und gar nicht wie früher. Alles war förmlicher und seine Rede wirkte teilnahmsloser, während sie früher immer mit einem gewissen Enthusiasmus und einer gewissen Erregung seines Gemütes verbunden war. Obwohl seine alten Redeweisen und Darstellungsarten noch überall herausleuchteten, wirkte er nun doch wie leer. Es stellte sich dann während des weitern Verlaufes des Gesprächs heraus, dass er unheilbar an Krebs erkrankt sei und dass man da nichts mehr machen könne.  "Schon mehrfach operiert, weisst Du!" sagte er. Da zu dieser Zeit niemand sonst im Geschäft war, indem der Inhaber mit seiner Gattin die einzigen Beschäftigten dieses Spezialgeschäftes waren, das in einem schönen Tal auf dem Lande gelegen war, und nur seiner Spezialitäten wegen von Auswärtigen besucht wurde, die aber an ganz schönen Tagen, wie dem diesmaligen oft weniger zahlreich erschienen, konnten die beiden wohl schon beinahe eine Stunde lang miteinander geplaudert haben, als das Telefon zu läuten begann, sodass sich der Besuchte entschuldigte und im Büro nebenan den Anruf entgegennahm. Während des kurzen Gesprächs – es war eine der vielen von auswärts kommenden Bestellungen, die per Versand erledigt wurden – hörte er neben den Worten, die aus dem Telefonhörer kamen, seinen ehemaligen Freund im Laden draussen laut und deutlich reden. Allerdings verstand er die einzelnen Worte nicht richtig, weil der Lärm einer Pumpe sie etwas verwischte.  "Ich habe gar nicht bemerkt, dass gerade in dem Moment, als ich ans Telefon gehen musste, auch jemand herein kam", dachte er sich, während er sein Telefongespräch beendete. Neugierig ging er deshalb in den Laden hinaus und suchte nach dem neuen Gesprächspartner seines Freundes. Sein Freund war darum etwas erschrocken, als er sich plötzlich so fragend angeblickt sah. Aber auch der Geschäftsbesitzer war ein wenig überrascht, als er feststellen musste, dass sein Freund offenbar laut und deutlich ein Selbstgespräch geführt haben musste. Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den beiden. Dann aber begann der vorher in sein Selbstgespräch Verwickelte mit lauten und beinahe gereizten Worten gewisserart seine Entschuldigung – oder war es eine Verteidigung? – vorzutragen, indem er sagte: "Ich weiss schon, was es ist! Ich weiss es schon, was kommen wird. Das kommt bei jedem einmal, auch bei Dir – das ist ganz gewiss."

Der Besuchte spürte aus dem Tonfall dieser Worte heraus, und noch deutlicher aus deren Sinn, dass noch immer ein grosser Ehrgeiz das Gemüt seines früheren Freundes beherrschen musste, sodass es ihn nun schon genieren konnte, dass gerade er der erste von beiden sein wird, der die bisherige irdische Gemeinschaft verlassen muss, und dass es darum wohl schwierig werden würde, nun ein vernünftiges Gespräch zu führen, weil ein Ehrgeiziger ja nur Ehre, und nicht die Wahrheit und noch weniger nach einem Verständnis für irgend etwas sucht. Dass ein solcher auch der Liebe nicht offen gegenübersteht, weil das wahrhaftige Empfangenkönnen von Liebe die demütigende Erkenntnis der Notwendigkeit und des Bedürfnisses nach einer Liebesgabe voraussetzen würde, was bei einem Ehrgeizigen ja nicht der Fall sein kann, das wusste er auch. Trotz dieses erkannten Problems antwortete er mit frischem Elan so, als wollte er sich gemeinsam mit seinem im Grunde doch sehr bekümmerten Freunde auf ein sie beide beschäftigendes Problem stürzen, mit folgenden Worten: "Natürlich, da hast Du mehr als nur recht, wenn Du sagst, dass das bei allen Menschen einmal kommen muss – und das selbstverständlich auch einmal bei mir! Wer weiss es, ob bei mir nicht vielleicht sogar noch, bevor du es hinter dir hast. Denn gegen einen möglichen Unfall oder auch einen Schlaganfall ist niemand gewappnet. Aber siehe, das ist ja doch gar nicht so schlimm. Wir haben ja Zeit, uns dafür vorzubereiten. – Natürlich ist deine jetzige Lage alles andere als komfortabel zur Vorbereitung darauf. Aber das ist dennoch auch wahr, dass wenn sie besser wäre, du wohl auch mit der Vorbereitung zuwarten würdest. Im Übrigen jedoch will mir aus deinen Worten eher scheinen, dass du lieber davonlaufen möchtest, als dich damit zu befassen."

"Ja und du?! Läufst du ihm etwa nicht auch davon?" konterte der ehemalige Freund in zwar etwas gereiztem Tone, der aber aus seiner für ihn schlimmen Lage heraus verständlich war.

"Es ist schwierig, dir zu antworten", meinte da der Befragte, "denn ich kann dir ja nicht beweisen, dass ich dir nichts vormache, sondern dir nur das sage, was ich auch wirklich denke. Und darum nützt dir demzufolge auch meine Antwort nicht viel, weil du nicht sicher sein kannst, dass ich für mich selber wirklich dasjenige tue, was ich dir sage oder anraten werde. – Aber auf einen Umstand aus früherer Zeit will ich dich aufmerksam machen! Der kann und wird dir klarer zeigen, dass wir beide uns denn doch nicht in gleicher Weise auf dasselbe Unabänderliche vorbereitet haben. Du wirst dich kaum mehr daran erinnern können; aber als wir vor etlichen Jahren in deinem Auto mit einem weitern Bekannten von dir zusammen in die Hauptstadt fuhren, um eine Ausstellung zu besuchen, da fragte mich doch während der Fahrt dein Bekannter unter anderem einmal, ob ich an ein Leben nach dem Tode glaube. Aber noch ehe ich antworten konnte, bemerktest du mit einer gewissen Vehemenz: 'Ja nun, meine Lieben, jetzt fahren wir doch erst einmal in die Hauptstadt, und dort sehen wir uns dann die Ausstellung an. Das wird doch wohl etwa das Nächste sein, findet ihr nicht auch?' –  Da ich niemandem ein gewisses Verhalten vorschreiben oder ein Vorhaben durchkreuzen möchte, beharrte ich damals auch nicht auf der Beantwortung der an mich gestellten Frage, wenigstens solange nicht, als der Fragende sie nach deiner Intervention nicht noch einmal wiederholen würde; obwohl es doch anderseits auch Anstand deinem Bekannten gegenüber gewesen wäre, dies zu tun. Aber ich glaube, er und ich, wir begriffen beide, was der eigentliche Grund dafür war, dass du so interveniert hattest, und begruben darum auch das angeschnittene Thema.

Siehe, damals fühltest du dich noch gesund, so wie ich selber mich jetzt noch gesund fühle. Und dennoch wolltest du schon damals nichts über dieses Thema wissen oder hören, während ich selber, als Gegensatz dazu, jetzt nicht etwa nur beiläufig, sondern mit grossem Interesse auf dein angeschnittenes Thema eingehen will. Denn mich interessiert dieses Gebiet ebenso oder eigentlich noch um viele Grade mehr als unser ehemaliges gemeinsames Hobby."

"Jedenfalls warst du damals bei unserm gemeinsamen Hobby voll dabei", wollte der andere abschwächen.

"Natürlich war ich auch bei unserem Hobby voll dabei, weil ich im Allgemeinen alles gründlich machen will, was ich tue. Aber es hatte mein Dabei-Sein damals schon auch Grenzen, die du wohl auch gekannt hattest. Bei diesem jetzigen Thema hingegen wirst du nicht so leicht an eine Grenze meinerseits stossen, schon deshalb nicht, weil die deinen auf diesem Gebiet offenbar viel enger gezogen sind. Siehe: Das, was du nun vor dir hast, das interessiert mich so sehr, dass ich dir dazu nur sagen kann, dass mich in meinem ganzen Leben nichts mehr, intensiver und länger beschäftigt hat als gerade dieses Thema."

Da staunte der vom Krebs Gezeichnete ein wenig, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass ein gesunder Mensch sich vor allem ums Jenseits Gedanken machen könne, so als gäbe es sonst nichts mehr von Interesse.  "Ja glaubst du denn an ein Jenseits?" war seine ungläubige und etwas von oben herab, das Thema gering achtende und eher belächelnde Frage. "Vom Jenseits ist noch keiner zurück- oder herübergekommen!!"

"Das wäre auch völlig zwecklos für diese jetzige Situation", erwiderte der Gesunde.

"Und weshalb, wenn ich fragen darf?"

"Ganz einfach deshalb, weil du ihm nicht glauben könntest. Sage zum Beispiel einem primitiven, von aller Zivilisation bis jetzt noch völlig verschont gebliebenen Inselbewohner, dass du mit der Kraft des Blitzes (gemeint ist die Elektrizität, die aber von einem solchen Inselbewohner als solche nicht erkannt werden kann) hundert schwere Eisenwagen ziehen kannst, dass du mit ihrer Hilfe in die Ferne sehen und sprechen kannst, dass du mit ihr rechnen kannst und sie überhaupt alles das machen lassen kannst, was dir zu mühselig erscheint, es selber zu tun. Auch er wird bei solchen Aussagen ungläubig staunen, wenn er ein kindliches Gemüt hat, oder aber er wird dich auslachen oder gar als einen offenbaren Lügner angreifen, wenn er heftigen Gemütes ist. Und das alles nur deshalb, weil er vom Wesen des Blitzes – oder der Elektrizität – nicht die geringste Ahnung hat. Der Blitz ist für ihn furchtbar, weil er unberechenbar und zerstörend, heimtückisch und gewalttätig ist. Denn er hat ja keine Ahnung von der Gesetzmässigkeit der Elektrizität! Er weiss nicht, dass sich diese Kraft künstlich erzeugen und in Bahnen (Kupferdrähten) leiten lässt; dass sie sich messen und umformen lässt. Noch weniger weiss er, dass er selbst, ja dass die gesamte Materie nichts anderes als in Atomen polarisierte Elektrizität ist.

Deshalb ist es ebenso zwecklos einen solch isolierten Inselbewohner darüber nähere Aufschlüsse geben zu wollen, wie es zwecklos ist, wenn ein Jenseitiger wieder nach diesseits käme, um dir das Jenseits zu beweisen. Denn: käme er nur im Traume zu dir, so würdest du dieses Vorkommnis als Träumerei oder Fantasie erklären. Käme er in der Dunkelheit der Nacht, so wäre ein solch Jenseitiger für die Begriffe deines Verstandes eine Täuschung. Und käme er des Tages, so würdest du an deinem Verstande zu zweifeln beginnen und glaubtest, du seiest geisteskrank. Käme er sogar mehrfach, so würdest du dich vor ihm noch mehr fürchten als ein vorher beschriebener Inselbewohner sich vor einer von dir betriebenen elektrischen Schweissanlage fürchten würde, weil er des Glaubens ist, dass diese den von ihm so sehr gefürchteten und unberechenbare Blitz enthielte, wenn er das permanente Funkenfeuer beim Schweissvorgang sieht."

Über diese gedehnte Antwort staunte der todkranke Freund sehr, denn er hatte seinen früheren Freund vorher noch nie ähnlich heftig und enthusiastisch und mit einer solchen Bestimmtheit reden gehört. Wie noch halb betäubt von der Überrumpelung fragte er: "Woher hast du denn all das? Nie hast du früher auch nur das Geringste davon merken lassen."

"Das ist eine müssige Frage, wenn du an deine eigene Antwort im Auto auf der Fahrt in die Hauptstadt denkst, die du an meiner statt deinem Bekannten damals gegeben hattest. Aber das kann ich dir noch hinzu sagen, dass es nichts Leichtes ist, über eine Sache sehr viel zu wissen und sie auch stets klarer zu erfassen, ohne dass du auch nur einmal Gelegenheit hättest, dich mit einem andern darüber zu besprechen. Vielleicht begreifst du nun nicht nur, sondern glaubst es auch, dass du mir nicht leichtlich zur Last fällst mit deinem Problem – etwa in der Art, wie dir damals dein Bekannter mit seiner Frage zur Last gefallen ist –, sondern dass du mir nun willkommener bist, als du es sonst je sein könntest. Endlich einer, der sich dafür zu interessieren beginnt!"

"Ja wenn ich mir dein Bild vom völlig isolierten und von aller Zivilisation verschont gebliebenen Inselbewohner nochmals vergegenwärtige und den Grund deines Vergleiches berücksichtige, so fragt es sich, was denn du tätest, würde dir ein Jenseitiger begegnen. Du würdest wohl nicht an eine Täuschung glauben und an keine Geisteskrankheit. Kennst du denn das Jenseits?"

"Natürlich kenne ich einen Teil davon, wenn auch noch lange nicht all seine unendliche Weite und seine ganze Vielfalt. Aber wenn du einmal einen kleinen Teil davon kennst und begreifst, dann kommt dir der Rest weder unheimlich vor, noch hast du eine Scheu davor, ihn kennen zu lernen. Im Gegenteil, dich überkommt dann eine förmliche Gier, ihn stets mehr zu erkennen."

"Dann hast du aber andere Fähigkeiten als gewöhnliche Menschen, und dann nützt mir deine Erkenntnis ebenso wenig wie die Erscheinung eines Jenseitigen."

"Das sagst und meinst du nur so, weil du das Jenseitige nicht kennst, und nicht weisst, wo es beginnt und so ganz eigentlich ist. Wüsstest du das, so wäre es dir mehr als klar, dass ich darüber auch ohne übernatürliche Fähigkeiten etwas wissen kann."

"Ja wo ist es denn, das Jenseits? Sage es mir doch!! – Ich weiss es schon", er zeigt gen Himmel, "dort ist es wohl, oder nicht?!"

"Ob es dort ist, oder nicht, wollen wir einstweilen offen lassen", entgegnete der andere. "Wichtiger für uns zwei ist die Frage, wo es beginnt! Denn: wenn wir in dasselbe eintreten wollen, so müssen wir doch vor allem seinen Anfang oder seinen Eingang kennen."

"Und der liegt wo?"

"Hier! In uns selbst!" antwortete der Befragte und zeigte mit dem Finger nach dem Herzen in seiner Brust.

"Das ist aber auch nur deine private Ansicht! Das habe ich noch nie gehört!"

"Du hättest es eben selber in dir merken sollen, dann brauchtest du nicht erst von andern davon zu hören! – Jedoch derart privat, wie du denkst, ist meine Ansicht dennoch nicht, wenn sie dir auch so vorkommen mag. Es ist nämlich die ganz normale christliche Aussage der Bibel."

"Hör mir damit auf!" rief der vom Krebs Gezeichnete und Gequälte. "Solches habe ich noch nie gehört! Ich ging zwar niemals in eine Predigt. Aber das weiss ich wohl, dass es nach der Bibel einen Himmel und eine Hölle gibt. Dass hingegen das Jenseits in mir beginne, das sagt kein Pfarrer!"

"Das beweist nur, dass es praktisch auch kein Pfarrer weiss; aber es besagt nicht, dass es nicht so ist. Sei im Übrigen froh, dass du nie eine Predigt gehört hast, denn dann hast du dich wenigstens auch nie mit all dem Schmarren herumschlagen müssen, der da aus dem Munde eines Predigers geflossen ist. Sei froh! – Ich selber hingegen habe das alles in meiner Jugend gehört; und es hat mich denn auch viel Zeit, Mühe und Arbeit gekostet, alle diese falschen Vorstellungen als falsch zu erkennen, und sie dann wieder aus meinem Gemüte los zu werden. Aber soviel kann ich dir zur Autorität eines Pfarrers sagen: Es steht in der Bibel, dass in der Folgezeit, nach Jesus, der Mensch von Gott selber belehrt werden wird (Joh. 14, 21 & 26) und ferner steht auch der sehr bedeutungsvolle Satz: 'Umsonst habt ihr's empfangen; umsonst sollt ihr es weitergeben' (Matth. 10, 8). Ferner: 'Einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder' (Matth. 23, 8). Und weiter steht noch: 'Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet' (Joh. 13, 35). Nun überdenke diese Sätze alle und wende sie auf die Pfarrer der Landeskirchen und die Prediger der meisten Sekten an; und dir werden die Selbstherrlichkeit und Anmassung der von den Blinden so hoch geschätzten Autoritäten oder besser: 'Herdenführer' bald ins Auge stechen. Erstens frage sie, wo sie gelernt haben und bei wem – bei Gott? Nein, bei den sich hoch, weise und gut dünkenden Professoren, also bei den Menschen – nicht bei Gott! Dort haben sie es aber nicht umsonst empfangen, sondern um das gute Geld ihrer reichen Eltern und um die Preisgabe ihrer Einfachheit und Demut. Dann sehe weiter auf die Hierarchie der Kirchen, so wirst du auch über die Praxis der in der Bibel erwähnten Brüderschaft orientiert sein, die nur einen Meister kennen sollte, und dabei ins Staunen kommen, über all die vielen Stufen, vom Grossmeister über den Meister bis hinunter zum Untermeister, wo es doch nach der Bibel nur einen Meister – Jesus – geben soll, weil alle andern allein von ihm gelehrt sein sollen und darum unter sich ganz gleichgestellte Brüder sind. Dann sehe ferner auch noch auf ihren Lohn, und das in der Bibel erwähnte 'umsonst' der Weitergabe des Empfangenen wird dir dabei äusserst merkwürdig und gar nicht dazu passend vorkommen – zumal es andernorts in der Bibel extra noch einmal erwähnt ist, dass man bei der Weiterverbreitung des Evangeliums keine Taschen mit sich führen soll, ja nicht einmal einen Stecken zur Verteidigung (Matth. 10, 10 & Luk. 10, 4). Aber nun genug von alledem! – Wollen wir mit dem Anfang des Jenseits weiterfahren?"

"Ja, nun gefällst du mir besser! Hab ich doch stets gewusst, dass das ganze Kirchenwesen eine verlogene Sache ist. Nun kannst du schon ungehindert weiterreden; es beginnt mich zu interessieren."

Da musste allerdings der so Aufgeforderte dennoch eine Bedingung einflechten, indem er sagte: "Du hast zwar nicht ganz unrecht mit deiner Ansicht über die Pfaffen, obwohl es auch unter diesen vielen schwarzen Schafen manchmal einige hellere, aufrichtigere geben kann oder gar selten auch einmal ein wenigstens nachträglich von Gott belehrtes und darum völlig weisses Schaf. Aber alles zusammen darfst du deshalb dennoch nicht über Bord werfen. Denn die Bibel für sich verkündet ja die Wahrheit schon. Nur versteht sie heute kaum mehr einer! Denn zu sehr wurde sie von den frühern Anwendern zu Gunsten ihres Geldsäckels verdreht. Und in der heutigen, nur nach dem Materiellen aus-gerichteten Zeit findet sich kein so heller Verstand mehr, der sich in den geistigen Dingen zurecht finden könnte, weil überall nur nach den materiellen Vorteilen gesucht wird. Du kannst aber dasjenige nicht finden, das du nicht suchst, sondern oft schwer genug nur dasjenige, nach welchem du ernsthaft und mit grosser Aufmerksamkeit und Mühe gesucht hast. So sagt zum Beispiel die Bibel ganz klar, dass das Reich Gottes nicht mit äusserem Schaugepränge komme, sondern sich inwendig im Menschen befinde (Luk. 17, 21). (Dabei ist ja dann auch klar, dass sich jede Art eines jenseitigen Reiches nur im Herzen oder Gemüt eines Menschen entwickeln und vorfinden wird. Und jene, die gleichen Sinnes sind, werden sich im jenseitigen, leiblosen Zustand schnell finden, weil der Leib das Innere nicht mehr verdecken kann.)

Und das ist ja eben jene Stelle, die ich vorher im Visier hatte, als ich dir sagte, dass meine Aussage über das Jenseits auch die christliche Aussage der Bibel sei. – Aber ich sehe schon, dass dir das Göttliche und Heilige noch Mühe macht, und ich will dir deshalb das Weitere nicht vom göttlichen Worte aus erklären, sondern von der Natur der Sache her, also wissenschaftlich, wenn du es so nennen willst. Nur musst du dabei bedenken, dass sich mit der Wissenschaft, so wie sie heute betrieben wird, ein noch um Vieles grösseres Geschäft machen lässt, als früher mit dem Glauben. Denn bei ihr kannst du ums Geld jede gewünschte Expertise haben; und was heute als wahr aufgestellt wird, das wird schon morgen als Irrtum erkannt. Wir beschreiten darum im weitern Gesprächsverlauf einen ganz eigenen, sozusagen ganz privaten wissenschaftlichen Weg der auf der täglichen Erfahrung und Einsicht sowie auf einer vernünftigen Beurteilung dieser alltäglichen Erfahrung beruht, und nicht in dummen, weil falsch gestellten Fragen besteht, zu deren Beantwortung noch dümmere Versuche und Experimente dienen sollen. Wir brauchen auf unserem Weg darum auch keine Tierversuche, weil Tiere anders gestaltet sind als Menschen, und der Mensch, im Unterschied zu Tieren, einen Geist besitzt, den er allerdings auch aushungern lassen kann, bis sich die pure Seele wieder zur tierischen Stufe erniedrigt hat.

Wie sich das Diesseits und das Jenseits gegenseitig verhalten, das ersiehst du nämlich mannigfach im täglichen Leben. Denke dazu nur einmal über all dasjenige nach, das du siehst und schon alles gesehen hast in deinem bisherigen Leben. Da siehst du am Tage auf der einen Seite all die Dinge der Natur und siehst daneben auch die Werke der Menschen. Das erstere gefällt dir und beseligt dich, und du fotografierst es meines Wissens darum auch immer wieder von neuem. Das andere missfällt dir, und du ärgerst dich sogar darüber, wie zum Beispiel über die scheusslichen Wohnbauklötze, von welchen du selber einen bewohnen musst und über den du schon früher immer wieder manches zu klagen hattest. – Das alles siehst du am hellen Tage. Auf der andern Seite aber siehst du in der Nacht auch die Bilder deiner Träume, welche du ebenso lebhaft empfindest wie die Bilder der äussern Welt. Ja, teils sind sie noch schöner, inniger und beseligender, teils aber auch erschreckender, bedrückender und grausamer als die Bilder der äusseren Welt. Zu dieser unserer Feststellung bedenke aber noch Folgendes hinzu: Wenn du acht Stunden des 24-stündigen Tages schläfst, so schaust du einen ganzen Drittel der täglichen Zeit in dich hinein und zwei Drittel der Zeit aus dir hinaus, in die Welt hinein. Und dennoch können die Bilder und Erlebnisse des Traumes – als des bloss einen Drittels des Tages – so intensiv sein, dass sie dich den ganzen Tag verfolgen können oder dir sogar mehrere Tage lang immer wieder in Erinnerung kommen, während die Bilder des Tages und damit der äussern Welt – also der zwei Drittel des Tages – dir normalerweise nicht im Schlafe erscheinen. Selbst unangenehme Erlebnisse eines Tages, die dich dennoch einmal des Nachts verfolgen sollten, tun das wohl kaum eine ganze Nacht lang. – Ich rede dabei von den Bildern, nicht von den Problemen. (Probleme können sich dir sehr wohl auch nachts immer wieder aufdrängen.) –  Dazu kommt nun aber noch der bedeutsame Umstand, dass du nicht beide Bilder zugleich ersehen kannst! Solange der Tag deine Augen mit dem Licht der Welt füllt, kannst du die Bilder der Nacht nicht sehen und, umgekehrt, solange die äussere Nacht deine Augen umgibt, kannst du die Bilder des Tages nicht sehen. Ein und dasselbe Auge also, das einmal ins Diesseits und einmal ins Jenseits gerichtet ist! Dasselbe Licht, welches das Diesseits erhellt, bedeutet also 'Nacht' für das Jenseits, also Verhinderung des Schauens innerer Bilder und Träume; und das Licht des Jenseits kann nur in der 'Nacht' des Diesseits leuchten."  – 

"Du, das ist ja unerhört, was du da sagst!" unterbrach der Besucher seinen alten Freund. "Mir kommt nun ein merkwürdiges Erlebnis in den Sinn, das ich an Sonntagen oft hatte, wenn ich bis weit in den Tag hinein schlafen konnte, und meine Frau schon lange vorher aufgestanden war und dabei die Läden unseres Schlafzimmerfenster geöffnet hatte, damit mich das Tageslicht wecken sollte. Dabei träumte mir immer wieder, ich sähe nicht mehr gut. Alles war unbestimmt hell zwar, aber alles hatte einen merkwürdigen Schein, der mir die Konturen der Gegenstände oft fast völlig verwischte, sodass ich nur noch grosse Dinge, aber keine Details mehr wahrnehmen konnte. Habe ich mich dann dabei angestrengt, das Gewünschte besser zu sehen, so war es wohl etwas besser. Die Farben leuchteten dann besser oder bestimmter aus dem hellen Schein heraus, aber mich kostete diese Konzentration so viele Kraft, dass ich die Dinge vor mir bald wieder nur von ungefähr betrachten konnte und dabei die Einzelheiten wieder fast nicht mehr auszunehmen waren. Wenn ich dann in einer solchen Situation jeweils erwachte, so lag ich stets dem Fenster zugekehrt. Es muss also das Naturlicht durch meine geschlossenen Augenlider hindurch mir die Bilder des Traumes verwischt haben, denn erwachte ich jeweils mit dem Rücken zum Fenster, konnte ich mich nie eines solchen Traumes entsinnen. – Das war allerdings merkwürdig, das ist wahr; das erlebte ich ja oft zum Überdruss an einem manchen Sonntag. Und ich merkte mit der Zeit auch, was schuld an dieser Misere war: eben das Sonnenlicht! Weiter darüber nachgedacht hatte ich allerdings nicht. 'Träume sind Schäume' sagt man, und ich habe sie darum nie ernst genommen; aber eben – auch die dabei aufgetretene Erscheinung nicht."

"Ja, das sind eben so unbedachte Aussprüche oder Äusserungen der Menschen", nahm sein Freund das Wort wieder auf, "welche dazu geeignet sind, des Menschen innerliche, gedankliche Tätigkeit erlahmen zu machen. Ob nämlich Träume nur Schäume sind, mag derjenige füglich mit Recht bezweifeln, der Nacht für Nacht nur Schrecklichkeiten über Schrecklichkeiten in seinen Träumen erlebt und sieht, sodass er jeweils am Morgen ganz erschöpft erwacht und den halben Morgen oder gar den halben Tag zur Erholung von den Strapazen der Nacht braucht, anstatt neu gestärkt und mit ganzer Kraft arbeiten zu können. Aber auch der umgekehrte Fall kommt, wenn vielleicht auch etwas seltener, vor: Dass nämlich ein vom Geschick und den Erlebnissen des Tages Bedrückter jeweils in der Nacht derart erhebende und stärkende Träume hat, dass er davon weit in den mühevollen Tag hinein gestärkt bleibt. – 'Was vor der Welt gross ist, das ist vor Gott ein Gräuel' steht in der Bibel (Luk. 16, 15). Es sind also dieser Aussage gemäss die jeweiligen Grössen dieser beiden Reiche sich widersprechend. Und diese Tatsache kannst du schon beim Gebrauch deiner Augen bestätigt finden. Denn das grosse Licht des Tages ist ein Gräuel der nächtlichen Traumerlebnisse und die traumvolle Nacht eine Verhinderung des täglichen Seh-vorganges."

"Ja, das stimmt zwar wohl", pflichtete der andere bei, "aber es fragt sich dennoch, ob nicht eben der Tag die Wirklichkeit ist, und die Nacht das Subjektive, das Unwirkliche."

"Auch diese Frage wollen wir noch näher erörtern! Nur vorerst noch eine kleine Bemerkung: Dasselbe, was du bei den Erlebnissen deiner Augen feststellen kannst, verhält sich auch bei dem Gehör so. Du hörst beispielsweise in dir selbst eine schöne Melodie. Spricht dich nun jemand von aussen her an, so verlierst du augenblicklich die Melodie. Ein Freund von mir zum Beispiel beklagt sich immer darüber, dass er oft eine schöne Melodie in sich selber hört – oftmals von einem früher schon gehörten, schönen Musikstück, oftmals aber auch eine ihm bis dahin völlig unbekannte. Kaum jedoch summt er den ersten Ton, weil er sie auch mit seinem äussern Ohr hören möchte, so verliert er die Melodie, sodass es ihm kaum je möglich wird, eine vorher nicht mühsam auswendig gelernte Melodie zu pfeifen oder zu summen, auch wenn sie ihn innerlich noch so sehr verfolgt. Ebenso verhält es sich bei den Vorstellungen eines Menschen: Du stellst dir eine Sache noch so genau vor – wenn sie dir jemand mit seinen Worten anders funktionierend darstellt, so verlierst du zunehmend deine eigene Vorstellung davon, sodass du sie nach der Anhörung der Gegendarstellung ordentlich wieder zusammensuchen musst. Ja, was ist nun dabei wirklich? Deine Vorstellung oder jene deines Partners? Wohl beide! Denn beide lassen sich als Gedanke festhalten und lassen ein Bild der Möglichkeit in dir entstehen. Ob sie jedoch den äussern Gegebenheiten angepasst und damit mit den äussern Möglichkeiten übereinstimmend sind, muss erst die Anwendung in der Praxis zeigen. Dabei muss allerdings diese Praxis nicht unbedingt auf dem Gebiet des Diesseitigen liegen. Nehmen wir zum Beispiel gerade dein Erlebnis vom Verwischen der Traumbilder durch das starke Tageslicht: Wenn du mir das erzählst, und ich selber würde nicht an diese Möglichkeit oder an diese Tatsache glauben, weil ich noch nie bei offenen Fensterläden in den Tag hinein geschlafen hätte, so müsste ich sie durch eigene Erfahrung erst als wahr erkennen lernen. Und das ist wiederum nur möglich, wenn ich mich an meine Träume überhaupt entsinnen kann, und nicht etwa der Meinung bin, dass ich überhaupt nie träume, nur weil sie mir im wachen Zustand nicht in Erinnerung bleiben – wiewohl vielleicht meine Lebensgefährtin mich des Nachts – eben in meinem Traume – manchmal reden hören würde. Es liegt also der Beweis der Wirklichkeit in diesem Falle nicht im Diesseits, sondern im Jenseits, das heisst im Inwendigen, Persönlichen des Menschen, und nicht in jenem Bereiche, den andere zufolge der materiellen Äusserlichkeit mitverfolgen können. Also gibt es – in Beantwortung deiner vorher gestellten Frage – eine Wirklichkeit sowohl im Innern, Jenseitigen, wie auch im Äussern, Diesseitigen und daher mehr allgemeinen! – Jedoch ist anderseits selbst das Diesseitige und daher mehr Allgemeine nicht so allgemein in seiner Wirklichkeit für den Einzelnen wie es zumeist angesehen wird. So sind beispielsweise die Farben für Blinde ebenso wenig Wirklichkeit wie die Töne für Taube. Wer weiss es aber, ob die Blinden nicht farbig träumen. Sie selber können es nicht wissen, weil sie ja die äussern Farben nicht kennen und darum ihre allenfalls gesehenen, innern Farben nicht nach unserer Weise benennen können; und wir können es nicht wissen, weil Blinde überhaupt keine Worte für augenempfindliche Begriffe, wie eben Farben, haben. Auch ein erst nach Jahren blind gewordener kann dazu nicht viel sagen. Denn: wenn er farbig träumt, so lässt sich wenigstens behaupten, diese habe er vom Diesseits in seiner Erinnerung, sodass rein wissenschaftlich gesehen nicht festzustellen ist, ob die Farbe bloss diesseitig oder nicht ebenso gut auch jenseitig sei.

Wenn sich anderseits jemand ein Haus oder gar einen Palast vorstellt, und baut ihn dann auch; zu welcher Zeit war dann das Haus oder der Palast eine Wirklichkeit und zu welcher eine Unwirklichkeit?? Glaubst du, dass je einmal ein Palast oder gar nur eine einfachste Hütte eine so genannte Wirklichkeit geworden wäre, wenn nicht ein Mensch seine Hände dazu ans Werk gelegt hätte. Und haben das sogar viele Hände tun müssen; haben sie es nicht nach der Wirklichkeit eines Planes tun müssen, welcher der Wirklichkeit des nachher entstandenen Gebäudes genau entsprechend und darum gleich ist? – Natürlich denkst du dabei: Wenn der Architekt des Palastes oder der Bauherr keine finanziellen Mittel hätte, so würde nie ein Palast entstehen. Gut, das stimmt! Aber wie, wenn der Architekt nie eine solche Vorstellung haben könnte, würde dann wohl ein solcher Palast entstehen? – Der Sturm, das Feuer oder grosse Erdbeben, als blinde und jeder höhern Vorstellung bare Kräfte, haben noch nie einen Palast erwirkt, auch die viel zitierte Zeit nicht, die doch sonst so vieles möglich macht. Eher haben diese stummen Kräfte der Natur Tausende von Häusern und Palästen schon zerstört. Welch eine Wirklichkeit ist denn nachher die vorzüglichere? Die für ewig vernichtete diesseitige, oder die noch wohl erhaltene jenseitige in der klaren Vorstellung des Architekten? Du siehst, man kann das guten Glaubens so oder so betrachten.

Dazu sagt aber die Bibel, dass alles, was gemacht ist, aus Gottes Wort (oder den ausgesprochenen Gedanken Gottes) gemacht sei (Joh. 1, 3). Wenn aber das der Fall ist und damit die dir äusserlich erscheinliche Wirklichkeit nur jener innern gedanklichen Wirklichkeit Gottes entspricht, was willst du dann mit der für dich nur zeitlich erscheinlichen und währenden Wirklichkeit deines Leibes unternehmen gegen die ursprüngliche und machtvolle Wirklichkeit Gottes, der dich selber zuerst als ein Geistwesen geschaffen hat und dieses in deinem Leibe auch auszeitigen und ausreifen will zu einem vollen und seiner jenseitigen Kraft voll bewussten Geist?"

"Aber der erste Mensch soll ja aus Lehm erschaffen worden sein?" warf der andere ein.

"Sein Leib ja. Aber seine Seele mit ihrem Geist blies ihm ja der Schöpfer ein. Und diese ist, als Teil seines Odems, ihm gleich, weshalb es ja heisst, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Wäre hingegen die äussere diesseitige Wirklichkeit des Menschen dem Bilde Gottes entsprechend, so wäre Gott entweder blosser Lehm oder bestenfalls eine Lehmfigur. Wir Menschen aber brauchen diesen Lehm – oder unsern Leib – als eine uns formende Unterlage für unsere Entwicklung zu unserer Verselbständigung. Denn genauso wie unser Leib, so ist – ihm entsprechend – auch die Seele gegliedert. Ihre Liebe entspricht dem Herzen unseres Leibes, das stets von neuem die ganze Wesenheit des Menschen mit neuem Lebensblut versorgt, wie die gereinigte Liebe stets neuen Lebensmut erzeugt, ihr einmal erfasstes Ziel zu erreichen. – Der Verstand entspricht dem Magen des äussern Menschen, welcher ebenfalls viele äussere Wirklichkeiten (Stoffe) als Nahrung in sich aufnimmt, sie zerlegt und dadurch verändert zu neuen innern Stoffen oder Wirklichkeiten, die dem Leibe zur Stärkung und zum Aufbau seiner äussern Form besser dienen können als die ursprünglichen, natürlichen Stoffe. – Die Arme und Hände entsprechen dem Willen, der wie diese, hinlangt, erfasst und ergreift, was er haben möchte und es dann zu sich zieht und festhält, um künftig mit ihm vereint zu bleiben. – Und in dieser Art und Weise lässt sich der innere Aufbau des Menschen oder seiner Seele weiter erkennen und in der Folge dann auch kräftigen und stärken bis zu jener Gediegenheit, bei welcher er dann seinen Leib zur ferneren Ausbildung nicht mehr nötig hat.

Je mehr sich jedoch ein Mensch die innere, ihm allein entsprechende, gewachsene Wirklichkeit seiner Liebe und ihrer Vorstellungen durch die Reize äusserer Wirklichkeiten oder so genannten Fakten stören oder durchkreuzen, und damit auch zerstören lässt, desto ärmer und schwächer wird er in sich selbst und dadurch dann auch in seinen Möglichkeiten der Wirksamkeit in die äussere Welt hinein.

So kannte ich beispielsweise einen Menschen, der in einem Prozess von einem Anwalt vertreten war, welcher das Gesetz – als Grundlage und äussere Wirklichkeit – zwar wohl sehr gut kannte, der aber durch seine enorme Kenntnis der äussern Gesetzeswirklichkeit seine innere, eigene, mit seinem Gewissen und seinen Empfindungen übereinstimmende, Wirklichkeit verlor und damit aber auch die Wirklichkeit der Vorstellungen des Gesetzgebers. Als der Prozessierende trotz der Hilfe seines Anwaltes den Prozess erstinstanzlich verloren hatte und dieser ihm riet, sein Begehren nicht an die nächst höhere Instanz weiter zu ziehen, nahm der Prozessierende kurzerhand alles in seine eigenen Hände, argumentierte im nächstinstanzlichen Verfahren so überzeugend und geschickt, dass nicht nur der Anwalt seines Gegners darüber erstaunte, sondern sogar der Richter seine Argumentation in seinem Urteil voll verwenden konnte, obwohl doch sonst eine solche Gesetzesauslegung nur dem Richter, nicht aber dem Laien vorbehalten wäre. Was wohl war schuld an dieser Fähigkeit oder Fertigkeit eines Laien? Einzig und allein seine innere Wirklichkeit, das heisst seine Sicht, gewachsen aus der Liebe zur Nützlichkeit einer Sache für alle, und darum auch zur innern Wahrhaftigkeit des äussern Gesetzes. Während anderseits – bei den gewiefteren der Anwälte – schuld an der Misere ihrer Unaufrichtigkeit und Verlogenheit die Nichtbeachtung der innern Wirklichkeiten zu Gunsten der äussern, finanziellen Verdienstmöglichkeiten ist; – und nur bei den im innern Wirken ohnehin Schwachen unter ihnen ist es die riesige Anzahl an Richtersprüchen, die jeweils immer durch den Akt des Aussprechens zu einer äussern Wirklichkeit oder Realität werden. Eine solche Realität oder äussere Wirklichkeit eines Richtspruches zeitigt vorerst allerdings auch nur im äussern Handeln eine Wirksamkeit; das Innere jedoch muss sie nicht unbedingt treffen: Wohl ist ein derart Verurteilter durch die in einem Urteil eventuell enthaltene Ungerechtigkeit auch in seinem Innern getroffen. Aber – wenn er sich dessen bewusst wird, dass schlussendlich nur die innere Wirklichkeit eine Realität ist –, so wird er neben der äussern Wirkung des Urteils vorbei auch Wege in sich finden, das Richtige und Wahre so zu beleben und im Äussern zu realisieren, dass ihm das äussere Urteil dabei nicht mehr im Wege stehen kann.

Ebenso kommt es auf einem andern Gebiet äusseren Wissens und äusserer Wirklichkeit – bei der Medizin – vor, dass von mehreren Ärzten aufgegebene Patienten wieder völlig gesund werden können. Das ist zumeist dann der Fall, wenn der von einer äussern, bloss leiblichen Krankheit Getroffene oder Betroffene sich um den Sinn und die wahrhaftige, weil endgültige Wirklichkeit des Lebens zu bemühen beginnt, und in grosser Anstrengung all seiner Kräfte sich in jene innere Stellung versetzen kann, die nur im Innern die entscheidende Wirklichkeit sieht. Wüssten die Ärzte darum – und hätten nicht mehr Lust am Verdienen als am Helfen –, so wäre schon manch Todkranker wieder so gesund geworden, wie es heute leider nur bei wenigen Einzelnen immer wieder geschieht. Anderseits ist schon mancher an einer Krankheit gestorben, die aus dem Erfahrungswissen der Medizin normalerweise nicht zum Tode führt. Ein guter Arzt weiss um solches. Aber wie viele gute Ärzte gibt es, die dem Wohl des ganzen Menschen dienen wollen, und nicht nur der Wohlfahrt des ohnehin bloss zeitlichen Leibes. Sie könnten die von äusserer Krankheit Gezeichneten einerseits auf die innerlich vorhandenen Gründe ihrer Krankheit aufmerksam machen, nach deren Beseitigung auch der Leib wieder gesunden kann, und könnten anderseits auch dem an der äussern Wirklichkeit einer Krankheit Verzweifelnden die innere Wirklichkeit und die Wirksamkeit des Geistes im Menschen zeigen, damit er zum vorläufigen Übergewicht der äussern Wirklichkeit ein Gegengewicht in der innern Wirklichkeit erhalte. Das wird ihn, wenn er es richtig, das heisst ernsthaft und hingebungsvoll stetig betrachtet und beachtet, wieder gesunden lassen wie all jene, denen diese äussere Wirklichkeit einer leiblichen Krankheit ohnehin nicht einen das ganze Gemütsleben lähmenden Eindruck gemacht hat."

Das waren triftige und ganz kurios tief wirkende Worte, welche den Besucher auf einen Moment lang zu besseren und einer Heilung förderlicheren Gedanken brachten.

Weil aber beide zusammen in früherer Zeit sich eher oder oft gar ausschliesslich in der Natur, also in der äussern Wirklichkeit, beschäftigt hatten, so vermutete nun der Besucher, als er wieder zu Hause war, dass das von ihm Vernommene zwar wohl schöne und auch ganz vernünftige Gedanken enthalte, dass aber so ganz eigentlich auch der Besuchte – also sein ehemaliger Freund – zu ihrer frühern Bekanntschaftszeit mehr von der äussern Wirklichkeit lebte als von der ihm nun eröffneten innern. Das war schade! Denn: wenn es auch gelegentlich auf kurze Momente tatsächlich so gewesen sein mag, so war es doch nie auf eine längere Zeit so. Nur hatte ja seinerzeit eben er selber Antworten seines Freundes, die aus besseren Zeiten oder Gebieten, das heisst aus der innern Wirklichkeit seines damaligen Freundes gekommen wären, durch sein Dazwischenfahren mit seiner eigenen Antwort verhindert, sodass es für ihn nun schwer zu glauben war, dass sein Freund tatsächlich die innere Wirklichkeit auch schon damals aus der Erfahrung kannte und ihr darum selber ebenfalls auch vertraute. Deshalb nützte ihm aus Mangel an Überzeugung und daraus folgend mangelnder Weiterbeschäftigung – mit der Folge eines weitern Aufgehens der aufgenommenen Wahrheit – diese Begegnung nicht mehr viel, weil sie seine Liebekraft nicht vom Natürlichen, Äussern zum Innern, zum Beständigen und Wirklichen leiten konnte. Gerade darum wäre es wohl klüger, beizeiten beide Wirklichkeiten zu studieren oder die innere mindestens vermutend überall da zu suchen, wo sie nicht ausgesprochen wird. Denn allzu lange haben wir im Äussern nicht Zeit dazu, sie zu finden. Und wer, ohne sie gefunden zu haben, die eine mit der andern Wirklichkeit vertauschen muss, der wird dort, wo er sich gar nicht auskennt, schwer haben, einen gangbaren Weg zu einem annehmbaren Sein zu finden.

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